Dienstag, 14. Februar 2017
Berlinale 2017: Der besondere Film "Pieles"

© Internationale Filmfestspiele Berlin
Erst war das Berlinale-Publikum in Schockstarre, am Ende jubelte es dem jungen Spanier Eduardo Casanova zu. Sein außergewöhnlicher Debütfilm "Pieles" geht an Geschmacks- und Schmerzgrenzen. Ist das Voyeurismus oder Kunst? Eine Filmkritik von Michael Müller

Auf der Bühne steht Eduardo Casanova. Der 25-jährige Spanier mit den wasserstoffblond gefärbten Haaren hat am Tag zuvor die Weltpremiere seines Films „Pieles“ auf der Berlinale gefeiert. Er trage deswegen heute ein Justin-Timberlake-Shirt, weil er einen Hangover habe. Das Publikum lacht. Casanova spricht kein Englisch, aber viele im Publikum verstehen Spanisch. Dann macht die Übersetzerin ihren Job und Casanova kassiert nochmal Lacher der Zuschauer. Der Nachwuchsregisseur hat unverkennbar auch Alleinunterhalter-Qualitäten. In so jungen Jahren schon so souverän auf der großen Bühne zu agieren, beeindruckt. Und es macht skeptisch, wie ernst und aufrichtig er seinen Film meint.

Denn „Pieles“, was übersetzt „Häute“ bedeutet, ist harter Tobak. Das ist ganz sicher kein Film, der für jeden gemacht ist. Die Frage müsste sogar lauten, für welches Publikum er überhaupt gedacht ist. Eine Warnung für Zartbesaitete sei hier schon ausgesprochen. „Pieles“ ist ein besonderer Film. Er zeigt zum Beispiel ein Mädchen, bei der anatomisch etwas verkehrt herum ist. Anus und Mund sind vertauscht. Regisseur Casanova flunkert nach der Vorführung, dass er sich diese Erkrankung bei einer Tüte Gras ausgedacht habe. Wahrscheinlicher ist es, dass er die Idee bei der Zeichentrickserie „South Park“ geklaut hat. Auch das ist legitim.

Wenn das Mädchen gegen den Willen ihres Vaters in ein Cafe geht, nimmt sie für die Suppe einen Schlauch und einen Trichter mit. Ihr Vater schenkt dem Mädchen zum Geburtstag eine Einhornmaske für das gesamte Gesicht, die sie fortwährend auf der Straßen tragen soll. Wenn sie denn schon unbedingt rausgehen müsste ...
Ohne Beine, ohne Augen
Aber in Casanovas Episodenfilm sammeln sich verschiedene Besonderheiten: Etwa ein junger Mann, der davon träumt, sich die Beine abzuschneiden und eine Meerjungfrau zu werden. Es gibt eine Prostituierte, die weder Augen noch Augenhöhlen besitzt und sich anstelle dessen kleine Diamanten ins Gesicht setzt. Zu ihr trauen sich nur die absoluten Härtefälle mit den absonderlichsten sexuellen Vorlieben.

Es wird schon in der ersten Szene eines Pädophilen bei einer Puffmutter klar: Das ist ein Film, der keine Gefangene macht, der provozieren, wehtun, vielleicht sogar aufrütteln will. Das ist nicht Tod Brownings Horrorklassiker „Freaks“, bei dem tatsächliche Menschen mit körperlichen Besonderheiten wie etwa die Frau ohne Unterleib oder die „Nadelköpfe“ am Tisch sitzen und „One of Us“ intonieren.

Aber ehrlich gesagt geht „Pieles“ zumindest in diese Richtung, auch wenn viel mit Masken und Prothesen gearbeitet wurde. Es gibt zum Beispiel auch eine übergewichtige Dame, Kleinwüchsige und andere Menschen, die nicht dem klassischen Schönheitsideal der Filmindustrie entsprechen. Aber das Herz und die Sensibilität von Eduardo Casanova liegen näher beim frühen Todd Solondz, besonders bei seinem ultraharten Meisterwerk „Happiness“.
Mit Udo Jürgens ins Herz geschossen
Am Anfang und am Ende des Films erklingt die spanische Cover-Version von Udo Jürgens’ Schlager-Klassiker „Was ich dir sagen will“. Die Outfits der Darsteller und das Set-Design sind in Rosa und Violett gehalten. In bizarren Zeitlupenstudien flattert ein Penis und spanische Flaggen im Wind. Nur ist sofort klar: Casanova übt in seinem Debütfilm nicht, wie es der Kanadier Xavier Dolan seit einigen Jahren in den internationalen Wettbewerben tun darf. Es ist ein Frontalangriff auf unsere genormte Leistungsgesellschaft, eine beißende Kritik an der Geschmacksdikatur von immer utopischeren Schönheitsidealen. Das Ganze ist schmerzhaft komisch und eine emotionale Achterbahnfahrt, die nichts ausspart.

Die Grenzen von Gut und Böse sind in „Pieles“ aufgehoben. Ein Protagonist hat zum Beispiel ein Faible für deformierte Menschen. Seine Freundin, deren Gesichtshaut verschoben ist, macht mit ihm Schluss, weil er nicht sie, sondern nur ihre Hauterkrankung sexuell attraktiv findet. So bekommt die Floskel, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, auch ganz neue Facetten.

Das Erstaunliche an „Pieles“ ist, dass trotz der schrillen Inszenierung (hier bitte die Pedro-Almodóvar-Reminiszenzen einfügen) viele der Figuren funktionieren, man als Zuschauer mit ihnen leidet und fühlt und letztlich sogar das Gefühl entsteht, der Film hätte zu einem profunderen Umgang mit menschlichen Körpern beigetragen.

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