Dienstag, 21. Februar 2017
Berlinale-Wettbewerb 2017: Eine Handvoll berauschender Filme

"On Body and Soul" © Internationale Filmfestspiele Berlin
Auf den diesjährigen Berlinale-Wettbewerb wurde viel eingeprügelt. Nicht nur, weil der Clooney Schorsch Urlaub hatte und sich Hollywood rar machte, sondern auch, weil die qualitative Dichte fehlte. Bei genauerer Betrachtung gab es jedoch mehr als eine Handvoll besonderer Filmerfahrungen zu entdecken. Ein Fazit von Michael Müller

Mária (Alexandra Borbély) sitzt in der Badewanne. Aus ihrem CD-Player ertönt der melancholische Song „What He Wrote“ von der britischen Folk-Sängerin Laura Marling. Den ganzen Tag hat sie im Plattenladen verbracht, hat sich CD um CD angehört. Aber nichts gefiel ihr. Mária kann nichts mit Musik anfangen – das Leben ist ihr generell fremd. „What He Wrote“ nahm sie nur mit, weil es der Lieblingssong der Verkäuferin ist, die endlich den Laden schließen will.

Im Berliner Friedrichstadtpalast ist das am Sonntag, dem abschließenden Besuchertag zum halben Eintrittspreis, der Moment, bei dem gleich zwei Zuschauer kollabieren. Als der erste auf einer Liege herausgetragen wird, gibt es bereits den nächsten Schrei. Dieses Mal ist es eine junge Frau, der schwindelig geworden ist. An der Hand wird sie herausgeführt. Der Umstand, dass diese beiden Zusammenbrüche mit dem Gewinner des Goldenen Bären, dem ungarischen Spielfilm „On Body and Soul“, zu tun haben, ist nicht gewiss, aber angesichts der Intensität der lang ausgespielten Szene in der Badewanne auf der Leinwand naheliegend. Die bizarre Liebesbeziehung zwischen den beiden Mitarbeitern eines Schlachtbetriebs, die sich über ihre Träume kennenlernen, geht an die Nieren.

Der Legende nach soll der amerikanische Regisseur Steven Spielberg zu seinem Produzenten gesagt haben, als ihm dieser vom Herzinfarkt eines Zuschauers in einem Test Screening von „Der weiße Hai“ erzählte: „Sehr gut! Das bedeutet, der Film funktioniert.“ Auch über Quentin Tarantino und „Reservoir Dogs“ kursieren ähnliche zynische Anekdoten.

"Colo" © Alce Filmes
Was zeichnet einen schwachen Wettbewerb aus?
Unter dem Dach des Friedrichstadtpalastes in der Loge rang ich mit meinen Gefühlen, fragte mich, wo ich nach diesen beiden Unglücksfällen, die mehr oder weniger schnell durch die herbei geeilten Rettungskräfte unter Kontrolle gebracht schienen, mit meiner Energie hin sollte. Bis dahin war nämlich Ildikó Enyedis Film einer der besten des Berlinale-Wettbewerbs gewesen. Die abscheulich schöne, Herzen zerquetschende Badewannenszene, deren traurige Qualität fast nicht auszuhalten ist, hob „On Body and Soul“ noch in eine höhere Sphäre, die der Film auch in seinen letzten Minuten bewahrt. Hätte ich diesen Film am Anfang des Festivals gesehen, wie es von Festivalchef Dieter Kosslick geplant war, und nicht erst am allerletzten Tag der Berliner Festspiele: Mein Eindruck des viel gescholtenen Wettbewerbs wäre ein anderer gewesen.

Die Urteile zum Herzstück der Berlinale, den 24 internationalen Filmen im Wettbewerb, fielen recht vernichtend aus. Wiedermal wurden Rufe nach dem Rücktritt des Festivalchefs laut, der vor kurzem erst seinen Vertrag für weitere drei Jahre bis 2019 verlängert hatte. War das wirklich ein schlechter Wettbewerb? Oder war der Wettbewerb nur schwächer als im vergangenen Jahr? Wie viele Filme braucht es, um von einem guten Jahrgang zu sprechen? Ich glaube, der Filmjahrgang 2017 hatte wieder eine gute Handvoll bemerkenswerter Wettbewerbsfilme zu bieten. Was den Gesamteindruck aber runterzog, war die Masse von Wettbewerbsbeiträgen, die wenig bis gar nicht funktionierten.

"Ana mon amour" © Internationale Filmfestspiele Berlin
Der starke Rumäne kam zu spät
Jedes A-Festival, selbst der Wettbewerb in Cannes, hätte sich glücklich geschätzt, ein Werk wie Aki Kaurismäkis „The Other Side of Hope“ in seinem Programm zu haben. So war auch Kaurismäkis halbernsthafter Protest über den Silbernen Bären für die beste Regie, den er dadurch ausdrückte, dass er für die Dankesrede seinen Platz nicht verlassen wollte und den Bären als Mikrofonattrappe verwendete, mehr als nachvollziehbar. Seine Flüchtlingskomödie schafft den unendlich schweren Spagat zwischen Unterhaltung und Anspruch. Mit solch einer Leichtigkeit von solch einem schweren Thema zu erzählen, ist eine große Kunst.

Călin Peter Netzers rumänisches Beziehungsdrama „Ana, mon amour“, das auf Ingmar Bergmans Spuren wandelt, griff erst verspätet, einen Tag vor der Preisverleihung, in den Wettbewerb ein. Zahlreiche der internationalen Kritiker sahen die elegant elliptische Erzählstruktur, die im Leben eines Studentenpärchen gekonnt vor und zurück springt, gar nicht mehr. „Ana, mon amour“ ist einer der stärksten Filme des Jahrgangs, der von Aufopferung für eine Beziehung erzählt, von psychischer Krankheit und krankhafter Eifersucht, bei dem die Beichte eine so große Rolle spielt wie die Psychoanalyse. Das ist ein aufregender Film, bei dem die Schauspieler an ihre körperlichen Grenzen gehen, wo klar wird, dass es in diesem rumänischen Mikrokosmos zwischen tief religiösen Eltern, Kindheitstraumata und Haarausfall um das große Ganze geht.

Auch ein Coming-of-Age-Film: "Colo" © Alce Filmes
Bitteres Schlachtfest "Logan"
Dazu gesellte sich ein unscheinbarer Film wie der portugiesische Wettbewerbsbeitrag „Colo“. In seiner Langsamkeit und Kontemplation hat er die meisten Kritiker und Zuschauer entnervt zurückgelassen. Aber Teresa Villaverde hat genauer hingeschaut, hat die Armut in einer kleinen Familie so subtil und erdrückend geschildert, dass der Zustand beinahe ein eigener Charakter im Film wird. „Colo“ ist ein Film der Widerstände, die ich mir in einem internationalen Wettbewerb wünsche; bei dem ich anfangs gegen die eigene Müdigkeit kämpfen musste, bei dem ich mich aber bei den sensiblen Einstellungen und teils atemberaubenden Bildkompositionen in ganz sicheren Hände fühlte. „Colo“ ist ein Werk, das bleiben wird.

Nehme ich zu „On Body and Soul“, „The Other Side of Hope“, „Ana, mon amour“ und „Colo“ noch den exzellenten chilenischen Wettbewerbsbeitrag „A Fantastic Woman“ und Alain Gomis‘ stark nachbrennenden „Félicité“ hinzu, sind das sechs großartige Werke, die ich jeder Zeit einem Cineasten mit Geschmack empfehlen könnte; Filme, die bereichern, die Lust auf internationales Kino machen, herausfordern und eigene Wege begehen. Noch gar nicht erwähnt habe ich in diesem Zusammenhang James Mangolds bitteres Schlachtfest „Logan“, einen „X-Men“-Blockbuster, der endlich wieder unter die Haut geht und berührt.

Ich will hier keine Schönfärberei betreiben: Bei dem spanischen Wettbewerbsbeitrag „El Bar“ habe ich mich zum Beispiel gefragt, warum der Thriller, der unter einem Haufen Unsympathen in einer Bar spielt, nicht besser auf den hinteren Seiten des Fantasy Filmfest-Programmheftes gelandet ist. Bei dem brasilianischen Wettbewerbsbeitrag „Joaquim“, der mit einer famosen Eröffnungsszene beginnt, in der ein aufgespießter Kopf die Geschichte erzählt, schwebte die Frage im Raum, warum das Filmteam ein halbfertiges Werk präsentierte, was mit bescheidenen Stilmitteln sehr wenig zu sagen hatte.

"A Fantastic Woman" © Internationale Filmfestspiele Berlin
Vergesst nicht Wolf Donner!
Der Auftragskillerfilm „Mr. Long“ ist netter Kitsch, der dann und wann funktioniert, aber niemals eine über zweistündige Laufzeit rechtfertigt. Von Agnieszka Hollands Öko-Thriller „Pokot“ mit dem dämlichsten Schwarzweiß-Figurenschema seit Ewigkeiten – da die guten Tierschützer, dort die diabolischen Jäger – und einer Miss Marple in der Hauptrolle mit nervigem Astrologie-Tick will ich gar nicht erst anfangen. Dagegen könnte man aber auch sofort Hong Sangsoos Ennui-Meditation „On the Beach at Night Alone“ oder Josef Haders „Wilde Maus“ anführen, die wiederum durchaus Spaß gemacht haben.

Von allen Seiten wird an Dieter Kosslicks Stuhl gesägt. Gegenwind ist auch nicht die schlechteste Witterungsbedingung, um wach und aggressiv zu bleiben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur gerne an den Zeit-Kritiker Wolf Donner, der im Jahr 1976 die Leitung der Berlinale von Alfred Bauer übernahm und nach drei Jahren völlig ausgebrannt und überfordert das Handtuch schmiss. Donner verfrachtete mit den besten Hintergedanken das Festival aus dem Sommer in den bitterkalten Februar. Ich sage nur: Dieser Berlinale-Wettbewerbsjahrgang, bei dem ich nicht wie Kritiker der Tageszeitungen pflichtschuldig alles sehen und ertragen musste (z. B. „The Midwife“, „Viceroy’s House“), war kein schlechter. Er war nicht berauschend, er war in der Dichte nicht so stark wie das vorherige Jahr. Auch besitzt er nicht das eine herausragende Meisterwerk. Aber er hat bei einem genaueren Blick teils berauschendes Kino geboten.

Sieben Wettbewerbs-Empfehlungen (alphabetisch)

* ANA, MON AMOUR (Călin Peter Netzer)
* COLO (Teresa Villaverde)
* A FANTASTIC WOMAN (Sebastián Lelio)
* FÉLICITÉ (Alain Gomis)
* LOGAN (James Mangold)
* ON BODY AND SOUL (Ildikó Enyedi)
* THE OTHER SIDE OF HOPE (Aki Kaurismäki)

Links: - Negative-Space-Preise, - Perspektive-Hits

... comment