Donnerstag, 25. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „Creepy“ (Kiyoshi Kurosawa)

Der Skorpion (Teruyuki Kagawa) © Shochiku Company
Die Klopeks. Ein Familienname, der hängen bleibt, wenn man das Joe Dante-Meisterwerk „Meine teuflische Nachbarn“ gesehen hat. Seitdem auch in der realen Welt ein Synonym für Nachbarn, die sich irgendwie auffällig verhalten. Menschen, die sich abschotten, erst nachts den Müll herausbringen und in ihren Kellern höchst seltsame Geräusche verursachen. Zusammen gefasst: Menschen, die jeder auf eine Art in seiner Nachbarschaft wiederfindet. Und ein Menschenschlag, dem jetzt auch der japanische Genre-Regisseur Kiyoshi Kurosawa in seiner fabelhaften Hitchcock-Variation „Creepy“ ein Denkmal gesetzt hat.

„Creepy“, der auf der Berlinale in der Special-Nebenreihe zu sehen war, beginnt mit einer Geiselnahme in einer Polizeistation. Der ermittelnde Polizist Takakura (Hidetoshi Nishijima) hat den Angeklagten im Verhörraum in die Ecke gedrängt. Seine Taten sind offensichtlich, die Beweislast ist erdrückend. In einem unachtsamen Moment schlüpft der potenzielle Serienkiller aus der Tür, nimmt eine weibliche Geisel und bedroht diese mit einer Gabel am Hals. Die Situation scheint klar zu sein. Es gilt zu verhandeln – über Fluchtfahrzeuge und Geld. Takakura unterschätzt aber die Psyche des Täters: Der denkt nicht an Flucht, nutzt lieber die Gelegenheit, dem Polizisten die Gabel in den Rücken zu jagen und im Kugelhagel abzutreten. Die Fabel vom Skorpion und dem Frosch kommt einem dabei in den Sinn. In diesem filmischen Universum wird nicht die Logik regieren, sondern der Instinkt. Was für schlechte Zeiten für rationale Ermittler!
Anleitung zum Unglücklichsein
Einige Zeit später, Polizist Takakura ist mit seiner liebreizenden Frau Yasuko (Yûko Takeuchi) umgezogen. Er hat den Job an den Nagel gehängt und doziert jetzt lieber an der Universität. Und eigentlich hätte das Paar nun die Möglichkeit für ein ruhigeres, glücklicheres Leben. Dann wäre es allerdings kein Kiyoshi Kurosawa-Film. Ein Regisseur, der mir das erste Mal in der Welle japanischer Geister-Horrorfilme der 2000er-Jahre aufgefallen ist. Die Protagonisten seines Films „Pulse“ waren so depressive Teenager, dass ihr Ableben durch ein ominöses Internet-Video geradezu wie eine Befreiung wirkte. Kurosawas Figuren scheinen das Unglück zu suchen. Sie werden von ihm magisch angezogen. Weder Mann noch Frau halten bei ihm die idyllische Zweisamkeit allzu lange aus.

Takakuras Frau Yasuko stellt sich in der Nachbarschaft mit einer selbst gemachten Kleinigkeit vor. Sie wandert von Haustür zu Haustür. Und es wurmt sie, dass der Mann gegenüber ihr die Tür nicht öffnen will. Immer wieder versucht sie es, bis sie ihn endlich antrifft. Der Nachbar ist ein eigenbrötlerischer Kerl, der von sozialen Situationen überfordert ist. Vor Yasukos Hund rennt er davon wie vor einem Ungeheuer. Er beherrscht keinen Small Talk und macht die komischsten Andeutungen. Er ist, wie dem Zuschauer mit zunehmender Zeit immer klarer wird, der verhaltensauffälligste Nachbar in der Filmgeschichte seit den Klopeks. Tatsächlich noch bizarrer und auffälliger. Zu beobachten, wie sich dieser Nachbar (genial: Teruyuki Kagawa) immer größere Böcke leistet und wie Yasuko trotzdem versucht, den nachbarschaftlichen Frieden als Schein zu wahren, ist köstlich anzuschauen. Mir doch egal, ob da einer aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist, so lange er nur meinen Auflauf für schmackhaft befindet.
Mr. Kurosawa, wie haben Sie das gemacht?
Aber ihr Ehemann ist nicht besser: Takakura langweilt schnell der Universitätsalltag. Mit einem anderen Professor macht er sich lieber privat an die Aufklärung eines nie aufgelösten Mordfalls. Es ist nicht nur die gekonnte Machart, das ökonomische Erzählen und die Bildsprache, die „Creepy“ an Hitchcock erinnern lassen. Es sind vor allem die Obsessionen seiner Protagonisten, die Kurosawa ganz dicht an das Herz des Suspense-Meisters rücken. Ja, Takakura ermittelt eventuell auch, weil er den Fall auflösen will. Aber die Menschen interessieren ihn dabei nicht wirklich. Er benutzt sie als Material. Seine Brutalität kommt gerade in den Gesprächen mit Zeugen und Angehörigen zum Ausdruck. Schnell wird aus einer Unterhaltung ein Verhör, immer befindet sich der Zeuge auch auf der Anklagebank. Spielerisch tänzelt die Kamera dabei durch den Raum und taucht seinen Privatdetektiv in immer dunklere Schatten. Takakura hat auch kein Problem damit, Unschuldige körperlich anzugehen, nur um ein bisschen schneller in seiner Besessenheit voranzukommen.

In „Creepy“ schaufelt sich das von außen so perfekt wirkende Ehepaar sein eigenes Grab schon selbst. Die unzähligen Leichen, die der verhaltensauffällige Nachbar drüben im Keller haben könnte, können an den emotionalen Abgrund der beiden niemals heranreichen. Bei Kurosawa ist ein kleiner Flur eines Familienhauses der größte Alptraum, weil er weiß, was dahinter kommt. Einmal steht Yasuko in diesem Flur des Nachbarn. Und die Spannung ist so groß, dass sie fast nicht mehr auszuhalten ist. Weil alles hinter diesem Vorhang vorkommen kann. Da sind wir nicht mehr weit entfernt vor dem Vorhang in Tobe Hoopers Klassiker „The Texas Chainsaw Massacre“. Dort ist man inzwischen richtig gehend erlöst, dass es nur der olle Leatherface ist, der sich eine der Protagonistinnen holen kommt. „Creepy“ geht einen Schritt weiter. Ich will nicht behaupten, dass der Film perfekt ist. Das Schlussdrittel zerfasert ein wenig. Es räumt sich die eine oder andere Ungereimtheit ein. Aber hey, was für ein teuflisch guter Horrorfilm und was für eine todtraurige Patchwork-Familie das doch letztlich ist.

Link: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Baden Baden"

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