Samstag, 5. August 2017
Die aufregende Ungewissheit im Oscarrennen

Guillermo del Toros neuer Film "The Shape of Water" | © Fox Searchlight

Wer gewinnt am 4. März 2018 den Oscar für den besten Film? Schönerweise ist das Rennen noch ganz offen. Aber mit den Herbstfestivals in Venedig, Telluride und Toronto wird sich das schlagartig ändern. Ein Überblick von Michael Müller

Ich denke gerne an die Zeiten zurück, als William Goldmans Satz "Nobody knows anything" im Oscarrennen noch etwas gegolten hat. Der berühmte Drehbuchschreiber ("Die Braut des Prinzen", "Die Unbestechlichen") und Buchautor ("Adventures in the Screen Trade") fasste gut zusammen, was alle Menschen in Hollywood dachten: Niemand weiß wirklich genau, was wie funktioniert und am Ende in der eigenen Oscarkampagne aufgehen wird. Aber die Zeiten haben sich geändert: Heutzutage analysiert eine ganze Industrie von Oscar-Blogs die Ereignisse so genau, dass spätestens im Dezember bereits alles klar scheint, was im folgenden Februar bzw. März passieren wird. Deswegen mag ich die jetzige Phase besonders, in der noch fast nichts vorgegeben und alles möglich ist.

Bislang gibt es nur den obligatorischen Sundance-Darling und den "guten" ernsthaften Blockbuster. Der Liebesfilm "Call Me by Your Name" von Luca Guadagnino ist nicht der typische amerikanische Independent-Film, der jedes Jahr aus Sundance ins Oscarrennen einsteigt. Das wäre die Komödie "The Big Sick". "Call Me by Your Name" ist aber europäischer, reifer und besser. Tatsächlich ist er der mit Abstand beste Film des Jahres, der eher aus Verlegenheit seine Weltpremiere in Sundance feierte. Verpasste Nominierungen für Film, Regie, Hauptdarsteller (Armie Hammer), Nebendarsteller (Michael Stuhlbarg), Drehbuch (James Ivory) oder etwa Song (Sufjan Stevens) wären eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.
"Dünkirchen" erinnert an "Master and Commander"
Beim ehrenvollen Blockbuster handelt es sich natürlich um Christopher Nolans Kriegsfilm "Dünkirchen". Ich muss sagen: Ich bin nicht der größte Fan, schätze aber insgesamt doch diese Art von anspruchsvollem Popcornkino als Gegengewicht zu den sonstigen Hollywoodproduktionen. Aber das ist nicht nur wegen seiner technischen Perfektion der erste ernstzunehmende Anwärter für den Oscar als bester Film. Peter Weirs vergleichbar steife Großproduktion "Master and Commander", die unbekannte Geschichte lebendig machte, erhielt im Jahr 2004 zehn Oscarnominierungen und gewann für beste Kamera und Schnitt. Nolans Film ist eine pure Kinoerfahrung mit dem tickenden Hans-Zimmer-Score, dem fehlenden Feind und der experimentell angehauchten Verquickung der drei Handlungsebenen. Dafür gab es nicht zu unrecht fast durch die Bank weg Hymnen von den wichtigen amerikanischen Kritikern.

Die ersten Indizien, welche Herbstfilme wichtig werden, liefern die drei elementaren Festivals am Anfang der Oscarsaison: Venedig, Telluride und Toronto. Legt man den Wettbewerb von Venedig über die Programmauswahl von Telluride, ergibt sich bereits Anfang September ein gutes Bild, über welche Werke noch am Ende des Jahres gesprochen wird. Soweit gibt es nur die Filme im Wettbewerb von Venedig: Alexander Paynes Schrumpfungs-Satire "Downsizing" mit Matt Damon und Kristen Wiig, Darren Aronofskys Film "mother!" mit seiner Partnerin Jennifer Lawrence, George Clooneys Coen-Paraphrase "Suburbicon" und der neue Guillermo-del-Toro-Film "The Shape of Water".
Del Toros Oscar-Comeback?
Zu letzterem sagte Venedig-Festivalchef Alberto Barbera gegenüber dem Branchenblatt Screen Daily, es sei der beste del-Toro-Film, den er seit "Pan's Labyrinth" gedreht habe. Der Film erzählt in den 1960er-Jahren von einer Liebesgeschichte zwischen einer stummen Reinigungskraft (Sally Hawkins) und einer fremdartigen Wasserkreatur (Doug Jones), die vom US-Militär festgehalten wird. Die Amerikaner hoffen, das Geschöpf als Waffe im Kalten Krieg einsetzen zu können. Es ist das erste Mal seit "Pan's Labyrinth" der Fall, dass del Toro wieder in den Wettbewerb eines A-Festivals eingeladen wurde. In den vergangenen Jahren starteten so unterschiedliche Filme wie "Gravity", "Spotlight", "Birdman" oder "La La Land" ihren Siegeszug in Venedig.

Zwischem dem ältesten Filmfestival der Welt in Venedig und dem schnuckelig verschneiten Telluride-Festival in den Bergen von Colorado ist ein richtiger Kampf um die Weltpremieren der potenziellen Oscarfilme entstanden. Das Branchenblatt Variety spekuliert deshalb auch, dass die amerikanischen Vertreter in Venedig sehr früh programmiert werden. So könne Telluride dem Festival nicht die Exklusivität einiger Titel mit so genannten Sneak Previews streitig machen. Venedig läuft vom 30. August bis zum 9. September, Telluride startet bereits am 1. September. Der aktuelle Oscargewinner "Moonlight" feierte beispielsweise dort seine Weltpremiere. Das Festival in Toronto läuft wiederum vom 7. bis zum 17. September. Dort werden die ersten Eindrücke aus Venedig und Telluride konkretisiert und demokratisiert, weil dort nicht nur die Branchenblätter, sondern fast alle amerikanischen Filmkritiker hinfliegen, die etwas auf sich halten.

Link: - Deutsche Oscarkandidaten 2018

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