Montag, 6. August 2018
Locarno 2018: „Sophia Antipolis“ (Virgil Vernier)

Lilith Grasmug in „Sophia Antipolis“| © Kazak Productions
Der französische Regie-Geheimtipp Virgil Vernier hat endlich einen neuen Film herausgebracht. Auf dem Filmfestival von Locarno erzählt er in „Sophia Antipolis“ poetisch-melancholisch vom Schicksal eines ermordeten Mädchens.

Beim Regisseur Virgil Vernier („Mercuriales“) stehen oft junge Frauen im Mittelpunkt des Geschehens. Gleichzeitig sind seine Werke melancholische, sehnsuchtsvolle Zustandsbeschreibungen einer französischen Gesellschaft, die sich in den Protagonisten spiegelt. In Verniers neuem Film „Sophia Antipolis“, der am 3. August seine Weltpremiere in Locarno gefeiert hat, ist die junge Frau, um die es geht, bereits tot. Ihre Leiche konnten die Polizisten in einem Bürogebäude des Technologieparks in der Nähe von Nizza nicht mal mehr auf die genaue Todesursache untersuchen. Denn es war nur verbrannte Asche zurückgeblieben.

In kreisförmigen, nicht sofort nachvollziehbaren Erzählbewegungen nähert sich Vernier dem Schicksal des Mädchens: Zuerst zeigt er scheinbar dokumentarische Aufnahmen von Frauen, denen ein Schönheitschirurg umgehend die Brüste vergrößern lassen soll. Denn die Ermordete, die den Namen Sophia trägt, war auch an solch einer Operation interessiert. In einer anderen Episode begegnet der Zuschauer einer mit 19 Jahren nach Frankreich ausgewanderten Vietnamesin. Über eine Beziehungsvermittlung geriet sie an einen deutlich älteren, gut situierten Freund, der aber verstarb. Jetzt thront sie in dem von ihm vererbten Apartment über der Stadt. Ihr leeres Leben beginnt sich zu füllen, als sie bei einer Art Sekte mitmacht, die das Ende der Welt voraussagt. Einen der schönsten Tage hat sie, als sie mit einem Gemeindemitglied von Tür zu Tür geht, fortwährend abgewiesen wird und am Abend gemeinsam ein Eis am Strand isst.
Aus Träumen wurden echte Alpträume
Vernier zeichnet diese Mini-Porträts pointiert, gibt uns kurze Schlaglichter auf das trübe Leben in diesem Ort, der mit seinem malerischen Strand und den zahlreichen Industriefirmen einmal als leuchtendes Beispiel des technischen Fortschritts gedacht war. Hier werden aus Träumen noch echte Alpträume.

Für den Zuschauer gibt es immer wieder kleine Hinweisbrocken zum möglichen Schicksal des toten Mädchens über die Biografien der Menschen, die auch im Technikpark Sophia Antipolis leben. Dabei ist es angenehmerweise immer recht schwer zu unterscheiden, was davon gespielt (wohl das meiste) oder in einem günstigen Moment aufgenommen wurde. Es gibt zum Beispiel eine bizarr faszinierende Präsentation von Schwerterkopien aus „Der Herr der Ringe“, die allein schon das Eintrittsgeld wert ist. Auch nimmt der Film den Zuschauer mit in eine Clique von gestählten Sicherheitsbeamten, die sich zu einer rücksichtslosen Bürgerwehr aufschwingen.

„Sophia Antipolis“ hat als Film einen starken Nachhall. In seinen Atmosphären und Bildern sagt er mehr über die Menschen und ihre emotionale Verfassung aus, als sie es in Dialogen selbst ausdrücken könnten. Seine Stimmungen sind so zerbrechlich wie seine Figuren. Das galt schon für den vor vier Jahren herausgekommenen „Mercuriales“, der von zwei Rezeptionistinnen in einem Pariser Vorort erzählte. Verniers Filme funktionieren eher wie Gedichte – wunderschöne, sehr sinnliche, zutiefst traurige Gedichte über das Scheitern des Menschen in der modernen Gesellschaft. Glück flackert hier immer nur ganz kurz auf und erlischt umso gnadenloser.

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