Donnerstag, 12. Juli 2018
Chatrians deutscher Filmgeschmack in Locarno

Carlo Chatrian | © Locarno Festival, Michela Di Savino
Was für einen deutschen Filmgeschmack hat der künftige Berlinale-Chef Carlo Chatrian? Das am Mittwoch veröffentlichte Locarno-Programm gibt einen Einblick.

Wer ist eigentlich dieser Carlo Chatrian, der ab 2020 die Berlinale künstlerisch leiten wird? Wie wird sein Programm ausschauen? Und was für Vorlieben hat er bei deutschen Filmen? Ob er mit der Hauptstadtpresse zurechtkommen und genügend Stars auf den roten Teppich locken wird, bleibt abzuwarten. Aber da am Mittwoch sein letztes Festivalprogramm für Locarno veröffentlicht wurde, lohnt ein Blick auf die drei ausgewählten deutschen Beiträge in den drei wichtigsten Reihen. Geben sie bereits einen Hinweis darauf, welche Art von deutschem Film er für den internationalen Wettbewerb in Berlin bevorzugen wird? Schließlich sagte Chatrian in seinem ersten großen Interview nach seiner Ernennung am 22. Juni gegenüber dem Hollywood Reporter: „Es gibt ein Bedürfnis, neue Stimmen im deutschen Kino zu finden.“
Jan Bonnys NSU-Aufarbeitung „Wintermärchen“
Für Locarno 2018 hat er zum Beispiel für die wichtigste Reihe, den internationalen Wettbewerb, Jan Bonnys Film „Wintermärchen“ gefunden. Bonnys vorangegangener Kinofilm „Gegenüber“ ist über zehn Jahre her. Dazwischen drehte er einen Tatort und zwei Polizeirufe. In kleinen Cineastenkreisen sorgte sein TV-Film „Über Barbarossaplatz“ aus dem Jahr 2016 für Aufsehen. Sein neues Werk „Wintermärchen“ klingt nach dem ARD-Dreiteiler und Fatih Akins Drama „Aus dem Nichts“ wie die nächste Aufarbeitung der NSU-Morde: Drei junge Rechtsextremisten gehen in den Untergrund. Die Newcomer Thomas Schubert, Ricarda Seifried und Jean-Luc Bubert spielen sie. Interessant ist die Produktionsfirma Heimatfilm. Geschäftsführerin Bettina Brokemper mag mutige und andere Filme wie Nicolette Krebitz' Selbstfindungsdrama „Wild“, das in Sundance seine Weltpremiere feierte. Das ist insofern eine aufregende Wahl, weil Bonny bislang nur wenige auf dem Zettel haben.

Der zweite deutsche Film, „Was uns nicht umbringt“, läuft in der Reihe Piazza Grande. Die neue Komödie von Sandra Nettelbeck klingt so, als sei sie für ein größere Publikum gemacht: Ein Psychotherapeut, der mit besonders außergewöhnlichen Fällen fertig werden muss und sich auch noch in eine seiner Patientinnen verliebt. Nettelbeck galt seit „Bella Martha“ im Jahr 2001 als Regiewunder und wurde von Hollywood abgeworben. Richtig glücklich machten sie die US-Produktionen aber nicht. Zurück in die deutsche Filmindustrie fand sie mit den beiden Drehbucharbeiten „Ich bin dann mal weg“ und „Hanni & Nanni: Mehr als beste Freunde“. Eventuell schafft der neue Film den Spagat zwischen Anspruch und Unterhaltung. Zu wünschen wäre es ihr, dass sie die erzählerische Leichtigkeit ihrer Anfangstage zurückgewinnt.
Auch Trobischs „Alles ist gut“ in Locarno
Und als letztes hat Chatrian Fingerspitzengefühl bewiesen: In der Reihe Concorso Cineasti del presente, die in etwa der wichtigen Cannes-Nachwuchsreihe Un Certain Regard gleichsteht, läuft in Locarno „Alles ist gut“. Eva Trobischs Werk kommt in die Schweiz mit einem Ruf wie Donnerhall: Nicht nur gewann der Film zwei Förderpreise des Neuen Deutschen Kinos und den FIPRESCI-Preis der internationalen Kritikervereinigung auf dem Filmfest München. Er fand auch bereits internationales Echo und verzauberte Jurymitglied Vicky Krieps.

In seinem letzten Locarno-Jahr gibt es bei Chatrian quantitativ nicht viele deutsche Produktionen zu finden. In einen Berlinale-Wettbewerb etwa nur einen deutschen Film einzuladen, würde sicherlich im ersten Jahr für Getuschel sorgen. Aber anhand der drei Produktionen lässt sich die Idee von neuen Stimmen im deutschen Kino schon recht gut erkennen. Das sind jedenfalls drei Regisseure, die wohl nicht im letzten Berlinale-Wettbewerb gelandet wären, wobei der mit Petzold, Stuber, Atef und Gröning sowieso äußerst stark und vielfältig besetzt war.
Sprungbrett Berlinale-Wettbewerb
Gerade die letzten drei Genannten haben durch den Wettbewerb stark in der Szene gewonnen, Atef sogar groß beim deutschen Filmpreis abgeräumt. Neuerdings ist da die Berlinale sowieso ein Sprungbrett für die internationale Karriere: Der deutsche Regisseur Edward Berger war zum Beispiel 2014 mit dem Jugenddrama „Jack“ eingeladen. Inzwischen dreht er Serien wie „Deutschland 83“, „The Terror“ und „Patrick Melrose“. Gerade „Jack“ war im Vergleich mit der Konkurrenz ein Alleinstellungsmerkmal in Bergers Bewerbungsprozess – auch gegenüber Stars wie Benedict Cumberbatch.

Im vergangenen Jahr lud Chatrian die deutschen Filme „Drei Zinnen“ (Jan Zabeil), „Der Mann aus dem Eis“ (Felix Randau) und „Freiheit“ (Jan Speckenbach) nach Locarno ein. 2016 waren es „Paula“ (Christian Schwochow), „Vor der Morgenröte“ (Maria Schrader), „Der traumhafte Weg“ (Angela Schanelec) und „I Had Nowhere to Go“ (Douglas Gordon). 2015 hießen die deutschen Filme „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (Lars Kraume) und „Der Nachtmahr“ (Akiz). Der Italiener wählt immer sehr sorgfältig aus. Mit Schrader, Schanelec und Nettelbeck gibt es einen soliden Regisseurinnen-Anteil. Es sind generell nicht die typischen Kandidaten. Berlin kann sich also auf einige Überraschungen gefasst machen. 2020 wird auch dahingehend sehr aufgregend.

Das 71. Festival von Locarno findet vom 1. bis zum 11 August statt.

Link: - Locarno-Programm 2018

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