Samstag, 16. Dezember 2017
Die verpasste Chance der Berlinale, „A Quiet Passion“ in den Wettbewerb einzuladen

Cynthia Nixon in „A Quiet Passion“ | © Hurricane Films
Die aktuellen Jahreslisten der amerikanischen Kritiker erinnern daran, wie die Berlinale im Jahr 2016 das Emily-Dickinson-Biopic „A Quiet Passion“ verschlief. Ein Seitenblick von Michael Müller

Ich finde, es ist ein großes Glück, dass es in Deutschland ein A-Festival wie die Berlinale gibt. Was für ein Luxus, was für ein Haufen Filme, der jedes Jahr exklusiv in die Hauptstadt gekarrt wird. Das bietet quasi unbeschränkte Entdeckungsmöglichkeiten für den Cineasten. Aber natürlich habe ich auch ganz konkrete Kritik an der Programmierung einiger Filme. Sie fällt mir zum Beispiel wieder ein, wenn ich über die diesjährigen Jahres-Listen der Filmkritiker und Filmzeitschriften blicke.

Die wichtigste amerikanische Filmpublikation Film Comment hatte das Emily-Dickinson-Biopic „A Quiet Passion“ auf dem zweiten Platz. Der Film hatte sich gegen alle aktuellen Oscarkandidaten und gebuzzten Kritikerdarlinge durchgesetzt. Nur die Safdie Brothers landeten noch mit „Good Time“ davor. Das sublime Drama des britischen Auteur Terence Davies mit Cynthia Nixon („Sex and the City“) in der Hauptrolle taucht jetzt ständig auf Bestenlisten auf: ob beim Variety-Chefkritiker Justin Chang oder bei unserem liebsten Über-Hipster-Kritiker David Ehrlich. Das ist eine späte Genugtuung. Aber sie hätte nicht so spät erfolgen müssen.
Negative Space würdigte „A Quiet Passion“ zeitnahe
„A Quiet Passion“ feierte im Februar 2016 seine Weltpremiere auf der Berlinale. Leider packten die Verantwortlichen den Film nicht in den offiziellen Wettbewerb, wo er definitiv hingehört hätte, sondern ließen ihn als Special in einer Nebenreihe verhungern. Eine Handvoll britischer Kritiker feierte Terence Davies, weil er auf der Insel schon lange mehr als ein Geheimtipp ist. Der Blog Negative Space war auch sehr begeistert und spekulierte damals zur Premiere im Zoopalast über potenzielle Oscarnominierungen für Cynthia Nixon, Keith Carradine und Jennifer Ehle. Im vergangenen Jahr war „A Quiet Passion“ auch auf unserer Top-Ten-Liste zu finden. Aber international startete der Film nie durch. Es gab keinen Buzz, der von der Berlinale ausgegangen wäre. „A Quiet Passion“ blieb ein Geheimtipp, der sich mühsam über zwei Jahre wieder in das Wahrnehmungsfeld der Öffentlichkeit kämpfen musste.

„A Quiet Passion“ hatte alles: Er besaß die Stars, die Qualität, einen in Cineastenkreisen bedeutenden Auteur – das war einfach ein Film, der einen zärtlich verschlang und hinterher verzaubert wieder ausspuckte. Ein Werk, das den Zuschauer einerseits die Poesie der Emily Dickinson entdecken ließ. Eine Filmerfahrung, die andererseits ein schmerzvolles Charakterportrait eines Menschen zeigt, dessen Sinne für diese Welt zu fein gestimmt waren und der daran zerbrach. Eine große Tragödie mit einem schwer zu ertragenden Schlussdrittel. Ein kleines Meisterwerk, das 2016 schon entdeckt hätte werden können, wenn die Berlinale es in den offiziellen Wettbewerb eingeladen hätte. Als Auswechselkandidat hätte sich der belanglose kanadische Film „Boris without Béatrice“ vom ansonsten geschätzten Denis Côté angeboten.

Link: - Unsere damalige Kritik zu „A Quiet Passion"

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