Sonntag, 2. September 2018
Venedig-Tipp: „Amanda“ (Mikhaël Hers)

Onkel und Nichte | © Nord-Quest Films
Jenseits der Wettbewerbs-Schwergewichte, die sowieso bald regulär im Kino laufen oder bei einem Streamingdienst verfügbar sind: Der französische Film „Amanda“ in der Orrizonte-Sektion in Venedig ist eine echte Entdeckung.

Dem Franzosen Mikhaël Hers ist ein wunderschöner Film über den Verlust gelungen. Das mag widersprüchlich klingen. Es entspricht aber seinen Schilderungen einer kleinen Patchwork-Familie in Paris, die ein Terroranschlag auseinanderreißt.

Die junge Lehrerin Sandrine (Ophélia Kolb) zieht ihre Tochter Amanda (Isaure Multrier) ohne Vater groß. Ihr 26-jähriger Bruder David (Vincent Lacoste) unterstützt sie dabei – so gut es geht. Und soweit es sein amouröses Leben als verkannter Künstler, der sich als eine Art Hausmeister für Touristenunterkünfte durchschlägt, zulässt. Denn er hat sich gerade in die gegenüber eingezogene Léna (Stacy Martin) verliebt.

Dem Leben eine spielerische Leichtigkeit abzugewinnen, gehört seit jeher zu den Qualitäten des französischen Films. Mikhaël Hers‘ Schilderungen des Alltags wohnt aber nochmal ein besonderer Zauber inne. Seien es Bruder und Schwester, die mit ihren klapprigen Fahrrädern ein kleines Wettrennen auf den Pariser Straßen hinlegen oder eine SMS, welche die Angebetete im genau richtigen Zeitpunkt erreicht, damit sie sich beim Joggen noch rechtzeitig umdrehen kann. Die Natürlichkeit der Szenen wird auch dadurch unterstützt, dass scheinbar nie Sets abgesperrt wurden und die Protagonisten durch den echten Straßenverkehr manövrieren oder einfach so mal schnell durch den Park gegangen sind. Potenzielle neue Affären mit der nächsten wohl verheirateten Facebook-Bekanntschaft werden hier einfach mal weggelacht.
Wächst an seinen Kleinigkeiten
Umso heftiger reißt ein blutiger Anschlag im Park das Familienglück aus diesem Traum. Die Realität, die Politik und der Terror holen sie ein – überholen die Familie gandenlos. Aus dem rohmer’schen Reigen wird ein Film über die Trauer. Der 26-jährige Vincent, der in den Tag hinein gelebt hat, ist auf einmal verantwortlich für das Kind seiner Schwester. Wie der Film dann diese Trauerarbeit nachzeichnet, wie er sie in Kleinigkeiten aus seinen Protagonisten herausbrechen lässt – etwa, wenn das Kind es einfach nicht wahrhaben kann, dass Vincent die Zahnbürste ihrer verstorbenen Mutter weggeschmissen hat –, macht „Amanda“ zu mehr als nur dem nächsten Feel-Good-Movie aus dem für seine Lebenslust so bewunderten Nachbarland.

Der Verlust wird immer eine offene Wunde bleiben, die niemals ganz geschlossen werden kann. Der Terrorakt hat die Welt verändert. Laute Geräusche erregen jetzt nicht mehr die Aufmerksamkeit, sondern lassen ängstlich zusammenzucken. Es ist auch nicht so, dass Vincent sofort seine neue Rolle versteht – oder auch ausfüllen kann. Wer könnte das schon? Er gibt sein Bestes. Ehrlicherweise spielt er aber aufgrund der ihn überfordernden Situation auch mit dem Gedanken, Amanda in ein Kinderheim zu geben.
Pubertierender Nachwuchsstar macht Sprung
Das ist eine ziemlich bewegender Moment, wenn er auf dem Pausenhof des Internats steht – um ihn herum lauter spielende Kinder – und dem Zuschauer bewusst wird, dass das alles kleine Menschen sind, die ohne Vater und Mutter aufwachsen müssen. Der Film beobachtet auch genau, wie die kleine Amanda den Verlust verarbeitet. Wie sagt man einem Kind so etwas überhaupt? Braucht sie einen Psychologen, Zeit für sich selbst, schnell neue Bezugspersonen, viel Aufmersamkeit? Wie kann man überhaupt in so jungen Jahren diesen Verlust ganz begreifen?

„Amanda“ feierte seine Weltpremiere am 31. August auf dem Venedig-Filmfestival in der wichtigen Nebensektion Orrizonte. Negative Space kann diese bittersüße Familiengeschichte über das Leben in der Trauer nur wärmstens empfehlen. Das ist eine echte Entdeckung, die in ihren besten Momenten mit Mia Hansen-Løves thematisch ähnlich gelagerten Film „Der Vater meiner Kinder“ mithalten kann. Hers hält würdevoll den Zustand des Schocks, der Verarbeitung und des wieder Mutfassens fest.

Der Cast besteht aus diversen wunderschönen sowie talentierten Schauspielern, allen voran Stacy Martin, die als junge Charlotte Gainsbourg in Lars von Triers „Nymphomaniac“ bekannt wurde. Richtig gehend begeistert hat aber die Transformation, die Vincent Lacoste seit seinem Durchbruch als schwerpubertierender Teenie in der auch empfehlenswerten Komödie „Jungs bleiben Jungs“ hingelegt hat.

... comment