Samstag, 27. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „Agonie“ (David Clay Diaz)

Wahnsinnig intensiv: Samuel Schneider © David Clay Diaz
Harald Schmidt hat mal scharfzüngig behauptet, Kulturvölker sollten wissen, wozu sie gemacht wurden: Niemand brauche zum Beispiel österreichische Rapper oder japanische Opernsänger. Burgtheater, "Küss die Hand" und "Habe die Ehre" seien da doch viel passender. Und so gerne man in diesem Fall zustimmen würde, hat mich David Clay Diaz‘ Film „Agonie“ in der Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale eines Besseren belehrt.

Da rappt nämlich der gerade aus dem Grundwehrdienst des österreichischen Bundesheer heimgekehrte Alex (Alexander Srtschin) vor einem Kumpel. Im breitesten Wiener Dialekt. Es ist eine sehr brachiale, repetitive Hasstirade auf seine Ex-Freundin, die auf Facebook ein aufreizendes Foto von sich veröffentlicht hat. Zuerst irritiert noch das Wienerische, schnell stoßen auch die Fäkalausdrücke ab. Aber umso länger man zuhört, ja im Kino quasi gezwungen ist zuzuhören, umso mehr spürt man durch die Performance die traurige Existenz des Amateur-Rappers.
Warum sich für Yuppies und Prolls interessieren?
So ging es mir auch generell mit David Clay Diaz‘ Film „Agonie“, der die Geschichte zweier junger Männer in Wien parallel erzählt, die sich aber nie treffen. Gleich zu Anfang sagt der Film, dass am Ende einer dieser Männer seine Freundin zerstückelt und in der Stadt in verschiedenen Müllcontainern verteilt haben wird. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich bis dahin noch im Kinosaal sitzen würde. Zu platt und eindimensional erschienen mir beide Figuren.

Alex, der ehemalige Soldat und Fitness-Freak, der jede freie Minute im Solarium oder in der Kickbox-Halle verbringt. Oder auch Christian (Samuel Schneider), der deutsche Jura-Student, der eine blonde Sexbombe als Freundin hat. Wo sollen da die Tiefe und Plastizität der Figuren entstehen. Aber umso länger man dem österreichischen Hasstiraden-Rap lauscht und umso genauer man sich die Leben dieser beiden Menschen anschaut, umso mehr interessante Anhaltspunkte glaubt man zu finden.

Das offensichtlichste Vorbild für den Regisseur David Clay Diaz war Gus Van Sants Amoklauf-Film „Elephant“. Diaz erwähnt im Interview die buddhistische Parabel von den fünf Blinden, die einen Elefanten an verschiedenen Körperstellen betasten und jeweils ein ganz anderes Tier vor sich zu haben glauben. Ja, diesen Geist des vorurteilsfreien Beobachtens atmet „Agonie“. Er erinnert aber auch an den frühen Michael Haneke, als er noch nicht so didaktisch, aber schon ästhetisch radikal arbeitete („Benny’s Video“).
Haarrisse auf der Seele
Umso länger „Agonie“ läuft, umso spannender werden diese beiden Männer. Sie haben Probleme wie viele junge Menschen: Druck von allen Seiten; von der Familie, den Freunden, dem Umfeld, den Medien; sie führen anstrengende Beziehungen oder erleiden schmerzvolle Trennungen. Sie schauen Gewaltvideos im Internet oder machen Popcorn im Kino. Aber Diaz zeigt, wie bei Christian und Alex der Druck nicht entweichen kann, sondern immer näher an die Explosion heranrückt.

Es sind Kleinigkeiten, die auffallen. Mikroskopische Kränkungen, die sich wie Haarrisse auf der Seele manifestieren. Zum Beispiel hat der Jura-Student Christian Sex mit seiner blonden Freundin – wie sie es so aus den Internetpornos kennen. Aber irgendwie läuft es nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Zuerst leckt sie sein Bein bis zur Fußspitze, danach nimmt sie ihn in die Löffelstellung. Auf ganz sanfte Art und Weise ist hier sofort klar, wer in der Beziehung die Hosen an hat. Oder der Ex-Soldat Alex prügelt sich mit einem Kumpel auf dem Zimmerboden. Sie spielen die muskelbepackten Wrestling-Helden wie Brock Lesnar und die noch härteren Ultimate Fighter aus dem TV nach. Alex verliert die Dominanz, wird zu Boden gedrückt. Letztlich haben die beiden einen kurzen, irritierenden Moment gemeinsamer Zärtlichkeit.

Und so gibt es unzählige Punkte, an denen man sich denkt, dass hier was schief läuft, ohne es genau bestimmen zu können. Es sind vor allem Kränkungen, die diese von der Gesellschaft gestählten Egos nicht verarbeiten können. David Clay Diaz ist damit eine kraftvolle, hypnotische Charakterstudie zweier Individuen gelungen, die sehr schmerzvoll an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Samuel Schneider ist eine echte Schauspiel-Entdeckung, in deren Ruhe der Wahnsinn lauert. Und „Agonie“ war tatsächlich einer der Filme, die man auf der Berlinale 2016 gesehen haben musste.

Links: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Baden Baden"

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