Sonntag, 4. Februar 2018
Festivalexperte Young: Russland gewinnt Goldenen Bären

"Dovlatov" (Alexey German Jr.) | © SAGa
Drei Tage vor der offiziellen Programm-Pressekonferenz der Berlinale gibt es einen ersten Geheimfavoriten auf den Goldenen Bären: "Dovlatov" von Alexey German Jr. gewinnt den Wettbewerb, wenn es nach dem Experten Neil Young geht.

In gut eineinhalb Wochen sitzen die Journalisten bereits wieder in den Pressevorführungen des wichtigsten deutschen Filmfestival, der Berlinale. Sie zerbrechen sich dann die nächsten zehn Tage die Köpfe, welche Wettbewerbsfilme die Hauptpreise gewinnen könnten. Aber für diese Frage gibt es doch den britischen Festivalexperten Neil Young. Hauptsächlich kennt man ihn als Filmkritiker für den Hollywood Reporter. Manch einer weiß auch noch, dass er beispielsweise am Programm der Viennale im Herbst mitarbeitet. Aber eine seiner gewinnbringendsten Eigenschaften ist seine Lust an der Wettquote.

In seinem Blog Neil Young's Film Lounge erhebt er alljährlich die Wahrscheinlichkeiten, welche Berlinale-Filme wichtige Preise gewinnen könnten. Das Schöne ist, dass er diese Wahrscheinlichkeiten je nach Presseecho über das Festival regelmäßig anpasst. Sind wir mal ehrlich: Zum jetzigen Zeitpunkt ist dieser Sport eine wilde Spekulation mit minimalen Anhaltspunkten. Aber gerade deshalb macht er besonders Spaß. Die Gewinner am Abend vor der Preisvergabe vorherzusagen, ist genauso reizvoll, wie die Oscargewinner am Vorabend der Academy Awards zu tippen.
Regelmäßig ein sicheres Näschen
Vergangenes Jahr hatte Young vor dem Festival Aki Kaurismäkis Flüchtlingskomödie "The Other Side of Hope" den Goldenen Bären vorhergesagt gehabt. Das war kein Volltreffer, aber Kaurismäki gewann immerhin den Silbernen Bären für Beste Regie. Sein damaliger zweiter Platz, die französisch-kongolesische Produktion "Félicité", errang den Großen Preis der Jury. Young hat über die Jahrzehnte, die er im Filmgeschäft und im Festivaltrubel unterwegs ist, ein Näschen für die Preisverleihungen entwickelt. Den ungarischen Gewinnerfilm "On Body and Soul" hatte wohl fast niemand noch lange Zeit während des Festivals auf der Bärenliste. Young führte Ildikó Enyedi vor Beginn im erweiterten Favoritenkreis.
Warum Russland gewinnt
In diesem Jahr setzt Young auf den russischen Film "Dovlatov" von Alexey German Jr. Als Negative Space über Twitter bei Young nachfragte, warum gerade dieser Film den Goldenen Bären gewinnen wird, sagte er: "Dovlatov" sei zu diesem frühen Zeitpunkt sein knapper Spitzenreiter, weil das Filmthema um freie Meinungsäußerung in Russland kreise. German Jr. sei genau die Art von aufkommendem Kunstregisseur, der eher früher als später einen großen Preis gewinnen könnte. Negative Space zählt "Dovlatov" über den gleichnamigen berühmten sowjetischen Schriftsteller, der eine Ikone in den 1970er-Jahren wurde, auch zu den Geheimtipps des Wettbewerbs. Gerade auch, weil Germans vorheriger Film, "Under Electric Clouds", im Jahr 2015 in der Berlinale-Konkurrenz für Furore gesorgt hat. Soweit man denn innerhalb der deutschen Presse überhaupt von so etwas wie Furore sprechen kann.

Young verwies auch darauf, dass mit Ausnahme des Jurychefs Tom Tykwer noch kein Jurymitglied bekannt gegeben wurde. Das wird am 6. Februar bei der großen offiziellen Programm-Pressekonferenz geschehen. Von der Zusammensetzung lassen sich auf jeden Fall weitere Rückschlüsse ziehen. Nachdem Negative Space ihn erinnerte, dass die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska mit ihrem neuen Film "Twarz" bereits zum dritten Mal hintereinander in den Wettbewerb eingeladen wurde, setzte Young die Geschichte um einen Rocker, der eine Gesichtsoperation hat und fortan eine Identitätskrise erlebt, auf Platz zwei seiner upgedateten Liste. "Twarz" heißt aus dem Polnischen übersetzt so viel wie "Fresse" oder "Fratze".

Zu diesem frühen Zeitpunkt sind es vor allem Anhaltspunkte jenseits des eigentlichen Films, die man zurate ziehen kann: In diesem Fall zum Beispiel, dass das Werk aus einem Land kommt, in dem gerade eine rechtskonservative Regierung das Land umkrempelt. Auch wird nach der Metoo-Debatte sicherlich eine Rolle spielen, wie viele Frauen am Ende des Festivals Preise erhalten haben. Für Deutschland ist es mit Sicherheit erfreulich, dass Young den neuen Petzold-Film "Transit" auf Platz drei führt. Festivaldirektor Dieter Kosslick schwärmte neulich in der Stuttgarter Zeitung, dass der Film ein Meisterwerk sei. Als der Venedig-Chef Alberto Barbera Ähnliches im vergangenen Jahr über Guillermo del Toros "The Shape of Water" vor dem Festival verlautbaren ließ, gewann dieser später den Goldenen Löwen.

Neil Youngs Quoten (Stand: 3. Februar):

1. Dovlatov 5-1
2. Twarz 6-1
3. Transit 7-1
4. Season of the Devil 9-1
5. Daughter of Mine 11-1
6. Isle of Dogs 12-1

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