Mittwoch, 13. Februar 2019
Bitte mehr Genrewerke wie „Monos“ und „Jessica Forever“, Carlo Chatrian!

„Monos“: ein kolumbianischer Herr der Fliegen | © Berlinale 2019
Wenn der neue künstlerische Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, 2020 antritt, sollte er rauschhafte Genrefilme wie den kolumbianischen Thriller „Monos“ und den französischen Endzeitfilm „Jessica Forever“ fördern. Sie sind zwei der besten Filme dieses Jahrgangs.

Werke wie den kolumbianischen Action-Thriller „Monos“ und den französische Endzeitfilm „Jessica Forever“ wünscht sich Negative Space in der Berlinale-Ära unter dem neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian ab kommendem Jahr häufiger. Beides sind rauschhafte Genrewerke – aber jeweils mit einer sehr persönlichen Handschrift der Filmemacher und präzise in ihren Beobachtungen zur Gesellschaft.

„Monos“ erzählt von einer paramilitärischen Guerilla-Einheit im kolumbianischen Dschungel. Eine Handvoll Jugendlicher trainiert für den Ernstfall und hält eine entführte Ärztin gefangen. Sie soll Lösegeld für die Organisation bringen. Schnell eskaliert aber die Situation. Hierarchien werden in Frage gestellt und der Ärztin gelingt die Flucht. So weit, so unspektakulär. Der neue Regie-Shootingstar Alejandro Landes, der den akribischen Wahnsinn eines Werner Herzog mit der technischen Perfektion eines jungen James Cameron vereint, hat daraus aber ein abgründiges „Herr der Fliegen“-Inferno gemacht.

Ein rauschhafter Rutsch ins Herz der Finsternis | © Berlinale 2019
Landes offenbart eine vom jahrzehntelangen Krieg gezeichnete kolumbianische Gesellschaft, in der die Kinder sehr schnell erwachsen werden müssen. Vom Drill und Militarismus gekennzeichnet, wird Zwischenmenschlichkeit als Schwäche ausgelegt. Fehler werden hart bestraft – am härtesten von der Person selbst, die den Fehler begangen hat. Die Muskeln sind gestählt, der Abzug sitzt locker. Die gefangene Ärztin wird von der Gruppe nur als austauschbare Ware angesehen. Und trotz dieser Härte gelingt es Landes, der sein „Herz der Finsternis“ mit wahnsinnigem Aufwand mitten im Dschungel gedreht hat, Interesse für jede seiner Figuren zu wecken. Als Zuschauer will man mehr über Rambo, Lady, Bum Bum und Smurf wissen, ihnen auf dem steinigen Weg in das Chaos folgen.

Das Entgleiten der Situation ist in so abenteuerlichen und fantastischen Bildern eingefangen, dass es einem teils den Atem raubt. Schönheit und Horror liegen hier nahe beieinander. Noch nie hat man man wahrscheinlich so authentisch gesehen, wie ein Mensch bei lebendigem Leibe fast von Mosquitos aufgefressen wurde. Umso länger „Monos“ geht, umso deutlicher wird, dass der kolumbianische Regisseur in diesem perfekten Adrenalinrausch nicht nur eine Visitenkarte für Hollywood abgegeben hat. Mit dem ungeschönten Blick auf sein Land und einer weltweiten Entwicklung zur Aufrüstung hin empfiehlt er sich, der nächste Denis Villeneuve zu werden.

„Jessica Forever“ | © Ecce films – ARTE France Cinéma
Mit tiefer Melancholie den Untergang zelebriert
Auch in dem französischen Endzeitfilm „Jessica Forever“ geht es um das Bild von Männlichkeit und um dessen Wandel in einer sich immer schneller drehenden Welt. Die titelgebende Jessica (Entdeckung: Aomi Muyock) ist die amazonengleiche Anführerin einer Gruppe männlicher Waisen, die in einer postapokalyptischen Welt überleben. Der Gegner ist unbekannt. Gesichtslose Drohnen vollführen regelmäßige Angriffe auf die Truppe. Wie in „Monos“ sind die Männer im Fitnessstudio gestählt und Meister an der Waffe. Ihnen fehlen aber die Worte, um sich auszudrücken. Umso länger man ihnen in ihrem Kampf zuschaut, umso verlorener wirken sie. Die Gruppe rettet sich vor den Drohnen in eine abgelegene Villa. Doch plötzlich tauchen überall Menschen auf.

Die beiden Filmemacher Jonathan Vinel und Caroline Poggi zeichnen eine postapokalyptische Welt, die vollkommen in die Realität integriert ist. Die Endzeit hat, wenn man der Lesart des Films folgt, für diesen grobschlächtigen und testosterongesteuerten Typ Mann begonnen. Tatsächlich ist die Schlacht bereits entschieden. Die Protagonisten wissen es nur noch nicht. Mit einem fantastischem Elektro-Score, süchtig machenden Bildern und einer tiefen liebevollen Melancholie zelebriert „Jessica Forever“ diesen Untergang. Der Film arbeitet kontinuierlich gegen die Erwartungen an. Nicht die Action oder der Thrill stehen im Mittelpunkt, sondern Poesie und Außenseitertum.
Jessica (Aomi Muyock) führt| © Ecce films – ARTE France Cinéma
„Monos“ und „Jessica Forever“ ragen im diesjährigen Berlinale-Jahrgang heraus. Es ist nur schade, dass man sie unter Hunderten von Filmen mit der Lupe suchen muss. Negative Space erhofft sich von Carlo Chatrian ab 2020 viel mehr solcher Kandidaten. Wenn der Italiener die 70. Jubiläumsausgabe des wichtigsten deutschen Filmfestivals zusammenstellen wird, soll er laut des Branchenblatts Variety ein Großteil seines alten Locarno-Teams mit sich bringen. Darunter ist auch der kanadische Filmkritiker und Herausgeber des Filmmagazins Cinema Scope Mark Peranson. Das klingt verheißungsvoll.

Genauso sinnvoll erscheint die terminliche Verlegung, so dass die nächste Berlinale vom 20. Februar bis zum 1. März stattfindet. Sie geht damit den vorverlegten Oscars aus dem Weg. Es könnte dem Festival bei der Profilschärfung helfen. Und deutlich wärmer dürfte es zu der Zeit auch schon in Deutschland sein.

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