Dienstag, 25. August 2015
„Dogtooth“ mit Knödeln und Fips Asmussen

© Kataskop Film & GFF KG
Die aufregende, erfrischend andere deutsche Genreperle „Der Bunker“ geht auf Welttournee; nächstes Jahr auch in den deutschen Kinos. Eine Filmkritik von Michael Müller

Was tut sich im deutschen Film? Genau so heißt eine langlebige Veranstaltungsreihe im deutschen Filmmuseum, die gemeinsam mit der Filmzeitschrift epd-Film konzipiert wurde. So lautet auch generell die Selbsteinschätzung der deutschen Filmindustrie: Immer den eigenen Zustand skeptisch beäugend und in Frage stellend. Die tatsächliche Antwort darauf gibt normalerweise der letzte erinnerungswürdige deutsche Film. Aktuell hat man mal wieder einen, den man gerne vorzeigt, zitiert und ausruft: „Victoria“. Sechs deutsche Filmpreise. Silberner Berlinale-Bär. Eine One-Cut-Sensation. Virtuoses Genrekino aus deutschen Landen. Eigentlich ein Paradoxon. Fast oscarnominiert, wenn es da nicht diese dumme Regel mit der Originalsprache gäbe. Angeblich hat sich sogar Jennifer Lawrence eine Privatvorführung zeigen lassen. Und Quentin Tarantino arbeitet auch schon an einer Art Western-Reboot mit Christoph Waltz und Bill Cosby. Oder zumindest: Til Schweiger will ein Hollywood-Remake drehen. Oder so ähnlich.

Ein anderer Blickwinkel auf den deutschen Film: Talent und gute Filme sind immer da. Es ändert sich nur die Wahrnehmung. Wenn sich die Rezeption auf die Filme von Schweighöfer & Co. beschränkt und auf die Frage, ob ein deutscher Film im Cannes-Wettbewerb mitmachen darf oder für den Auslands-Oscar nominiert wird, kann man nur verlieren. Wenn man allerdings genauer hinsieht und die Nuancen wahrnimmt, dann fällt auf, dass dieses Jahr auf dem sommerlichen Filmfest München viel von deutschen Filmen geschwärmt wurde (z. B. „Der Nachtmahr“, „Staatsdiener“, „Schau mich nicht so an“). Und auch im Vorfeld des Fantasy Filmfest, das gerade durch die Großstädte der Republik tourt, lobte die Organisatorin Frederike Dellert ausdrücklich die deutschen Genrebeiträge. Und das von einem Festival, das in den letzten Jahren nicht gerade dadurch aufgefallen wäre, eine echte Plattform für deutsche Genrefilme gewesen zu sein. Allerorts hört und liest man von interessanten Projekten: Auf der Genrenale, der Indie-Gegenveranstaltung zur Berlinale, wurden Projekte wie „Schneeflöckchen“ und „Radio Silence“ gefeiert. Insider-Tipps wie „Von jetzt an kein Zurück“, „Top Girl“, „Liebe mich!“, „Und am Ende sind alle allein“ sowie „Das Zimmermädchen Lynn“ machen die Runde. Damit will ich keine Wellenbewegung behaupten oder ein neues Goldenes Zeitalter heraufbeschwören wollen. Kann ich auch gar nicht. Vielleicht liegt die Fülle der Empfehlungen auch einfach nur an meiner Horizonterweiterung durch zwei, drei neue Tippgeber über Twitter.
Mutter Beimer griff unter die Arme
Nikias Chryssos' surreale, zum Schreien komische Gesellschaftssatire „Der Bunker“ ist einer der besten Filme des Jahres. Seine Weltpremiere feierte der Debütfilm im Schatten von „Victoria“ in der Berlinale-Nebenreihe Perspektive Deutsches Kino. Sein richtiges Zuhause scheint er aber erst jetzt auf den Genrefestivals dieser Welt zu finden. In Frankreich, auf dem Festival Mauvais Genre, gewann der Film zwei Jurypreise. Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil er im Programm des amerikanischen Fantastic Fest auftauchte. Letzteres Festival hat sich über die Jahre, neben dem großen spanischen Vorbild Sitges, zu dem weltweiten Genre-Mekka entwickelt. Allein die Nominierung ist bereits eine Auszeichnung. Die Existenz von „Der Bunker“ grenzt dabei an ein kleines Wunder, die Finanzierung wurde ausschließlich mit der Hilfe des "Lindenstraßen"-Godfather Hans W. Geißendörfer und seiner gleichnamigen Produktionsfirma („Uncle Boonmee“) gestemmt. Es ist kein Zufall, dass Pit Bukowski eine der Hauptrollen spielt. Jener Schauspieler, der auf den ersten Blick wie eine schnoddrige Version des schon wieder in Vergessenheit geratenen Paul Bettany daherkommt, aber ungleich wandlungsfähiger, geladener und aufregender ist, wie seine andere große, kinskieske Genre-Rolle in „Der Samurai“ gezeigt hat. Ich habe „Der Bunker“ auf dem Frankfurter Fantasy Filmfest erleben dürfen.

Irgendwo in der Einöde betritt ein Student (Pit Bukowski) den Bunker einer dreiköpfigen Familie. Er sucht die Abgeschiedenheit für seine wissenschaftliche Abschlussarbeit. Gut, der versprochene Seeblick fehlt, aber ansonsten scheinen die Voraussetzungen ideal zu sein. Nur die Familie ist ein wenig speziell: Das Kind sieht aus, als sei es schon über dreißig Jahre alt. Es ist angezogen, als hätte Wilhelm Busch die Leibchen mit kurzer Hose designt. Und während zu Tisch gesessen wird und der Vater penibel die Anzahl der Klöße und Servietten notiert, die der Student in Anspruch nimmt, harrt der Kleine bei Minusgraden vor dem Fenster aus. Irgendetwas läuft hier gewaltig schief. Als der Student von den Eltern finanziell und sexuell genötigt wird, den Hausunterricht von Klaus (Daniel Fripan) zu übernehmen, kommt er der hier betriebenen schwarzen Pädagogik auf die Spur.
Regisseur und Drehbuchschreiber Chryssos hat dieses anarchische Kammerspiel in einer surrealen Hyperrealität angeordnet, die voller Humor und verdrängter Erotik ist. Das ist einerseits wahnsinnig unterhaltsam anzuschauen: Wie der Sohnemann etwa, bereits im dunklen Klassenzimmer sitzend, quasi die gesamte Nacht auf den Hauslehrer gewartet zu haben scheint, wie er als einziger Teilnehmer des Unterrichts sein Namensschild dekorativ vor sich rückt, wie ihm das Konzept des Spielens total fremd ist; oder wie der Vater versucht, mit hochtrabender Sprache und leeren Phrasen einem Idealbild des Bildungsbürgers zu entsprechen und wie er am regelmäßigen Witzeabend mit weiß geschminktem Clownsgesicht die ältesten Kalauer der Witzegeschichte in bester Fips Asmussen-Tradition vorträgt, um sie danach intellektuell-schwachsinnig zu unterfüttern.
Stoßtrupp Venus bläst zum Angriff
Andererseits drängt sich auf spielerische Art die Leseweise einer Gesellschaftssatire auf. Kammerspiele in ihrer Reduzierung dienten schon immer als Vergrößerungsglas auf aktuelle Verhältnisse. So gesehen ist „Der Bunker“ ein beißender Kommentar auf unser familiäres und gesellschaftliches Rollenverständnis. Der vor sich her forschende Besucher, der je nach Gemütslage mal Student, mal Professor genannt wird, steht mit seiner endlosen Forschungsarbeit für den sanften Unsinn des universitären Lehrbetriebs. Das Mannskind in Lederhosen, das noch von seiner Mutter gesäugt wird, soll durch stupides Auswendiglernen der Hauptstädte darauf vorbereitet werden, Präsident zu werden. Samt charmanter Marilyn Monroe-Reminiszenz. Der Vater ist in diesem Familienkonzept überflüssig geworden: Er versucht seine Rolle als Oberhaupt über starre Rituale und peinliche Bildungshuberei wenigstens im Schein zu rechtfertigen. Am spannendsten ist allerdings die Rolle der Mutter (Oona von Maydell). Sie dirigiert im Stillen über die verschiedensten Methoden die Familie. Interessanterweise hat ihr der Film wörtlich einen Klotz ans Bein gehängt. Eine offene Beinwunde ist gleichzeitig eine Art von Lebensform, die sie Heinrich nennt und die vor allem mit zunehmender Zeit die Verantwortung für die aggressiven Anwandlungen der Mutter übernimmt.

„Der Bunker“ wirkt auf mich so, als würde er aus dem innersten der deutschen Seele entspringen; quasi unter der Reichskanzlei gelegen, das deutsche Unterbewusstsein mit klassischer Musik (neben einem Heavy Metal-Song glaube ich als Ausnahme auch noch ein Score-Stück aus „Der Killer von Wien“ erkannt zu haben) und visuellen Verweisen anzapfend, um sie wild und neu miteinander zu kombinieren; auf wahnsinnig witzige Weise vom Hier und Jetzt erzählend, aber mit den Mitteln großer Film-Satiriker wie Stanley Kubrick und David Lynch. In einem Wort: Lust. Die Lust an der Sprache, den Schauspielern, der Improvisation, der blutvollen Strenge, den Abgründen und Grenzen. Und man könnte „Der Bunker“ auch als Bruderfilm zu Giorgos Lanthimos' Meisterwerk „Dogtooth“ betrachten, der einen ähnlichen erzählerischen Rahmen gewählt hat, aber zu völlig anderen Antworten kommt.

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