Donnerstag, 27. November 2014
35mm-Bollwerk gegen die Barbaren

"Moskau in New York": Robin Williams entdeckt den Kapitalismus
Seit zwei Monaten programmiert Quentin Tarantino das eigene New Beverly-Cinema in Los Angeles. Grund genug für Negative Space, einen genaueren Blick auf die Auswahl zu werfen.

Zuerst einmal herrschte ein Gefühl der Enttäuschung vor. Zu sehr ist man die letzten Jahrzehnte von Quentin Tarantino verwöhnt worden. Zu enzyklopädisch sind seine Filme ausgefallen, zu gut bestückt waren seine epischen QT-Film-Festivals in Austin, Texas. Irgendwie kommt einem das meiste seltsam bekannt vor: Die ersten beiden Monate im New Beverly speisen sich nämlich größtenteils aus dem Fundus der Empfehlungen, die der „Django Unchained“-Regisseur seit den 1990er-Jahren mehrfach abgefeuert hat. Die Wiederentdeckung Paul Mazurskys zum Beispiel ist ein alter Hut. Howard Hawks‘ „His Girl Friday“ stand schon damals Pate in den Dialogen zwischen Honey Bunny und Pumpkin in „Pulp Fiction“. Und auch die Eastern in der Midnight-Schiene wie „Die Schlange im Schatten des Adlers“ oder „Die Todesfaust des Cheng Li“ haben ihre Festival-Hommage hinter sich und wurden in „Kill Bill“ gleich ganz durchdekliniert.

Tarantino-Aficionados wissen seit längerem, dass der Filmemacher den taiwanesischen Bruce Li dem legendären Bruce Lee vorzieht. Das Programm ist darauf angelegt, dem Kinobesitzer selbst zu gefallen. Die eigenen Filme werden mit oder auch ohne Jubiläum an mehreren Tagen abgefeiert, Freunde wie Samuel L. Jackson bekommen zu ihrem Geburtstag ein Double Feature spendiert, Eli Roth darf an Halloween das eigene mediokere Werk in seiner Gesamtheit ausbreiten. Und da die Dreharbeiten zu „The Hateful Eight“, Tarantinos offiziell achtem Film, im Dezember beginnen werden, ist nicht davon auszugehen, dass sich dieser Zustand so schnell ändern wird.
Quentins unheimliche Begegnung mit Außerirdischen
Schließlich war Tarantinos Intervention im eigenen Haus nicht von langer Hand geplant, sondern mehr eine Kurzschlussreaktion auf die allgemeine technologische Entwicklung. Das Schlüsselerlebnis passierte ihm diesen Mai auf den Filmfestspielen von Cannes. Der Regisseur war als Ehrengast geladen worden, um die feierliche Einführung zu 50 Jahre „Für eine Handvoll Dollar“ zu halten. Aber als sich Tarantino danach genüsslich in den Sitz fläzen und den Sergio Leone-Klassiker genießen wollte, traf ihn der Schlag. Der heiligste Tempel der Cinephilie, das Filmfestival von Cannes, zeigte den Film nicht in 35mm, sondern als digitale Kopie. Diese ignoranten Barbaren!

Eigentlich sah Tarantinos Lebensplan so aus, dass er noch mindestens zwei weitere Filme drehen wollte, um sich langsam aus Hollywood zu verabschieden. Dann würde er nur noch der spinöse Filmprofessor und Kinovorführer sein, als den er sich in seinem Vorruhestand immer schon gesehen hat. Er hätte zehn Filme beisammen. Eine schöne runde Zahl und ein einheitliches Werk von durchgängig hoher Qualität, auf das er mit vielleicht einmal hundert Lebensjahren stolz zurückblicken könnte. Aber nein, die Dekadenz greift gerade jetzt wild um sich. Kinos schaffen ihre 35mm-Projektoren ab und stellen ausschließlich auf digitale Projektion um. Und die letzten Firmen, die noch Zelluloidstreifen herstellen, schließen.

Dafür habe er nicht unterschrieben, als er mit dem Filmemachen begann, so Tarantino. Digitale Kinoprojektion ist für ihn nicht mehr als Fernsehen in der Öffentlichkeit. Und dafür bräuchte man sein Haus nicht zu verlassen. 35mm-Filmkopien dagegen haben Charakter. Ihre Artefakte bezeugen, dass sie gelebt haben. Ganz zu schweigen vom hypnotischen Flicker-Effekt und der poetisch-magischen Illusion, bewegte Bilder zu sehen. Das New Beverly Cinema, das er lange Zeit finanziell unterstützte und das er kaufte, als der Besitzer verstarb, soll jetzt zu einem Bollwerk gegen die digitale Projektion werden.

Ausschließlich 35mm- bzw. 16mm-Kopien sind erlaubt. Für einen bescheidenen Ticketpreis bekommt man am Abend ein Double Feature präsentiert. Dazu laufen coole, alte Werbungen, passende Trailer-Shows und Kurzfilme. Wahrscheinlich tut man dem Programm auch unrecht, wenn man es nur auf die Hauptfilme reduziert. Man müsste schon vor Ort sein, um das beurteilen zu können. Und schaut man etwas genauer hin, entdeckt man auch im Hauptprogramm die eine oder andere Perle, von der man bislang noch nichts gehört hat. Teilweise stehen die interessanten Empfehlungen auch gar nicht im Programm, sondern tauchen in Interview-Nebensätzen auf.
Das nicht ganz so stachelige Kindermädchen
Beispielsweise hat Tarantino der Deadline Hollywood-Journalistin Jen Yamato erzählt, dass er auch plane, samstägliche Kindervorstellungen für die nächste Generation zu veranstalten. Filme wie „Die Abenteuer der Familie Robinson in der Wildnis“ und „Der Mann in den Bergen“ sollen jungen Menschen den Spaß mit 35mm-Projektionen vermitteln. Welche Filme begeisterten den frühen Quentin und welche Werke hält er noch heute für ansehenswert? Tarantino, dessen Filme immer auch mit krasser Gewalt und Blutdurst assoziiert werden, erscheint in seinen Filmtipps immer dann am spannendsten, wenn diese am weitesten von den eigenen Werken entfernt liegen. Klein-Quentin sah mit seiner Mutter im Kino eben nicht nur Erwachsenenfilme wie „The Wild Bunch“ und „Die Kunst zu lieben“, sondern auch klassische Abenteuerstoffe, die für sein Alter bestimmt waren.

„Der Mann in den Bergen“ ist eine faszinierende Mischung aus atemberaubender Tierdoku und romantischer Aussteigergeschichte um einen Vater, der fälschlicherweise des Mordes bezichtigt wird und sich in die Wälder des amerikanischen Westens flüchtet. Es ist ein bisschen so, als ob Daniel Defoe einen wilden Stummfilm geschrieben hätte. Es gibt fast keinen Dialog, nur gelegentlich einen romanhaften Off-Kommentar. In der Figur des Vaters, des Grizzly Adams (Dan Haggerty), verbinden sich Ideale der Abenteuerlust mit der jugendlichen Herangehensweise, vor Problemen einfach davon zu laufen. Zehn Jahre schlägt sich Adams in den Wäldern durch, wird unter den Dorfbewohnern zu einer Legende. Sein bester Freund soll ein Braunbär sein, einen Indianer soll er vor einer Bergkatze gerettet haben. Es stimmt alles.
Das Unglaubliche ist, dass der Film das alles vor laufender Kamera und ohne doppelten Boden zeigt. Da sind teils lebensbedrohliche, teils spektakuläre, teils unwahrscheinlich intime Aufnahmen zwischen Mensch und Tier geglückt. „Der Mann in den Bergen“ ist ein märchenhafter Antizivilisationsreigen mit einer wundersam wehmütigen Stimmung.

Der andere angedachte 1970er-Jahre-Abenteuerfilm, „Die Abenteuer der Familie Robinson in der Wildnis“, folgt einer ähnlichen Fluchtbewegung in die Natur, auch wenn die Motive unterschiedlich sind. Die kleine Tochter der besagten Familie ist erkrankt – womöglich an der schlechten Stadtluft und dem allgegenwärtigen Stress. Also schmeißt der Familienvater seinen Baustellen-Job hin, packt seine unverschämt attraktive Ehefrau (Susan Damante) und die beiden Kinder und taucht ab. Tarantino hat eine erstaunliche hohe Trefferquote, was Filmtipps betrifft. Aber dieses Werk ging wohl vor allem dafür in die Filmgeschichte ein, dass nie häufiger die Tonangel unbeabsichtigt im Bild hing. Das ist seichtes, kitschig gemachtes Kinderkino mit schwülstigen Folk-Songs. Was die „Familie Robinson“ und „Der Mann in den Bergen“ verbindet, sind die wagemutigen Interaktionen zwischen Menschen und Tieren. Von Filmverrückten gedreht, die es damals einfach nicht besser wussten und ihren Hals riskierten.
Lang lebe Robin Williams!
Im tatsächlichen New Beverly-Programm fiel dagegen im ersten Monat vor allem das Robin Williams-Double Feature auf. Beide Titel suchte man vergebens in den endlosen Trauerbekundungen der letzte Zeit. Beide 1980er-Jahre-Filme sind ziemlich empfehlenswert. Paul Mazurskys „Moskau in New York“ ginge sogar glatt als Meisterwerk durch. „Rocket Man – Der Beste aller Zeiten“ von Roger Spottiswoode („Monster im Nachtexpress“) ist eine wundervoll leichte, comichafte Football-Komödie in der Slapstick-Tradition eines Frank Tashlin. Der Film erinnert an eine Zeit, als man noch unbekümmert „Mr. Baseball“, „American Wildcats“ und „Weiße Jungs bringen’s nicht“ heiß und innig liebte und keine Ahnung hatte, wer eigentlich dieser Eric Rohmer ist.

Die Amerikaner haben schon immer besser als die Europäer verstanden, dass beim Sportfilm nie das Spiel selbst im Vordergrund stehen darf, sondern es immer um das Drumherum geht. Darin liegen der Zauber und die Poesie verborgen. Robin Williams spielt in „Rocket Man“ einen gepeinigten Mann, der regelmäßig zu einer Prostituierten fährt. Nicht, um mit ihr zu schlafen, sondern um immer wieder sein großes Trauma durchzusprechen. Williams griff als junger Footballer unglücklich daneben, als ihn der Quarterback Kurt Russell im entscheidenden Spielzug gegen den Erzrivalen mustergültig bediente. Das Trauma, das sein gesamtes Umfeld – inklusive der Prostituierten, die für die Beichtstunde den doppelten Preis verlangt – zu Tode langweilt, ging damals auch auf die kalifornische Kleinstadt über, dessen Namen man deswegen bis heute noch nie gehört hat. Wie der junge, vor Energie zerberstende Williams die eigenen Dämonen niederringt, das alte Team zusammentrommelt und die ganze Stadt für das Wiederholungsspiel motiviert, ist in seinen screwballhaften Dialogen und mit unzähligen tollen Nebenfiguren wundervoll anzuschauen.

Das Werk des New Hollywood-Regisseurs Paul Mazursky gehört bekanntlich nicht gerade zu Tarantinos Neuentdeckungen. Der Filmtitel „Moskau in New York“ tauchte allerdings zum allerersten Mal in diesem New Beverly-Oktober-Programm auf. Und was für ein wunderschöner Film das ist. Pauline Kael hat darüber bereits alles in „State of the Art“ geschrieben. Die Geschichte ist zweigeteilt: Lange, sehr atmosphärische Sequenzen, die Robin Williams als russischen Jazzspieler in Moskau zeigen, das Mazursky am Geiselgasteig auf dem Bavaria-Gelände hat aufbauen lassen. Auf den Spuren Ernst Lubitschs wandelnd, der Europa für Hollywood vielleicht am liebevollsten neu erfand, zeigt Mazursky elendig lange Schlangen um Häuserblocks, wo hauptsächlich für Toilettenpapier angestanden wird. In Williams‘ Liebesnest ist der Kühlschrank randvoll mit Wodka-Flaschen gefüllt.

Und eigentlich ist seine Figur im Kommunismus gar nicht so unglücklich. Er hat eine vollbusige Freundin und wohnt mit seiner Familie in einer bescheidenen Unterkunft. Umso überraschender gestaltet sich sein Ausflug nach Amerika. Der Moskauer Zirkus ist zu einem Gastspiel in New York eingeladen worden. Und er, der in der Zirkus-Band spielt, nutzt die Gunst der Stunde in Bloemingdale’s, um zu türmen. Was Mazursky dann zeigt, ist für einen 1980er-Jahre-Hollywood-Film inspirierend ausgeglichen in der Bewertung der unterschiedlichen politischen Systeme. Ja, in Moskau wird man bespitzelt, unter Druck gesetzt und im schlimmsten Fall auch weggesperrt. In New York bricht Williams aber gleich zu Beginn angesichts der schieren Kaffee-Auswahlmöglichkeiten zusammen. Es sind die Ärmsten der Armen, die ihm Asyl in ihrer winzigen Wohnung gewähren. Hier lauern keine KGB-Agenten, nur einfache, junge Männer mit kalten, leeren Augen, die ihn direkt vor der Haustür überfallen. Der Film macht erfahrbar, wie es wohl sein muss, wenn man sich gegen sein altes Leben entscheidet und irgendwo in der Fremde völlig neu anfängt.

Robin Williams ist ein Erlebnis. Nicht nur, dass man ihm den russischen Jazzspieler von der ersten Sekunde an abnimmt. Er leuchtet hier förmlich von innen. Seine Figur ist so sympathisch, weil Williams sie mit seiner tierischen Sexualität, seinen Zweifeln und den kleinen Freuden am Leben so menschlich zeichnet. „Moskau in New York“ ist die bislang schönste Entdeckung des New Beverly-Programms.
Man könnte natürlich noch über einige andere Entdeckungen schreiben. Zum Beispiel über den großen Unbekannten William Witney, den Tarantino schon ewig pusht, der dem geneigten Leser jetzt aber im Gewand einer Jules Verne-Verfilmung begegnet. „Robur – Der Herr der sieben Kontinente“ mit Vincent Price und Charles Bronson ist einen Blick wert. Und wenn man will, kann man gleich Witneys richtiges Meisterstück, „Der schwarze Mustang“, dran hängen.
George C. Scott hat mit „Die Rache ist mein“ einen abgrundtief melancholischen Debütfilm über Militärexperimente und die Folgen für die Zivilbevölkerung hingelegt, der unter die Haut geht. Und im November widmete Tarantino dem Italo-Star Guiliano Gemma das exotische Double Feature „Der feurige Pfeil der Rache“ und „Ben & Charlie“. Auch nicht gerade zwei Filme, die in der Vergangenheit sonderlich viel Liebe in Cineasten-Zirkeln genossen hätten. „Wenn Leute kommen, wäre das super. Wenn sie nicht auftauchen, scheiß auf sie!“, lautet das Credo des Hausherrn. Zumindest Negative Space konnte auf diese Weise bereits inspiriert werden.

Link: - New Beverly Cinema

... comment