Sonntag, 12. Februar 2017
Berlinale 2017: "Tiger Girl" – Ein Film wie eine Naturgewalt

© 2017 Constantin Film Verleih GmbH / Fogma
Der erste richtige Einschlag der Berlinale war der deutsche Film "Tiger Girl" von Jakob Lass. Dagegen sah der Wettbewerb der ersten Tage eher blass aus. Eine Filmkritik von Michael Müller

Der stellvertretende Chefredakteur von Blickpunkt:Film, Thomas Schultze, hat seine Hintergrundgeschichte zu „Tiger Girl“ in der Berlinale-Ausgabe mit der Überschrift „Martial Arthouse“ betitelt. Das ist gar nicht verkehrt, obwohl es aus dem Presseheft stammt. Es ist ein interessantes Synonym für den neuen Jakob-Lass-Film „Tiger Girl“. Der walzt in seinem Unterhaltungslevel und seiner technischen Virtuosität über die Zuschauer wie eine Naturgewalt: „Tiger Girl“ ist energetisch, sexy, roh und voller Lebenslust.

Lass hat nach seinem Debütfilm „Love Steaks“ den nächsten Schritt gemacht, wobei es fast mehr ein eleganter Sprung ist. Er hat sich bei seiner Geschichte um zwei junge Berliner Damen, die gegen die Konventionen und die Obrigkeit rebellieren, aus der German-Mumblecore-Ecke katapultiert. „Tiger Girl“ befindet sich jetzt in einem Zwischenraum, den es in Deutschland eigentlich gar nicht gibt, nämlich im cineastisch berauschenden Mainstream. Das heißt nicht, dass das von Constantin Film produzierte Werk ein garantierter Hit wird. Dass er es aber verdient hätte, von einer größeren Öffentlichkeit gefeiert zu werden, steht außer Frage.
Verdient sich seine Italowestern-Momente
Vanilla (Maria Dragus) ist viel zu lieb. Sie widersetzt sich nie, weicht immer allen Konflikten aus. Als sie bei der Polizeiaufnahmeprüfung scheitert, versucht sie es zur Überbrückung mit einer Ausbildung zur Sicherheitskraft. Aus ihrem höflichen Dornröschenschlaf weckt sie Tiger (Ella Rumpf) auf. Die überlebt so mehr oder weniger auf der Straße – auch wenn sie ein stilechtes Wohnmobil hat –, indem sie das System anarchisch unterwandert. Einmal erklärt sie zum Beispiel einen Schrankenautomaten eines Parkplatzes für außer Betrieb und kassiert kurzerhand so die Parkgebühren. Tiger ist eine Mischung aus Punk, Pippi Langstrumpf und Tyler Durden.

„Tiger Girl“ ist aber eben nicht wieder ein dreister, zwanzig Jahre zu spät kommender deutscher „Fight Club“-Klon, sondern er lässt an ganz andere Vergleiche denken: Walter Hills „The Warriors“, „Hitcher – Der Highway-Killer“, manchmal sogar „Uhrwerk Orange“, vor allem in den atemberaubenden, pointierten Zeitlupenstudien. Wenn die beiden Mädels durch die Straßen Berlins ziehen, Passanten aufmischen und die Kamera auch mal den auf dem Kopf stehenden Blickwinkel eines Baseballschlägers einnimmt, dann sind das vor allem auch visuelle Qualitäten, die den Vergleich zulassen. Es spricht für das Genregespür des Regisseurs Lass, dass es zwei waschechte Italowestern-Momente im Film gibt, es aber kein schlichtes Zitate-Kino ist. Die Figuren, die Situationen und die Könnerschaft hinter der Kamera füllen diese Bilderschule mit neuem Leben.
Hauptmann von Köpenick des 21. Jahrhunderts
Der Film zelebriert die Anarchie nicht nur, mit der Tiger Vanilla ansteckt. Er setzt sich auch kritisch mit ihr auseinander, zeigt neben den spaßigen Seiten des Regelbrechens auch die zerstörerische Kraft, die – wie ein entfesselter Golem – nicht mehr eingefangen werden kann. Lass zerlegt die anarchische Grundhaltung von Tiger in seine destruktiven Bestandteile. Zumal Gewalt hier auch dank der epochalen, Eastern-verdächtigen Soundeffekte brutal weh tut. Aber natürlich rüttelt der Film auch an der Obrigkeitshörigkeit der Deutschen, dem Fetisch für Uniformen. Ein "Hauptmann von Köpenick" des 21. Jahrhunderts.

Es gibt mehrere Realitätsebenen: Der Film hat die Abenteuer der beiden Protagonistinnen, die lange von der Realität geschont werden. Hier schwebt und fliegt die Kamera, da pumpen Hip-Hop-Songs die Atmosphäre auf. Gleichzeitig erzählt der Film auch den tristen Alltag in der Sicherheitsschulung mit viel Humor und vor allem einem Ausbilder (Orce Feldschau), der für diese Rolle geboren wurde. Es ist dieser Wechsel aus Hyperrealität und beinahe dokumentarischer Genauigkeit, der den Reiz von „Tiger Girl“ ausmacht.

Beide Hauptdarstellerinnen sind Glücksgriffe. Ella ‚Tiger’ Rumpf besitzt eine unbezahlbare Qualität für das Sprechen deutscher Dialoge: Sie improvisiert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Das klingt alles echt, roh, aber nicht ohne eine gewisse Poesie und nach viel Sprachrhythmus. Vor allem sind die Gedanken nicht ohne eigene Moral. Aber genau so sollte sich deutsches Genrekino im besten Fall immer anfühlen: frisch, lebendig und frei.

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