Samstag, 11. August 2018
NSU-Film „Wintermärchen“ kontrovers in Locarno aufgenommen

Lars Eidinger (l.) in „Wintermärchen“ | © Heimatfilm
Bei Jan Bonnys neuem Film „Wintermärchen“ gehen die Meinungen im Wettbewerb von Locarno weit auseinander. Egal, ob negativ oder positiv – die Texte klingen nach einem spannenden Werk über die rechtsradikale Terrorzelle NSU.

Jan Bonnys Film „Wintermärchen“ ist der enzige deutsche Beitrag im internationalen Wettbewerb von Locarno. Er feierte seine Weltpremiere am Freitag, einen Tag, bevor das Festival zuende geht. Ein bisschen schade, könnte man denken, weil die spät gezeigten Werke auf Festivals nicht mehr das ganze Rampenlicht abbekommen. „Es gab keine Möglichkeit, den Film früher zu programmieren“, sagt Festivalchef Carlo Chatrian auf Twitter: „Der Regisseur musste sich beeilen, um ihn rechtzeitig für Locarno fertigzubekommen.“ Das mit heißer Nadel fertiggestrickte „Wintermärchen“ sorgt aber trotz des Termins für Aufregung.

Im Film geht es um Becky, Tommi und Maik, die eine rechtsradikale Terrorzelle gründen. In den Untergrund abgetaucht träumen sie von deutschlandweiter Bekanntheit. Es entspinnt sich eine komplexe Beziehung aus Liebe, Hass und Freundschaft, die zu Zerstörung und einer Serie von Gewaltverbrechen führt. Die Hauptrollen spielen Thomas Schubert, Ricarda Seifried und Jean-Luc Bubert. Regisseur Christian Schwochow („Bad Banks“) drehte über die gleiche Thematik im Jahr 2016 „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ als Teil der NSU-Trilogie der ARD. Fatih Akin widmete sich dem Thema im vergangenen Jahr mit seinem Golden Globe prämierten Film „Aus dem Nichts“.
„Ein unbedingt hässlicher Film“
Von großem Lob bis zum totalen Verriss ist unter den ersten Reaktionen zu „Wintermärchen“ in Locarno alles dabei. Das ist dann immer der seltene Fall, dass deutschsprachige Publikationen schneller arbeiten als die Trade Press. Hannah Pilarczyk schreibt zum Beispiel bei Spiegel Online, dass gegen Jan Bonnys neuen Film sogar der dauergefeierte argentinische 14-Stünder „La Flor“ verblasst: „Wintermärchen ist ein unbedingt hässlicher Film, ein grenzenlos hässlicher Film.“ Das meint die Kulturredakteurin als Kompliment. Ähnlich begeistert ist Frédéric Jaeger auf critic.de: „Mit brutaler Klarheit und faszinierender Lebhaftigkeit setzt uns Bonny diesem Gefüge aus, wirft uns in die banale Intimität der Gestörten.“

Kritischer betrachtet den Film die Schweizer Presse. Michael Sennhauser vom SRF schreibt zum Beispiel: „Mit der plakativen, pornografischen Reduktion erinnert Jan Bonnys Film an die schlechteren Fassbinder-Epigonen, auch wenn der Irrsinn der emotionalen Unlogik hin und wieder schlagend gefasst wird.“ Für ihn leistet das Werk inhaltlich nicht viel mehr, als das, was der Ärzte-Song „Schrei nach Liebe“ bereits 1993 getan hat. Noch härter ins Gericht geht mit „Wintermärchen“ die NZZ-Kritikerin Denise Bucher auf Twitter: „Wintermärchen ist der Tiefpunkt im Wettbewerb des Festival von Locarno. Das Drama dient dem Regisseur als Mittel, um sich selbst als Provokateur zu inszenieren. Die Auseinandersetzung mit Rassismus bleibt bloße Behauptung.“

Zusammenfassend lässt sich festhalten: „Wintermärchen“ von Jan Bonny hat die Kritiker nicht kalt gelassen. Gegensätzliche, leidenschaftlich vertretene Ansichten zu einem Film machen diesen letztlich nur interessanter. Bonnys TV-Film „Über Barbarossaplatz“ war bereits äußerst faszinierend gelungen. Die Weltvertriebsrechte an „Wintermärchen“ hat sich The Match Factory gesichert. Produziert wurde der Film von Bettina Brokemper von Heimatfilm („Wild“, „The House That Jack Built“). Der amerikanische Regisseur Sean Baker („The Florida Project“), der in der Jury für den Locarno-Wettbewerb saß, schreibt über „Wintermärchen“ bei Letterboxd: „Starke Regie, Schauspielleistungen und Kamera. Ich hoffe, dass der Film einen Verleih bekommt, weil er definitiv Diskussionen hervorrufen wird.“

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