Montag, 20. Februar 2017
Berlinale 2017: Ein Blick auf die Perspektive Deutsches Kino

"Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" © faktura film
Die Highlights der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale waren ein weiblicher Robert De Niro, ein sozialistischer Wes Anderson und ein Rachefilm, der die Vorzeichen vertauscht. Michael Müller schaut sich auf dem Festival den deutschen Nachwuchs an.

Ein Möchtegern-Regisseur (Julian Radlmaier), der sich in eine kanadische Studentin (Deragh Campbell aus „I Used to Be Darker“) verliebt und deshalb ein sozialistisch geprägtes Filmprojekt auf einer Apfelplantage erfindet; ein Ex-Rocker (Peter Kurth), der zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat, nach seiner Knastzeit nochmal neu anfangen will, aber von seiner Vergangenheit in der Form des trauernden Ehemanns (Karl Markovics) der ermordeten Frau und des Kindes eingeholt wird; eine Fliesenlegerin, die ihr tristes Dasein dadurch aufbricht, dass sie anfängt, ihre Alltagssituationen als Schauspielübung zu begreifen. Ersterer Film ist „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“, zweiterer heißt „Zwischen den Jahren" und letzterer ist der Kurzfilm „Gabi“. Zusammen waren das die Highlights der diesjährigen Berlinale-Nebenreihe Perspektive Deutsches Kino.

Interessanterweise funktionierten die politisch überambitionierten Werke in der Perspektive wie „Tara“, „Kontener“ oder „Mikel“ am wenigsten. Alle drei Kurzfilme wurden in einem Block gezeigt. Sie verband die Flüchtlingsthematik. Sektions-Leiterin Linda Söffker fasste das schon selbst ganz passend auf der Bühne zusammen: Mal lobte sie, wie die Hauptdarstellerin in der Sci-Fi-Dystopie „Tara“, in der die Menschen wegen der Zustände aus Deutschland fliehen müssen, stilvoll Zigaretten rauchte. Mal war Söffker begeistert von der Lichtarbeit in dem tristen Bauernhof-Film „Kontener“, wo zwei Polinnen in Brandenburg den Hofroutinen nachgehen. Auch der Film „Mikel“ über den nigerianischen Flüchtling, der sich in Deutschland für bescheidene Bezahlung abrackert, besitzt vor allem den Willen, gut gemeint und sozial relevant zu sein. Einzelne Filmelemente glänzen. Darüber hinaus fehlten aber die dramaturgischen Bögen oder auch schlicht eine gewisse Lebendigkeit der Welten und Figuren.

© Nicolaas Schmidt / Oskar Sulowski / Frank Dicks
Eierschalen auch bei Max Ophüls im Angebot
Ein Beispiel hätten sich die drei Kurzfilme der Perspektive an dem diesjährigen Max-Ophüls-Preis-Gewinner „Siebzehn“ nehmen können. Traditionell wird der am letzten Tag der Berlinale, am Zuschauertag, präsentiert. Auch hier sind noch die Eierschalen hinter den Ohren der Debütanten klar erkennbar. Nur ist „Siebzehn“, ein Liebesreigen unter Teenagern aus der niederösterreichischen Provinz, ein rundes Filmerlebnis. Wie die Kritik schon in Saarbrücken festgestellt hatte, ist das ein Kino, das die Sehnsüchte der jungen Menschen über Blicke einfängt. Fantasien werden filmische Wirklichkeit, wenn die Regisseurin Monja Art die Gedanken der Protagonisten verbildlicht. Die souveräne wie zerbrechlich wirkende Hauptdarstellerin Elisabeth Wabitsch ist der Trumpf des beschwingt-melancholischen Jugendfilms.

Die tolle Deragh Campbell in "Selbstkritik" © faktura film
Was aber wirklich aus diesem Jahrgang der Perspektive Deutsches Kino bleiben wird, ist die Selbstironie, mit welcher der Regisseur und Hauptdarsteller Julian Radlmaier einen waschechten teutonischen Wes-Anderson-Film auf einer Apfelplantage geschaffen hat. Das ist ein ähnlicher Humor, gleich starre Einstellungen, die sich in Bewegungskino auflösen, der Surrealismus in Alltagssituationen, der Einfluss des europäischen Kunstkinos gepaart mit der Wehleidigkeit junger Menschen, die nie in ihrem Leben richtig arbeiten mussten. „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ sprudelt über vor tollen Ideen. Die erste zwei Drittel, die tatsächlich aus der Perspektive eines Vierbeiners erzählt werden, sind so stark, kreativ und unwiderstehlich in ihrem komischen Personal und der Zuspitzung der Situationen auf der Apfelplantage, dass das schwächere letzte Drittel, das sich ein wenig in der Metaebene verliert, nicht so stark ins Gewicht fällt.

© Sophie Linnenbaum / Tim Schenkl / Carina Neubohn
Rache-Struktur aufgebrochen
Auch toll war „Zwischen den Jahren“ von Lars Henning. Das ist echtes, viriles Genrekino, das die Strukturen und Rollenverteilungen des klassischen Rachethrillers auflöst. Der Ex-Rocker Becker, vom Tatort-Schauspieler Peter Kurth zum Niederknien gut und um seine Existenz kämpfend gespielt, muss sich den Schatten seiner Vergangenheit stellen. Der Österreicher Karl Markovics spielt den Mann, dessen Frau und Tochter der ehemalige Häftling ermordet hat. Bei der intensiven Auseinandersetzung rührt „Zwischen den Jahren“ große Fragen nach Schuld und Vergebung an und ist dabei eine so rotzige und authentische Milieuschilderung, dass es eine Freude ist.

"Zwischen den Jahren" © Frank Dicks
Der vielleicht beste Film der Perspektive stammt aber von Jana Bürgelin und heißt „Millennials“. Die groß angekündigte Generationsschilderung hat mich dabei weniger interessiert. Wobei dies alles gut eingefangen ist: Die überhöhten Ansprüche an Beziehungen, die egozentrischen Neigungen einer jungen Schicht, die durch die Arbeitswelt und die technische Fortentwicklung immer weiter verstärkt wird, die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit bei scheinbarer freier Auswahl. Nein, mich hat vor allem Anne Zohra Berracheds 30-jährigen Figur Anne interessiert.
Die biologische Uhr tickt bei den Millennials
Berrached lief mit ihrem zweiten Spielfilm „24 Wochen“ im vergangenen Jahr im Berlinale-Wettbewerb. „Millennials“ wirkt jetzt wie das Hintergrundrauschen zu diesem Film: Wir sehen eine junge Filmemacherin, die „24 Wochen“ castet und vorbereitet. Gleichzeitig lässt sie den Zuschauer angstfrei bei intimsten Vorgängen teilnehmen: beim Besuch des Gynäkologen, bei der Selbstbefriedigung im eigenen Bett oder beim Botox-Aufspritzen der Lippen für eine Premierenparty. Klar, ist das ein Spielfilm, die Figur Anna ist nicht die wirkliche Regisseurin Berrached. Der Eindruck bleibt, dass hier eine Künstlerin so tief blicken lassen will, um so genau wie möglich über den Zustand der biologisch tickenden Uhr aufzuklären.

"Gabi" © Clara Rosenthal
Wie ein wilde Hirschkuh
Mehr beeindruckt hat mich eigentlich nur das Schauspiel von Gisa Flake im 30-Minüter "Gabi". Die Darstellerin, die man eventuell noch mit der Sitcom "Bully macht Buddy" oder den Wickie-Filmen von Bully Herbig assoziiert, darf als Fliesenlegerin "Gabi" frei aufspielen. Ihr Azubi übt mit ihr das Schlussmachen seiner Noch-Freundin. In der Realität funktionieren die Trockenübungen des Azubis natürlich nicht, aber Gabi hat Blut geleckt. Einem Robert De Niro gleich vernichtet sie ihre Umgebung mit der neu gewonnenen Leidenschaft fürs Schauspielen. Das ist so bewegend und gleichzeitig urkomisch anzusehen, weil ihre Figur sich mit den fiktiven Situationen den Frust vom Leibe spielt, als Mensch voller Sehnsüchte ewig ignoriert worden zu sein.

Sechs Empfehlungen (alphabetisch)

* FINAL STAGE (Nicolaas Schmidt)
* MILLENNIALS (Jana Bürgelin)
* GABI (Michael Fetter Nathansky)
* SELBSTKRITIK EINES BÜRGERLICHEN HUNDES (Julian Radlmaier)
* SIEBZEHN (Monja Art)
* ZWISCHEN DEN JAHREN (Lars Henning)

Links: - Negative-Space-Preise, - Offene Wunde dt. Film

... comment