Mittwoch, 28. August 2019
Kore-edas „Wahrheit“, Gebbes „Pelikanblut“ & Molls tierisches Comeback

„Only the Animals“: Valeria Bruni Tedeschi und Nadia Tereszkiewicz | © Jean-Claude Lother
Am ersten Festivaltag überrascht in Venedig ein deutsch-französischer Regisseur, der zu Unrecht in die Nebenreihen abgeschoben wurde. Außerdem feierten Katrin Gebbe und Kore-eda Hirokazu ihre Weltpremieren.

Auch Venedig besitzt wie Cannes ein Kastensystem bei den Presse-Akkreditierungen. Augenscheinlich wird das, wenn man sich für die begehrten Filme anstellt. Am Saal Darsena zum Beispiel, der morgens einen Großteil der Wettbewerbsfilme zeigt, bilden sich vier Schlangen. Die exklusivste ganz links schleust etwa Fernsehteams durch. Wobei die Saalwächter die Schlange daneben, wo auch die internationale Presse untergebracht ist, zeitgleich einlassen. Das wichtigste ist sowieso, im Schattenbereich der jeweiligen Schlange anzustehen, weil Venedig bereits früh ordentliche Temperaturen aufweist.

Die sogenannten Trade Papers, also Hollywood Reporter, Variety und Screen Daily lassen an der Mostra am Eröffnungstag noch auf sich warten. Le film Francais kriegt man im Pressebereich und ein Fachblatt, das auf jedem Festival die chinesische Filmindustrie hypt. An die italienischen Kollegen wird in den Schlangen ein einheimisches Print-Produkt ausgeteilt, das ich noch nicht in die Hände bekommen habe. Der Venedig-Besuch soll schließlich auch eine filmkritische Horizonterweiterung sein. Mit Ausnahme von Cédric Succivalli und dem in Italien beheimateten Lee Marshall fallen mir spontan keine italienischen Filmkritiker von Prominenz ein. Wohl auch, weil diese keine Notwendigkeit sehen, auf Englisch zu publizieren. Ähnlich verhält es sich auch mit den französischen Kritikern.
Kore-eda Hirokazu atmet durch
Kore-eda Hirokazus Eröffnungsfilm „La vérite“ ist ein leichter, teils charmanter, sich in Teilen aber auch auf seinen Metaebenen verlierender Start in das Festival. Es ist ein bisschen so, als würde man dem Palmen-Gewinner Kore-eda („Shoplifters“) beim Durchatmen und Genießen zuschauen. Diese erste nicht-japanische Produktion hat er sich in seiner Karriere gegönnt, bevor es wieder an das Besteigen des nächsten Achttausender geht. Catherine Deneuve spielt die Mutter von Juliette Binoche. Die Deneuve gibt dabei eine Schauspielerin im goldenen Herbst ihrer Karriere, die gerade ihre Autobiografie veröffentlicht hat.

Aus diesem Anlass besucht Tochter Binoche mit ihrem Ehemann Ethan Hawke und der kleinen Tochter die Deneuve. Am meisten Spaß machen Deneuves spitzfindinge Kommentare zur Filmwelt, auch Fettnäpfchen von schon verstorbenen Kolleginnen, die noch als Referenzpunkt herhalten müssen. Diese Figur hat scheinbar alles in ihrem Leben der Karriere untergeordnet und bereut nichts. „Ich war eine schlechte Mutter und eine schlechte Freundin, aber eine gute Schauspielerin“, lautet einmal ihr Resümee. Gut funktioniert auch die Spiegelung von Deneuves und Binoches gestörter Mutter-Tochter-Beziehung im Spielfilm, den die Deneuve im Film dreht. Darin geht es wiederum um eine Mutter, die eine tödliche Krankheit hat und deswegen im Weltall leben muss. Während sie auf diese Weise nicht älter wird, trifft sie immer wieder auf ihre Tochter, die erst Teenie, dann erwachsene Frau und letztlich eine Greisin ist. Eine unheimliche Vorstellung.

Orizzonti-Eröffnungsfilm „Pelikanblut“ | © Junafilm / Miramar film
Katrin Gebbe: Nach Cannes also Venedig
Ich liebe Katrin Gebbes Debütfilm „Tore tanzt“. So abgründig und taff war deutsches Kino selten. Mit riesiger Spannung habe ich also ihren neuen Film „Pelikanblut“, der die wichtige Nebenreihe Orizzonti am Mittwoch eröffnete, erwartet. Und ich bin enttäuscht, dass ich die Geschichte um die Reitlehrerin Wiebke (Nina Hoss), die sich dazu entschließt, ein zweites Kind zu adoptieren, nur mochte. „Pelikanblut“ ist motivisch und dramaturgisch ein echter Zwillingsfilm zum Berlinale-Durchbruch „Systemsprenger“. Wieder ein Mädchen mit einem frühkindlichen Trauma, wieder Gewalteskalationen und Entgleisungen, wieder wird eine Familie und der Zuschauer an die Grenze des Zumutbaren geführt, nochmals wird ausgelotet, wie weit eigentlich Mutterliebe gehen kann, darf und muss.

Aber es gibt eine Zweigung, da biegt „Systemsprenger“-Regisseurin Nora Fingscheidt da ab und Gebbe wählt eben einen anderen, ganz eigenen Weg. Und ihr auf diesem Pfad in die Finsternis zu folgen, war spannend im Kino anzusehen – ich fand „Pelikanblut“ nie zäh oder langweilig. Nur letztlich ist der Film eine Mischform geworden, deren verschiedenen Elemente sich nicht befeuern, sondern ihn emotional brechen lassen. Gebbes konsequentes Abgleiten ins Genre ist gekonnt gemacht. Nina Hoss und der Kinderdarstellerin (Adelia-Constance Giovanni Ocleppo) sind beängstingend gut. Hoss wagt sich angstfrei in Abgründe ihrer Figur. Aber das Genre lässt in diesem Fall den Zuschauer emotional vom Haken. Vielleicht kann ich das mit etwas Abstand nochmal anders sehen – vor allem wenn der Film „Systemsprenger“ nicht mehr so prägend im Hinterkopf ist. Vielleicht ist es dann gerade diese Verquickung aus Grisebachs „Western“ und Grusel-Genreklassikern, die ich besonders zu schätzen weiß.

Dominik Moll (3.v.l.) und seine Filmcrew
Dominik Molls Comeback
Die Überraschung des ersten richtigen Venedig-Tages war, dass der deutsch-französische Regisseur Dominik Moll mich nochmal aus meinem wegen Hitze und Einsatz wohl verdienten Minutenschlaf holte. Sein neuer Film „Only the Animals“ war zu gut, um einzudösen. Molls Karriere ist schon ein wenig eigenartig verlaufen. Es ging so verheißungsvoll mit dem hitchcock'schen Thriller „Harry meint es gut mit dir“ in Cannes los. Fortwährend interessierten sich die Filmfestivals und Zuschauer immer weniger für ihn. Nun hat sein neuer Film am Mittwoch die Reihe Venice Days eröffnet, die ungefähr vergleichbar mit der Directors' Fortnight in Cannes ist. Der Saal Perla im Casino auf dem Lido platzte aus allen Nähten. Zur Weltpremiere war mindestens auch das halbe Filmteam erschienen.

In „Only the Animals“ geht es um einsame Seelen, die versuchen, so gut es geht ihre Sehnsüchte im Alltag zu verstecken. Als eine Frau in einem Schneesturm verschwindet, die mit den Leben all dieser Seelen etwas zu tun hat, legt Moll nach und nach die Geheimnisse der Figuren offen. Er erzählt nicht unbedingt chronologisch, lässt die Geschichten der Protagonisten zu verschiedenen Zeitpunkten ineinander laufen. Mir hat das großen Spaß gemacht, tollen Schauspielern wie Denis Menochet oder Valeria Bruni Tedeschi beim lustvollen Leiden am Alltag zuzusehen. Wie filigran und mit wie viel galligem Humor Moll die Handlungsstränge zusammenzieht, ohne seine Protagonisten dabei ganz bloßstellen zu wollen, sieht man heute immer seltener. Zumal das Ganze mit einer schönen Variation auf einen Billy-Wilder-Klassiker endet. Noch schöner war eigentlich nur Denis Menochets bewusst zur Schau getragenes Desinteresse beim anschließenden Q & A.

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