Sonntag, 1. September 2019
Venedig-Geheimtipp „Madre“

Hauptdarstellerin Marta Nieto | © Malvalanda / Caballo Films / Arcadia
Bei all dem „Joker“-Trubel und Polanski-Bashing sollte nicht vergessen werden, dass in der Nebenreihe Orizzonti mit „Madre“ einer der schönsten und aufwühlendsten Filme des Venedig-Festivals gelaufen ist.

Das Handy klingelt. Da ist der 6-jährige Sohn dran. Der weiß nicht, wo er ist. Hat sich im Urlaub verirrt. Wo sein Vater steckt, weiß er auch nicht. Nur, dass er an einem Strand ist, sein Telefon noch einen Akku-Balken hat und am Horizont ein fremder Mann erscheint, der langsam auf ihn zukommt. Das alles muss Elena (Marta Nieta) am anderen Ende der Leitung mit anhören. Sie ist die Mutter des Kleinen. Das gerade Beschriebene ist die Eröffnungssequenz von Rodrigo Sorogoyens Film „Madre“ – gedreht in einer langen atemlosen Einstellung. Der Madrilene feierte mit dem Film bei anhaltenden Standing-Ovations seine Weltpremiere in der Orizzonti-Reihe. Es ist einer der mir liebsten Filme dieses Venedig-Jahrgangs.

„Madre“ macht nach dem furiosen Beginn einen zeitlichen Schnitt. Nach und nach erfahren wir, was dieser Vorfall mit der Familie angestellt hat. Sorogoyen konzentriert sich dabei ganz auf Elena, die offenbar ein neues Leben begonnen hat. Den Vater gibt es nicht mehr, sie ist umgezogen, lebt jetzt in der Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien und arbeitet in einer kleinen Strandbar. Eines Tages trifft sie am Meer einen 16-Jährigen, der ihrem damalig verschwundenen Kind zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie lernen sich kennen – für ihn wird es das Abenteuer seines Lebens, für sie endlich eine Möglichkeit den alten Dämonen zu begegnen, die sie seit Jahren verdrängt.

Es ist vor allem die Machart, die „Madre“ so aus dem Filmangebot herausstechen lässt. Optisch ist es einfach ein wunderschöner Film. Viel ist mit Steadycam-Kameras gefilmt, die immer in Bewegung sind. Die Bilder haben eine dynamische Rundheit. Manchmal beginnt die Kamera auf einer Massenszene am Strand, zoomt immer weiter ins Bild, bis die Protagonistin Elena isoliert sichtbar wird. Die Kamerafahrten verstärken häufig die Emotionen der Handlung. Die paradiesische Urlaubsatmosphäre bildet den größtmöglichen Gegensatz zu Elenas innerem Zustand.
Das emotionale Band zum Zuschauer
Die harte Eröffnungssequenz legt den emotionalen Kern. Als Zuschauer will man verstehen, was dieses Unglück mit Elena angestellt hat. Mit jeder Szene offenbart das der Film langsam, aber stetig durch ihre Taten. Sie hat sich eine neue Identität und ein neues Leben gegeben, das sie aber nur halbherzig annimmt. Die Treffen mit dem 16-jährigen Jungen sind ambiguin geschildert. Worauf das Ganze hinauslaufen soll, weiß keiner der beiden. Nur, dass sie bald nicht mehr ohne einander können, wird klar. Das führt zu Konflikten mit der Familie des Jungen, weil sie nicht nachvollziehen können, was eine bildschöne Mitdreißigerin mit ihrem Kind will. Zumal sie im Feriendorf nur als die Verrückte bekannt ist. Zudem hat Elena einen aktuellen Partner, der von der Situation auch völlig überfordert ist.

Als Eltern das eigene Kind zu verlieren, gehört zu den härtesten Prüfungen, die das Leben aufbieten kann. Gerade, wenn ein Elternteil dafür so offensichtlich verantwortlich gemacht werden kann. Deshalb fühlt man als Zuschauer extrem für Elena, wünscht ihr, dass sie einen Ausweg aus dem Trauma findet. Gleichzeitig ist auch klar, dass eine Affäre mit einem ähnlich ausschauenden Bubi sie auch nicht weiterbringen wird, es aber zumindest ein erster Schritt aus der Lethargie wäre. Aber man ist bereit, mit ihr den Weg zu gehen, soweit sie gehen will und was sie auch entscheidet. Es ist diese innige Verbindung zum Zuschauer, die „Madre“ als Film so emotional befriedigend und auffühlend macht – gerade auch dank Marta Nieta sublimem Schauspiel. Es ist ein wirklich toll erzähltes Melodrama, dessen laue Sommernächte einem noch lange nachhängen.

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