Mittwoch, 15. November 2017
Streaming-Tipp: Die chinesische Alzheimer-Doku „Mrs. Fang“ (Wang Bing)

Die besten Tage unseres Lebens: „Mrs. Fang“ © Wang Bing
Für Über-Cineasten, Doku-Freaks und Hartgesottene: Wang Bings fantastische Doku „Mrs. Fang“ über den Tod. Wirklich nicht leicht durchzustehen, aber ein Werk voller Wunder – und vieler bizarrer Angelszenen. So möchte man sterben. Oder auch nicht. Wang Bing schaut genau hin, wahrt aber die Würde. Den Gewinner des Goldenen Leoparden von Locarno gibt es bis 12. Januar 2018 in der Arte-Mediathek zu bestaunen:

Arte-Stream | Negative-Space-Podcast

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Dienstag, 14. November 2017
Video: Jan Henrik Stahlberg über seinen Film „Fikkefuchs“

Jan Henrik Stahlbergs Q & A | © Rote Mütze Video Produktion

Das Q & A von Jan Henrik Stahlbergs „Fikkefuchs“ im Licher Traumstern. Ein Videobeitrag von Jörn Schumacher

Der deutsche Film „Fikkefuchs“ startet am 16. November in den Kinos. Das Drehbuch, die Regie und die Hauptrolle übernahm Jan Henrik Stahlberg, den viele noch von „Muxmäuschenstill“ (2004) kennen. Auch hier schrieb er das Drehbuch und spielte selbst die Hauptrolle – einen zunehmend anstrengenden Kontrollfreak, der seine Mitmenschen sehr unangenehm darüber aufklärt, was sie dürfen und was nicht.

Stahlberg besuchte am 10. November das kleine, sehr schöne Kino „Traumstern“ im hessischen Lich. Dort sprach er über falsche Glatzen, die Motivation einen Film über gealterte Frauenhelden zu machen und warum es stressig war, Regisseur und Hauptdarsteller zugleich zu sein.

Der Schauspieler-Kollege an seiner Seite: der deutsche Shootingstar Franz Rogowski („Love Steaks“, 2013), der zuletzt mit Terrence Malick „Radegund“ drehen durfte.

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Sonntag, 5. November 2017
TV-Tipp: German-Mumblecore-Entdeckung „Blind & Hässlich“ im ZDF

Tom Lass & Naomi Achternbusch | © daredo media GmbH
„Blind & Hässlich“ (Tom Lass), ZDF, 13. November, 23.55 Uhr

Das ZDF strahlt den deutschen Film „Blind & Hässlich“ schon am 13. November um 23.55 Uhr in die Nacht aus. Die German-Mumblecore-Entdeckung vom Filmfest München wird fortan in der ZDF-Mediathek anschaubar sein. Es geht um den einsamen Ferdi (Tom Lass), der sich hässlich findet und sich trotzdem eine Freundin wünscht. In seine WG zieht Jona (Naomi Achternbusch) ein, die blind ist. Jedenfalls gibt sie vor, blind zu sein, um eine Unterkunft zu bekommen.

Die daredo media GmbH hatte den Film erst am 21. September mit einer kleinen Kopienmenge in die deutschen Kinos gebracht. Über die Mediathek wird der Tom-Lass-Film nun einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit Werken wie „Das Verschwinden“, „A Thought of Ecstasy“, „Fikkefuchs“, „Die Freibadclique“ und „Die Vierhändige“ gehörte „Blind & Hässlich“ zu den sommerlichen Entdeckungen des Filmfests in München. „Ein forsches wie verträumtes Coming-of-Age-Drama vom Münchner Multitalent Tom Lass“, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Harald Mühlbeyer von kino-zeit.de nannte den Film „eine Wucht“.

Regisseur Tom Lass ist der Bruder von Jakob Lass, seines Zeichens einer der spannendsten deutschen Filmemacher, die es gegenwärtig gibt („Tiger Girl“, „Love Steaks“). Tom hat auch viel als Schauspieler gearbeitet. Besonders in Erinnerung blieb er in dem unterschätzten Horrorkomödien-Meisterwerk „Die Nacht der lebenden Loser“ (US-Titel: „Night of the Living Dorks“).

German Mumblecore sind Filme mit Micro-Budgets, die weitgehend ohne deutsche Filmförderung auskommen. Die Filme zeichnen sehr persönliche Geschichten und Improvisation aus, die, anders zum Beispiel als die Berliner Schule, ästhetisch aber weniger gestreng daherkommen. German Mumblecore ist weniger verkopft und damit lebendiger. So stehen die Filme neben dem amerikanischen Mumblecore-Vorbild eher der dänischen Dogma-Bewegung nahe.

Link: - Filmfest-München-Entdeckungen 2017, - Arte Tracks

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Freitag, 3. November 2017
Warum Tom Tykwer der ideale Berlinale-Jurypräsident 2018 ist

Tom Tykwer wird Berlinale-Jurypräsident | © Joachim Gern
Der gebürtige Wuppertaler Tom Tykwer wird der kommende Jurypräsident der Berlinale (15.-25.02.2018). Michael Müller kommentiert, warum Tykwer die Idealbesetzung ist.

Die Berlinale und Tom Tykwer – das passt wie die Faust aufs Auge. Tykwer, der jetzt Jurypräsident des wichtigsten deutschen Filmfestival wird, brachte den deutschen Film im Jahr 1998 zum Laufen. Sein Meisterwerk "Lola rennt" löste nicht nur eine neue deutsche Welle an aufregendem Kino aus. Er war auch für mich eine Art Initialzündung für die deutsche Filmgeschichte, weil da plötzlich ein Film war, der dem Weltkino nicht hinterher hechelte, sondern den fortan internationale Produktionen kopierten oder der damalige popkulturelle Gradmesser "Die Simpsons" referierte.

Tykwer – das ist der Mann, der als Teenager nicht für seine Geschichtsklausuren lernte und sich stattdessen mit dem Wissen über die Runde rettete, das er in "Ben Hur" und "Quo vadis" aufgeschnappt hatte. Das ist der junge Mensch, der im Berliner Moviemento an der Kasse saß und die Goldene Zeit der Programmkinos mitmachte. Tykwer, das ist der Regisseur, der bei der Schwulen-Reizfigur Rosa von Praunheim in die Schule ging und der die Nächte in Berlin durchmachte, um sich am Morgen in die Pressevorführungen der Berlinale zu schleichen.
Dialoge für Tarantino
Das ist aber auch der Regisseur, der eigentlich jahrelang unter allen Wahrnehmungsgrenzen große Hollywood-Produktionen drehte, die fast niemand sah: "Heaven", "The International", "Der Wolkenatlas" und "Ein Hologramm für den König". Arthouse-Experimente jenseits der 60 Millionen Dollar-Grenze; der mit den Wachowskis in Babelsberg abhing und ein wenig die Verbindung zum Diesseitigen verloren hatte. Aber er ist auch der Cineast, der Quentin Tarantino die deutschen Dialoge für "Inglourious Basterds" übersetzte und die damals beste Filmkritik zu Paul Thomas Andersons "Punch-Drunk Love" im Spiegel schrieb; der die altehrwürdige Filmpostille Steadycam unterstützte, die eigenen genialen Soundtracks mitschrieb und dessen Hauptproblem es immer war, dass eigentlich jeder seiner Sätze ein bisschen zu intelligent und diskussionswürdig war. Ein bisschen zu gut für diese Welt.

Umso schöner ist es, dass er jetzt auch filmisch zu seinen alten Stärken zurückgefunden hat. Die ersten beiden Episoden des Serien-Mammutprojekts "Bablyon Berlin" sind furios. Da erschien es fast zwingend notwendig, dass ihn Berlinale-Chef Dieter Kosslick als Jurypräsidenten holte. Auf der Berlinale begann alles für Tykwer: Im Panorama zeigte er einen seiner ersten Kurzfilme, nämlich "Epilog". Mit "Heaven" und "The International" stellte er gleich zwei Mal den Eröffnungsfilm des Festivals. "Die Berlinale ist seit jeher mein Lieblings- und mein Heimatfestival und hat mich bereits zu Beginn meiner Arbeit als Filmemacher unterstützt. Wir haben eine tolle und vielseitige gemeinsame Geschichte. Jetzt freue ich mich auf zwei konzentrierte und lustvolle Kinowochen mit der Jury", sagt Tykwer.

Der Wuppertaler folgt auf die Jurypräsidenten Paul Verhoeven, Meryl Streep, Darren Aronofsky, James Schamus, Wong Kar Wai, Mike Leigh, Isabella Rossellini und Werner Herzog. Das ist nicht die schlechteste Gesellschaft.

Link: - Berlinale-Jurypräsident Paul Verhoeven (2017)

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Samstag, 28. Oktober 2017
Zwei Stunden Podcast zu Oscarkandidaten, französischem Sex & dem Tod

© Twentieth Century Fox of Germany | Mandarin Production / Jean Claude Moireau | Prokino Filmverleih / Marc Schmidt
Die Highlights des Filmfest Hamburg 2017 in Podcast-Form

Der erste Negative-Space-Podcast erscheint zum Filmfest Hamburg (5.-14.10.). In den gut zwei Stunden entblättern Michael und Jörn ihre Highlights und Hassfilme des Festival. Es geht viel um kommende Oscarkandidaten wie "The Florida Project", "Battle of the Sexes" und "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri". Genauso standen aber auch kleine internationale Entdeckungen im Fokus. Der Podcast ist auf Soundcloud hochgeladen. Der gefettete Link führt direkt zum Podcast und einer Download-Möglichkeit.

Anhören (Für Download auf "Mehr" klicken)

Shownotes:

00:00:00 – Begrüßung
00:04:47 – Ex Libris: New York Public Library (Frederick Wiseman)
00:17:20 – Licht (Barbara Albert)
00:28:07 – Battle of the Sexes (Valerie Faris & Jonathan Dayton)
00:39:42 – Mathilde (Aleksey Uchitel)
00:51:49 – Es war einmal Indianerland (Ilker Çatak)
01:00:52 – The Florida Project (Sean Baker)
01:17:29 – Beach Rats (Eliza Hittman)
01:26:02 – Promised Land (Eugene Jarecki)
01:35:15 – Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (M. McDonagh)
01:44:11 – Der Schwan (Ása Helga Hjörleifsdóttir)
01:49:26 – Jeune femme (Léonor Serraille) & 120 BPM (Robin Campillo) & L'amant double (François Ozon)
02:00:18 – Worst Case, We Get Married (Léa Pool)
02:06:36 – Mrs. Fang (Wang Bing)
02:13:30 – Drift (Helena Wittmann)

Links: - Negative-Space-Preise, - Filmfest-Hamburg-Kritiken

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Sonntag, 22. Oktober 2017
"Battle of the Sexes"-Q & A auf dem Filmfest Hamburg

© Rote Mütze Video Produktion

Über das Drehen auf 35mm, Donald Trump und die echte Tennis-Legende Billie Jean King. Ein Video von Jörn Schumacher

Die gut gelaunten "Battle of the Sexes"-Regisseure Valerie Faris und Jonathan Dayton, die mit "Little Miss Sunshine" die Welt eroberten, erzählen auf dem Filmfest Hamburg von den Dreharbeiten ihres neuen Tennisfilms mit Emma Stone und Steve Carell. Eigentlich war das legendäre Match zwischen Billie Jean King und Bobby Riggs aus dem Jahr 1973 als Morgengabe für Hillary Clintons US-Präsidentschaft gedacht. Da der Ton des Q & A verbesserungswürdig ist, sind die Sätze untertitelt.

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Sonntag, 15. Oktober 2017
Negative-Space-Preise des Filmfests Hamburg 2017
Der Werner-Hochbaum-Preis für den besten Film geht an:
  • „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“
    (Martin McDonagh)

© Twentieth Century Fox of Germany
Der Eberhard-Schroeder-Preis für die beste Regie geht an:
  • Frederick Wiseman („Ex Libris: New York Public Library“)

© Don Pollard / The New York Public Library
Der Rod-Taylor-Preis für den besten Darsteller geht an:
  • Willem Dafoe („The Florida Project“)

© Prokino Filmverleih / Marc Schmidt
Der Ludivine-Sagnier-Preis für die beste Darstellerin geht an:
  • Sarah Adler („The Cakemaker“)

© Films Boutique
Der Richard-Fleischer-Preis für neue Perspektiven auf das Weltkino geht an:
  • Robin Campillo („120 BPM“)

© Salzgeber & Co. Medien GmbH
Der Brigitte-Lahaie-Preis für Sinnlichkeit geht an:
  • Laetitia Dosch („Jeune femme“)

© Be For Films
Der Amy-Nicholson-Preis für Kickass Cinema geht an:
  • „Babylon Berlin“
    (Tom Tykwer, Henk Handloegten & Achim von Borries)

© X Filme Creative Pool
Außerdem geht der Kimberly-Wallace-Preis für die beste Karaoke an Raffey Cassidy, die in „The Killing of a Sacred Deer“ ihre Version von Ellie Gouldings „Burn“ singt. Und der Regisseur John Carroll Lynch erhält für „Lucky“ den Preis des besten Johnny-Cash-Song des Festivals („I See a Darkness“).

Die zehn besten Filmfest-Hamburg-Filme 2017 (alphabetisch)

* 120 BPM (Robin Campillo)
* L'AMANT DOUBLE (François Ozon)
* BABYLON BERLIN (Tykwer, Handloegten & von Borries)
* THE CAKEMAKER (Ofir Raul Graizer)
* EX LIBRIS: NEW YORK PUBLIC LIBRARY (Frederick Wiseman)
* THE FLORIDA PROJECT (Sean Baker)
* JEUNE FEMME (Léonor Serraille)
* THE KILLING OF A SACRED DEER (Yorgos Lanthimos)
* MRS. FANG (Wang Bing)
* THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI
(Martin McDonagh)

Link: - Negative-Space-Preise Berlinale 2017

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Mittwoch, 11. Oktober 2017
Rangliste Filmfest Hamburg 2017

Cinemaxx am Dammtor | © Filmfest Hamburg / Cordula Kropke
Unser Blog Negative Space war zum ersten Mal auf dem Filmfest Hamburg vertreten, das vom 5. bis 14. Oktober stattfand. Wenn auch die Anreise aufgrund des Orkans Xavier schwierig bis stürmisch verlief, kann der Besuch des Filmfests insgesamt als großer Erfolg gewertet werden. Das Filmfest Hamburg ist das deutsche Festival, was es zu besuchen gilt, wenn man zeitnahe an diversen Attraktionen der beiden bedeutendsten Herbstfestivals in Venedig und Toronto interessiert ist.

Hier lief praktisch einem Monat nach seiner Weltpremiere in Venedig der wundervolle Oscar-Kandidat „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“. Auch die am Lido begeistert gefeierte Frederick-Wiseman-Dokumentation „Ex Libris: New York Public Library“ war im Hamburger Programm vertreten. Die Macher haben eine anregende Mischung aus Filmen der internationalen Festivals von Sundance, Rotterdam, Cannes, Locarno, Karlovy Vary und Toronto hinbekommen. Besonders angetan waren wir von der französischsprachigen Sektion Voilà!: Mit „Jeune femme“, „120 BPM“ und „L'amant double“ aus Cannes sind gleich drei Sektionsvertreter unter unseren Lieblingsfilmen des Filmfests gelandet.
Exklusive Filmtitel rar gesät
Kritischer kann man auf die Weltpremieren zurückblicken, die Hamburg aufgeboten hat. Das Filmfest ist kein A-Festival mit internationalem Wettbewerb, sondern ein Filmstaubsauger, der die Highlights der größeren Festivals einsammelt. Exklusive Filmtitel musste man schon sehr genau suchen. Fand man sie aber beispielsweise im russischen Film „Mathilde“ oder im deutschen Film „Es war einmal Indianerland“, waren sie wie im ersteren Fall sehenswert oder wie im letzeren Fall ärgerlich. Vielleicht müsste man da, ähnlich wie es das Filmfest München in den vergangenen Jahren sehr gut gemacht hat, einheimischen Talenten eine besonders attraktive Plattform geben. Richtig spannende deutsche Filmprojekte haben wir im Angebot eher vermisst. Dafür punktete das Filmfest weiter mit sehr freundlichen Mitarbeitern, einer entspannten Atmosphäre und nicht überlaufenen Pressevorführungen.

Es folgen die Twitter-Kurzbesprechungen, die Negative Space während des Filmfests geschrieben hat. Im Blog sind sie aber jetzt in eine wertende Reihenfolge gebracht und inhaltlich teils deutlich ergänzt worden:

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★★★★★ (Meisterwerk)

THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI: Ein waschechtes Meisterwerk des Hollywood'schen Erzählkinos. Ich habe gelacht und geweint. Regisseur und Drehbuchschreiber Martin McDonagh („In Bruges“) hat das Wunder vollbracht, eine erinnerungswürdige Szene an die nächste zu reihen – und sich noch langsam dabei zu steigern. Lest nichts über den Inhalt!

EX LIBRIS: NEW YORK PUBLIC LIBRARY: Ein fast 200-minütiger Doku-Monolith über die öffentliche Bibliothek New Yorks, die den Trip nach Hamburg allein schon wert war. Frederick Wiseman erzählt von einer Vorzeige-Institution der Aufklärung in all ihren Facetten: Es reicht von einem launigen Q & A mit Elvis Costello, der mit einer Greil-Marcus-Kritik konfrontiert wird, bis zu Internetkursen für sozial Benachteiligte und Weiterbildungen für Blinde. Die Doku zeigt die weit verzweigten Verästelungen der New Yorker Bibliothek in die Gesellschaft und feiert Bildung als höchstes Gut und geistiges Menthol für die Menschheit. Wissen ist Macht und „Ex Libris“ ein dokumentarisches Meisterstück, das nie langweilig wird.

„L'amant double“ | © Mandarin Production / Jean Claude Moireau
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★★★★½ (Meisterlich)

JEUNE FEMME: Ein vor französischer Lebensfreude übersprudelnder Selbstfindungstrip der 31-jährigen Paula in Paris. Eine magische, fast süchtigmachende Filmerfahrung. Paula wird von ihrem wohlhabenden Künstlerfreund vor die Tür gesetzt. Fortan muss sie wieder auf eigenen Füßen stehen, eine Unterkunft und Arbeit finden. Hauptdarstellerin Laetitia Dosch zuzuschauen, wie sie sich lustvoll leidend freistrampelt, ist der wahre Genuss des Films. Es gab in den vergangenen Jahren zahlreiche tolle Selbstfindungstrips junger Frauen auf der Leinwand zu bewundern („Frances Ha“, „Baden Baden“, „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“). Aber französischer und sinnlicher als „Jeune femme“ war keiner.

BABYLON BERLIN: Die ersten beiden Episoden auf großer Leinwand aneinandergeschnitten, als seien sie ein richtiger Film. Sie sind mehr als das: Sie sind verheißungsvoll, appetitmachend und episch. Tom Tykwer ist endlich zurück. Ich liebe das Casting (Volker Bruch, Liv Lisa Fries), wie historische Persönlichkeiten (Adenauer, Trotzki) in die Geschichte eingebunden sind und die Weimarer Republik zum Leben erweckt wurde. Die morbid-laszive Nachtklub-Musiknummer „Zu Asche, zu Staub“ von Severija Janusauskaite wird mit Sicherheit in die Fernsehgeschichte eingehen.

THE FLORIDA PROJECT: Es ist ein Drahtseilakt, Filme über soziale Brennpunkte zu drehen und sie nicht schlicht einer Zirkusattraktion gleich auszubeuten. Dieser Balanceakt gelingt Regisseur Sean Baker in einem Apartmentkomplex mit Billigwohnungen nahe Disney World, wo die jungen Protagonisten Monnee, Jancey und Scooty mit ihren Eltern die Sommerferien durchleben. Weil der Film wundervoll konsequent auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten bleibt, funktioniert es. So ist es ein Sommer, der wegen schmerzhafter Veränderungen, aber auch Eis auf dem Lobbyfußboden, Spucke auf der Windschutzscheibe und nicht eingepackten Brüsten am Swimming Pool erinnert wird. Eine Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller ist das Mindeste, was Willem Dafoe für seine Rolle als liebenswerter Manager Bobby erwarten kann. In seinem Wesen ist viel angelegt, was den Menschen menschlich macht. Eine unglaublich warme, nur scheinbar unspektakuläre Performance.

120 BPM: Stark nachwirkendes, hypnotisches Porträt der mutigen Aktivistengruppe Act Up Paris, die Ende der 1980er-Jahre über AIDS aufklärte. Die Verbindungslinie zwischen Sex und Tod ist vielleicht nie zwingender und eindringlicher inszeniert worden. Der Gewinner des Großen Preis der Jury in Cannes ist auch Frankreichs Oscar-Kandidat. „120 Beats Per Minute“ ist ebenso eine feine Ansammlung einiger der spannendsten französischsprachigen Schauspieltalente der jungen Generation: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel und Antoine Reinartz.

L'AMANT DOUBLE: Sehr erotischer und abgründiger Psychothriller, der extrem unterhält. François Ozon in Bestform und auf den Spuren Brian De Palmas, was Splitscreens, Doppelgänger-Motive und nackte Haut angeht. Der Film taucht tief in die Psyche und damit in die sexuellen Fantasien von Chloé Fortin ab, die eine Affäre mit dem Zwillingsbruder ihres Freundes beginnt. Unheimlich dicht inszeniert. Fühlt sich leicht wie eine Fingerübung an, verlangt seinen Hauptdarstellern wie Marine Vacth aber körperlich und schauspielerisch alles ab.

THE KILLING OF A SACRED DEER: Wahnsinnig unangenehmer, beunruhigender Film. Praktisch das Alte Testament ohne Gott. Ich grüble noch.

THE CAKEMAKER: Deutsch-israelisches Crying Game. Sarah Adler: erste Kandidatin für einen Hauptpreis. Bester Filmkuss des Jahres.

MRS. FANG: So möchte man sterben. Oder nicht. Im Kreis der Familie. An Alzheimer. Wang Bings Doku schaut genau hin, wahrt aber Würde.

„Battle of the Sexes“ | © Twentieth Century Fox of Germany
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★★★★ (Herausragend)

LICHT: Stark. Vielschichtiges Künstlerporträt über Menschenwürde in Mozarts Vienna – mit einer zum Niederknien guten Maria Dragus.

CRASH TEST AGLAÉ: Charmantes Roadmovie aus Frankreich im Wes-Anderson-Stil. Für ein Debüt beachtlich. Éric Gravel ist vorgemerkt.

BATTLE OF THE SEXES: Unterhaltsames Oscarmaterial (Emma Stone!) über ein Tennis-Showmatch der 1970er, das für Gleichstellung wirbt.

THE RIDER: Simpel gestricktes Charakterporträt eines gebrochenen Rodeoreiters. Bewegend, weil authentisch. Aufregende Dressurszenen.

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★★★½ (Sehenswert)

MATHILDE: Altmodisches, opulentes Kostümkino über den letzten Zaren Nikolaus. Mochte ich. Schön, Michalina Olszanska wiederzusehen.

LUCKY: Hommage an die Legende Harry Dean Stanton. Nicht ohne Makel (David Lynch), aber so entwaffnend nah dran und würdevoll.

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★★★ (Brauchbar)

COCOTE: Sehr viele Gebete & Geschrei. Aber eine audiovisuelle Wucht aus der Dominikanischen Republik. Etwas für die Härtesten der Harten unter den Cineasten. Ein christlicher Gärtner kehrt in die Heimatstadt zurück, um den Tod seines Vaters zu betrauern. Familienmitglieder drängen ihn zu einem Racheakt gegen den örtlichen Gangsterchef. Auf 16mm gedreht, teils schwarzweiß, teils atemberaubende 360-Grad-Kamerabewegungen und tolle Arbeit mit Klangteppichen, die aus späteren Szenen bereits in die aktuelle Szenerie ragen und sie so verfremden.

„Submergence“ | © NFP Marketing & Distribution*
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★★½ (Ansätze)

SUBMERGENCE: Alicia Vikander und James McAvoy gerne beim Turteln zugeschaut. Aber dann muss Wim Wenders Terrorismus bekämpfen. Schade.

LOVE BIRDS: Unspektakuläres Nackidei-Filmchen aus Israel, das trotz gerade mal 70 Minuten viel über Längen zu erzählen weiß.

BEACH RATS: Sundance-Film über sexuelle Selbstfindung, dem das Alleinstellungsmerkmal fehlt. Dickinson sieht aus wie Fernando Torres.

NUR GOTT KANN MICH RICHTEN: Auweia! Die Unlogik der Figuren schmerzt. Nur in der Action ganz in seinem Element. Schade um Frankfurt!

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★★ (Anstrengend)

ES WAR EINMAL INDIANERLAND: Die deutsche Romanverfilmung über einen jungen Boxer gibt sich alle Mühe, gehasst zu werden. Die wirr vor- und zurückgespulte Geschichte ist auf eine anstrengende Art kindisch verspielt, weil der Film die nervöse Aufmerksamkeitsspanne eines Fünfjährigen besitzt. Der Boxer steht zwischen zwei Frauen, einem egalen Wettkampf, auf den das Ganze motivationslos zustrebt, einem durchgeknallten Vater und einem noch durchgeknallteren besten Freund. Irgendwie taucht auch Bjarne Mädel in unterschiedlichen Rollen auf, was mit David Foster Wallace zu tun hat. Eingebildete Indianer und ein Flower-Power-Fest in Osteuropa gibt es auch. Alles ein bisschen schade, weil bei den hölzernen Dialogen doch gute Techniker hinter der Kamera gearbeitet haben und Schauspieltalente (Emilia Schüle, Clemens Schick) vor der Kamera für einen besseren Film da gewesen wären.

THE FIRST LAP: Das ist ein superzäher koreanischer Beziehungsfilm, dem die Leichtigkeit eines Auteur-Vorbilds wie Hong Sang-soo völlig abgeht. Ein Paar besucht seine Eltern. Schmerzhaft entschleunigte, starr gefilmte Gesprächszenen werden aneinander gereit. Der Erkenntnisgewinn bleibt indes bescheiden: Konservative Eltern machen Druck, was Hochzeit und potenzielle Kinder des seit Jahren zusammenlebenden Paares angeht. Im Hintergrund der Tristesse köchelt der gesellschaftliche Protest gegen die koreanische Präsidentin Park Geun-hye, die 2017 wegen Korruptionsvorwürfen ihres Amtes enthoben wurde.

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Donnerstag, 28. September 2017
Galapremiere für Bleibtreu-Gangsterfilm „Nur Gott kann mich richten“

„Nur Gott kann mich richten“ mit Moritz Bleibtreu und Edin Hasanovic | © Constantin Film Verleih
„Nur Gott kann mich richten“ von Özgür Yildirim feiert am 7. Oktober in einem Special Screening seine Deutschlandpremiere beim 25. Filmfest Hamburg.

Nach seinem soliden, harten Gangsterfilmdebüt „Chiko“ hat der Hamburger Regisseur und Drehbuchautor Özgür Yildirim erneut einen Gangsterfilm fürs Kino inszeniert. Erzählt wird die Geschichte von Ricky (Moritz Bleibtreu), der nach einem missglückten Überfall für seinen Bruder Rafael (Edin Hasanovic) und Kumpel Latif (Kida Khodr Ramadan) ins Gefängnis geht. Latif möchte sich bei Ricky für seine Zeit im Knast erkenntlich zeigen und bietet ein scheinbar sicheres letztes Ding an, mit Aussicht auf viel Geld.

Der Constantin-Film „Nur Gott kann mich richten“ ist im Frankfurter Gangstermilieu angesiedelt. Mal sehen, ob Yildirim mit deutschen Klassikern wie „Zinksärge für die Goldjungs“, „Blutiger Freitag“, „In Frankfurt sind die Nächte heiß“, „Vulkan der höllischen Triebe“ oder „Frankfurt Kaiserstraße“ mithalten kann. Die Besetzung mit Moritz Bleibtreu, „4 Blocks“-Durchstarter Kida Khodr Ramadan, Birgit Minichmayr, Peter Simonischek („Toni Erdmann“) und Alexandra Maria Lara ist jedenfalls sehr hochkarätig. Das Werk, das am 25. Januar 2018 offiziell im Kino startet, wird seine Deutschlandpremiere in Anwesenheit des Regisseurs und seiner Hauptdarsteller am 7. Oktober in Hamburg feiern. Das hat das Filmfest heute bekannt gegeben. Die Weltpremiere ist am 1. Oktober auf dem Festival in Zürich.

Der Filmblog Negative Space wird das Filmfest Hamburg berichtend begleiten. Das Filmfest zeigt vom 5. bis 14. Oktober in seinem 25. Jubiläumsjahr 130 Filme in elf Sektionen aus 59 Ländern.

Link: - Geheimtipps für das Filmfest Hamburg?

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Dienstag, 26. September 2017
Perfect 10 – Die aktuellen Oscar-Favoriten

Greta Gerwigs Regiedebüt „Lady Bird“ mit Saoirse Ronan | © A24

Immer mehr Favoriten bilden sich im Oscarrennen heraus. Erstaunlich, wie sympathisch, anregend und erfrischend die Filme daherkommen. Einen richtigen Frontrunner gibt es noch nicht. Ein kurzer Blick in die Glaskugel von Michael Müller

Gefühlt gibt es unzählige Oscarblogs. Jedes Fachmagazin hat mittlerweile seinen Oscar-Experten. Über die Jahre entwickelt man selbst Präferenzen und Aversionen. Am liebsten habe ich lange Zeit die Podcasts von Jeffrey Wells (Hollywood Elsewhere) und Sasha Stone (AwardsDaily) gehört. Beides sind sie Alphatierchen in der Szene, die sich über eine unterschiedliche sexuelle Präferenz in die Haare bekamen. Das Traumduo zerbrach. Das andere Lieblingsgespann hieß Anne Thompson (indieWIRE) und Kris Tapley (Variety). Alle vier sind größer denn je ins Oscar-Business verstrickt.

Meine Erfahrung ist allerdings: Umso kontinuierlicher man ihrer Berichterstattung folgt, umso weniger Spaß hat man letztlich bei den Oscars, weil man praktisch alles vorher weiß. Als ich auf Abstand zu den Experten gegangen bin, fand ich den exzellenten Awards Chatter Podcast von Scott Feinberg. Der ist natürlich auch ein wahnsinniger Oscar-Nerd. Aber im Podcast spricht Feinberg mehr mit potenziellen Kandidaten, als dass er sie zu Tode analysiert. Da wir uns aktuell aber in einem so frühen Stadium des Oscarrennens befinden, muss ich sagen, dass ich jetzt sehr viel Spaß mit seiner ersten Oscar-Vorhersage beim Hollywood Reporter hatte.
Eine Liste wie die eigene Wunschvorstellung
Das mag daran liegen, dass sich unter Feinbergs Favoriten in der Best Picture-Kategorie hauptsächlich Filme befinden, die ich selbst im Blog frühzeitig vorhergesagt habe („Dunkirk“, „Call Me by Your Name“, „The Shape of Water“); oder es sind Filme auf der Liste, die ich selbst sehr schätze („Get Out“, „Wonder Woman“); oder es stehen Filme unter den ersten zehn, die ich auf dem Filmfest Hamburg sehen will („The Florida Project“, „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, „Battle of the Sexes“); oder es ist das Regiedebüt der verehrten Greta Gerwig („Lady Bird“).

Zum jetzigen Zeitpunkt mutet die Feinberg-Liste wie meine eigene Wunschvorstellung an: Die liebste Mumblecore-Darstellerin, die durch die Filmindustrie stolperte, landet mit ihrem Regiedebüt direkt einen Homerun; ein meisterhafter Horrrorfilm über Vorurteile und Rassismus wird noch ernsthaft für den Oscar gehandelt; der beste Film des Jahres („Call Me by Your Name“) scheint auch gewürdigt zu werden. Da wird sich sicherlich bis Dezember noch einiges verschieben, aber mir gefällt diese Momentaufnahme sehr.

Favoriten:

* Dunkirk (Christopher Nolan)
* The Shape of Water (Guillermo del Toro)
* Darkest Hour (Joe Wright)
* The Florida Project (Sean Baker)
* Lady Bird (Greta Gerwig)
* Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Martin McDonagh)
* Get Out (Jordan Peele)
* Battle of the Sexes (Jonathan Dayton & Valerie Faris)
* Call Me by Your Name (Luca Guadagnino)
* The Big Sick (Michael Showalter)

Verfolger:

* Detroit (Kathryn Bigelow)
* Molly's Game (Aaron Sorkin)
* Okja (Bong Joon-ho)
* I, Tonya (Craig Gillespie)
* Wonder Woman (Patty Jenkins)
* War of the Planet of the Apes (Matt Reeves)

Was noch kommt (Auswahl):

* The 15:17 to Paris (Clint Eastwood)
* Blade Runner 2049 (Denis Villeneuve)
* Last Flag Flying (Richard Linklater)
* The Meyerowitz Stories (Noah Baumbach)
* Phantom Thread (Paul Thomas Anderson)
* The Post (Steven Spielberg)
* Star Wars: The Last Jedi (Rian Johnson)
* Wonder Wheel (Woody Allen)

Link: - Scott Feinbergs komplette Vorhersage

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