Dienstag, 27. August 2019
Vorglühen auf der Mostra: Negative Space in Venedig

Cliff Booth ist auch schon in Venedig angekommen
In Venedig das Filmfestival zu besuchen, hat etwas von einem Kulturschock. Wie sollen Filmkritiker in diesem Urlaubsparadies Meisterwerke finden können? Ein Vorglühen von Michael Müller

Man weiß, dass man tatsächlich im Flugzeug nach Venedig zu den Internationalen Filmfestspielen unterwegs ist, wenn plötzlich der US-Filmkritiker Justin Chang im Gang auftaucht. Jep, das diesjährige Jurymitglied der Berlinale, einer der zuverlässigsten Filmjournalisten bei den Trade Papers und seit einiger Zeit der Chefkritiker bei der Los Angeles Times und der öffentlich-rechtlichen Radiosendung „Fresh Air“. Auch ihm haben wir dieses Jahr den Goldenen Bären in Berlin für Nadav Lapids „Synonymes“ zu verdanken.

Er sitzt eine Reihe schräg hinter mir. Ihn jetzt anquatschen, denke ich. Aber was dann sagen? „Ich habe eure Juryentscheidungen im Februar geliebt.“ Oder: „Ich wollte mit Ihnen schon immer mal über Ihren christlichen Hintergrund als Filmkritiker sprechen?“ Letztlich komme ich zu der Erkenntnis, dass sich bei dem Fluglärm der Lufthansa sowieso niemand vernünftig unterhalten kann. Vor allem nicht über zwei Reihen hinweg. Außerdem zieht Chang umgehend ein Buch aus seiner Tasche. Den Titel kann ich nicht erspähen. Ich vermute, es wird J. M. Coetzees „Waiting for the Barbarians“ sein, dessen Verfilmung mit Johnny Depp am Ende des Festivals auf uns wartet.

Sant'Elena: Nur fünf Minuten fährt das Vaporetto von hier zum Lido
Sich einmal wie George Clooney fühlen
Vaporetti heißen die flachen Boote, welche die schwitzenden Touristen, die sich kein privates Wassertaxi leisten können, von Anlegesteg zu Anlegesteg in Venedig bringen. Auch bei stärkerem Wellengang hat man nie das Gefühl, dass sie untergehen könnten – auch wenn ständig noch weiter ausgelotet wird, wie viele Menschen auf solch einen Kahn passen können. Aber sitzt man erst einmal in einem dieser Dinger, alle Fenster sperrangelweit offen und die Seebrise in der Nase, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, gerade an einer fast majestätischen Beförderungsmöglichkeit teilzunehmen. So fühlt sich also George Clooney, wenn er alljährlich zum roten Teppich durch die venezianischen Kanäle chauffiert wird. Irgendetwas machen die Venezianer schon richtig.

Elia, der mich zu meinem Apartment führt, findet das nicht. Er ist ein Einheimischer. Er sagt, Venedig ist eher etwas für alte Menschen. Party machen könne man hier nicht. Da müsse man schon in Nachbarorte fahren. Elia hat Deutsch in der Schule gelernt, weil er Französisch noch weniger mochte. „Ich spreche sehr schlechtes Deutsch“, formuliert er fehlerfrei mit einem Lächeln vor sich her. Vielleicht sehe ich ihn nochmal bei den Security-Mitarbeitern des Festivals wieder, meint er. Die Festivalmeile auf dem Lido weist am Anfang und am Ende Verkehrspoller auf. Aber die dort postierten Polizisten wirken so entspannt, dass zwischen Sommerhitze und Eisessen auch nicht einmal der Hauch eines Bedrohungszenarios entsteht. Tatsächlich ist man mit zehn Schritten von der Festivalmeile am Strand angekommen. Das nennen die Italiener also ein Filmfestival? Für Besucher des frostigen Stadtfestivals in Berlin wirkt das wie eine Verhöhnung. In diesem Urlaubsparadies soll mit grimmigen Blick also Filmgeschichte geschrieben werden.

Hinter den Kulissen der Mostra: am Lido-Strand
Hier soll ich über die kommenden Oscar-Kandidaten spekulieren, sagen ob „Marriage Story“ von Noah Baumbach oder „Joker“ von Todd Phillips eher als bester Film nominiert werden. Hier soll ich also der Narrative der amerikanischen Trade Papers folgen, die Venedig-Chef Alberto Barbera für zu wenige Frauen im Wettbewerb und zu viel Roman Polanski und Nate Parker anzählen. Das ist mir zu einfach. Ich will mich generell vor keinen Karren spannen lassen, möge der Anlass auch noch so gut sein.

Ein heißer Oscarkandidat: Baumbachs „Marriage Story“
Erstes Highlight kommt aus Deutschland
Ich will mir ein eigenes Bild machen, mich auf Katrin Gebbe morgen freuen, wenn sie mit „Pelikanblut“ und Nina Hoss die Nebenreihe Orizzonti eröffnet. Dann werde ich vielleicht Barbera vorwerfen können, dass Gebbe in den Wettbewerb reingemusst hätte. Und ja, zwei Frauen in einem der wichtigsten Filmwettbewerbe der Welt sind zu wenig. Aber die 40 Prozent Regisseurinnen im Berlinale-Wettbewerb haben diesem auch nicht helfen können. Kelly Reichardt mit „First Cow“ hätte Venedig sehr gut getan. Aber der ging nach Telluride – vielleicht auch ein Stück weit wegen der Haltung von Barbera; und weil der Film noch keine US-Verleih hat.

Posen vor der 76. Mostra
Es ist mein erstes Venedig-Festival. Der Wettbewerb ist auf dem Papier sehr gut bestückt. Er muss dieses Jahr die Oscar-Last vor allem nicht allein auf seinen Schultern tragen: Telluride hat „Uncut Gems“ von den Safdie Brothers, New York hat Scorseses „The Irishman“, Toronto hat „Jojo Rabbit“ und das AFI wahrscheinlich Greta Gerwigs „Little Women“. Es werden ziemlich sicher elf tolle Tage auf dem ältesten Filmfestival der Welt werden. Ich liebe Überraschungen und eigene Entdeckungen. Ich will nicht nur das Vorgekaute und hoffe auch auf die Nebenreihen Orizzonti und vor allem Venice Days. Ich will die Filmemacher sehen, deren nächste Filme Netflix aufkaufen wird. Und ich wünsche mir, dass die italienische Mischung aus Spielfilm und Doku, „Fulci for Fake“, mindestens halb so gut ist, wie ich sie mir erträume.

Link: - Venedig-Wettbewerb 2019

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