Mittwoch, 15. Februar 2017
Berlinale 2017: Die portugiesische Wild Card "Colo"

© Alce Filmes
Das aufregende portugiesische Kino lebt. Teresa Villaverdes Film „Colo“ ist im Wettbewerb eine der positivsten Überraschungen. Unwahrscheinlich souverän erzählt die Portugiesin ganz ohne Pathos von der Last der Armut. Eine Filmkritik von Michael Müller

Wie stellt man im Kino Armut da? Die größte Qualität des portugiesischen Wettbewerbsbeitrags „Colo“ liegt wohl darin, dieses dumpfe, betäubende Gefühl der Verzweiflung auf eine bedrückende Weise ohne jegliches Pathos eingefangen zu haben.

Der Vater (João Pedro Vaz) legt sich, nachdem er mehrere Nächte umhergeirrt ist, auf sein Bett. Die Tochter bittet er, ihm eine gesalzene Tomate zu bringen. Es ist eine gigantische Tomate, wie man sie selten zu sehen bekommt. Der Vater isst sie nicht nur einfach, er saugt sich seinen verloren gegangenen Lebenssaft aus der Frucht. Er hat keine Ventile, um seinen Frust los zu werden. Jeden Tag bekommt er sein Scheitern erneut vor Augen geführt, weil kein Busgeld für die Tochter da ist, seine Frau weitere Jobs annehmen muss oder Kerzen angezündet werden, weil die Stromgesellschaft den Saft abgetreten hat.
Armut ist eine tödliche Krankheit
Das erzählt die Portugiesin Teresa Villaverde, die früh in ihrer Karriere Lorbeeren auf den wichtigsten Festivals der Welt einheimste, um dann von der Bildfläche zu verschwinden, ganz nebenbei in kleinen Gesten und fehlenden Selbstverständlichkeiten. Villaverde beschreibt vor allem feinfühlig und mit großem Respekt, indem sie der Familie Abstand zur Kamera gewährt. Sie verzichtet fast auf Großaufnahmen der Gesichter. Der Druck auf der Familie ist aber in jeder Szene zu spüren. Das funktioniert umso imposanter, weil anfangs möglich erscheint, dass der Vater an einer tödlichen Krankheit leidet. Weiter gedacht ist dem tatsächlich so.

Zwei Bilder haben sich auf ewig eingebrannt: Wie die Tochter (Shootingstar: Alice Albergaria Borges) mit ihrer Freundin in der Nacht am Ufer sitzt und die Kamera seitwärts vorbeifährt. Die Freundin hat der Tochter gestanden, dass sie schwanger ist. Im Gras teilen die beiden sich jetzt ein bisschen das Leid. Der andere Moment zeigt den Vater am Strand. Er hat mit dem Gedanken gespielt, einen Schulfreund mit einem Taschenmesser zu erpressen, weil dieser ihm keinen Job geben wollte. Nachdem der Schulfreund den Vater jedoch überwältigt hat und getürmt ist, zieht sich der Vater nackt aus und steigt in die Fluten. Selbstmord ist in dieser Wirklichkeit immer eine Option, mehr als eine Möglichkeit, sogar ein logischer Ausweg aus der Misere.
Aufregende Bildsprache
Was gibt es Schlimmeres für einen Vater, als seine Nutzlosigkeit für die Familie festzustellen. Er ist ein liebender Vater, den aber die scheinbar ausweglose Jobsituation zu Boden drückt. Einmal sitzt er in der Badewanne. Mit einem schmutzigen Eimer schüttet er sich das Badewasser über den Kopf. Er lässt den Eimer auf dem Kopf, als ob er sich vor der Welt verstecken will. Seine Tochter platzt ins Bad. Der Vater ist peinlich berührt und entschuldigt sich umgehend. Die Tochter sagt, es sei doch nichts passiert.

Villaverdes „Colo“ besitzt eine aufregende Bildsprache, steigert seine Intensität von Szene für Szene. Ein schleichendes Grauen erfasst den Zuschauer in den lang ausgespielten Szenerien von atemberaubender visueller Schönheit. "Colo" ist gleichzeitig noch ein Coming-of-Age-Film und ein Länderporträt der wirtschaftlich angeschlagenen Region. Es sind dem Film Preise zu wünschen.

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