Montag, 22. Februar 2016
Prügelknabe, Schatz oder Schlappschwanz - der Neue Deutsche Mann auf der Berlinale 2016

Highlights: "A Lullaby", "A Quiet Passion", "Agonie" & "Baden Baden"
Ein Berlinale-Rückblick so lang wie ein Lav Diaz-Film: Negative Space-Filmkritiker Michael Müller schreibt über deutsche Sprache und den ziemlich starken Wettbewerbs-Jahrgang 2016.

Man spricht deutsch auf der Berlinale. Weniger am ungewöhnlich mild temperierten Potsdamer Platz, wo im internationalen Reigen aus Touristen und Weltpresse eigentlich eine Art Esperanto gepflegt wird. Gemeint sind die Protagonisten auf den Leinwänden des Festivals, die einen Hang zu deutschen Ausdrücken entwickelt haben. Der tschechische Panorama-Eröffnungsfilm „I, Olga Hepnarova“ ist ein typischer Vertreter der von Wieland Speck kuratierten Nebenreihe. Er ist schwarzweiß fotografiert, voller freizügiger Szenen und rauchender Menschen, ungeschickt distanziert erzählt sowie etwas zu plump moralisch angelegt. Die Protagonistin Olga (das Natalie Portman-Lookalike Michalina Olszanska) basiert auf einem realen Vorbild. Olga Hepnarova war die letzte Frau, die in der Tschechoslowakei im Jahr 1975 per Todesstrafe gehängt wurde.

Im Gerichtssaal rechtfertigt sie ihren terroristischen Akt gegen Passanten auf dem Bürgersteig mit dem deutschen Wort ‚Prügelknabe‘. Denn als genau diesen habe die Gesellschaft sie wegen ihrer Homosexualität behandelt. Ihrer Argumentation will man nicht so recht folgen. Und man glaubt auch, dass Regisseure wie Miloš Forman den Freiheitskampf gegen das kommunistische System bereits in den 1960er-Jahren deutlich besser und interessanter erzählt haben. Aber das Wort bleibt haften.
Keine einfachen Formeln
Themen- und Motivsuche erweisen sich jedes Jahr wieder als trügerisches und künstliches Gebilde auf der Berlinale. Die Medien lechzen immer nach einfachen Formeln, nach Zuspitzungen und Konflikten. War das jetzt ein Jahr der starken Frauenrollen oder der schwachen Männerrollen – und wen interessiert das eigentlich? War es dann doch eher das Jahr der Flüchtlingskrise, weil Gianfranco Rosis Dokumentarfilm „Fire at Sea“ den Goldenen Bären gewann?

Im okayen deutschen Film „Meteorstraße“ wie im tollen französischen Film „Baden Baden“ zieht es zwei Figuren mit Migrationshintergrund in die Fremdenlegion. Ist das schon ein Thema oder bedarf es mindestens drei, vier Filme mit ähnlichen Motiven? Festival-Chef Dieter Kosslick hatte im Vorfeld das Recht auf Glück als Oberthema der Berlinale ausgegeben. Und so banal und eigentlich immer zutreffend das auf den ersten Blick erscheint, so sehr verfestigte sich über die Woche dieses Dogma. Zum Beispiel beim tunesischen Wettbewerbsbeitrag „Hedi“, der zu Recht als bester Erstlingsfilm und für den besten Hauptdarsteller (Majd Mastoura) ausgezeichnet wurde. Am Strand gräbt da die Animateurin Rym (Rym Ben Messaoud) die Titelfigur Hedi ein und formt ihrem Urlaubs-Flirt spielerisch riesige Sandbrüste. Als das ein kleines Touristenmädchen sieht, fragt es auf Deutsch: „Ist das dein Schatz?“ Das kann die Animateurin nur bejahen. Was für eine beiläufige Liebeserklärung in deutscher Sprache, die der Eingegrabene natürlich nicht versteht.

Isabelle Huppert in "Things to Come" (aka "L'avenir") © CG Cinéma
Merkels Schlappschwänze
Isabelle Huppert umgibt sich in Mia Hansen-Løves Film „Things to Come“ als Philosophie-Lehrerin, der das vertraute Leben abhandenkommt, mit deutscher Sprache. Sie gibt Werkausgaben zu Theodor W. Adorno und Arthur Schopenhauer heraus, die eingestellt werden sollen, weil sie sich weigert, ihre Buch-Cover wie Haribo-Tüten aussehen zu lassen. Wenn die Huppert Auto fährt, erklingt Franz Schuberts „Im Abendrot“.

Und wenn in der außer Konkurrenz gezeigten Dominik Moll-Komödie „News from Planet Mars“ vom EU-Gipfel berichtet wird, heißt es dort: Angela Merkel habe ihre männlichen Kollegen mit dem deutschen Wort ‚Schlappschwänze‘ gebrandmarkt, weil sie immer alles allein stemmen müsse. Der Versuch, thematisch übergreifende Trends in Motiven, Hintergründen oder Figuren zu finden, ist dann eben doch auch eine persönliche Geschmackssache. Und wenn man es nicht wie Volker Kauder, sondern wie Gerhard Polt meint, kommt man sogar mit dem deutschen Sprachmotiv durch.
Tarantinos "The Hateful Two"
„Die Berlinale verliert immer weiter an Bedeutung“, poltert der Viennale-Chef Hans Hurch im SWR2-Gespräch mit dem nickenden Filmkritiker Rüdiger Suchsland. Das Festival sei reaktionär, zynisch und dumm und nehme sich selbst nicht mal ernst. Da haben sich aber auch zwei gefunden. Bei viel zu leisem Mikrofon-Ton wird die Entscheidung, Lav Diaz‘ achtstündigen Film „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einzuladen, auch noch als reiner Opportunismus abgetan. Ich habe Rüdiger Suchsland früher sehr gerne gelesen. Aber wenn er über die Berlinale im Allgemeinen oder Dieter Kosslick im Speziellen spricht, kommt da nur noch Gift und Galle zum Vorschein. Vor zwei Jahren schrieb Suchsland nach der Vertragsverlängerung von Kosslick einen Artikel, der den Titel „Der ewige Kosslick“ trug. Ob bewusst oder unbewusst gewählt, war die Assoziation zum berüchtigten Propagandafilm der Nationalsozialisten schlicht geschmacklos.

Tatsächlich ließ sich während des Festivals eine Eigentümlichkeit hinsichtlich des Wettbewerbs feststellen. Wenn man morgens im Pressezentrum brav die Branchenblätter Screen Daily und den Hollywood Reporter aufschlug oder gelegentlich auch einen Blick auf den Bewertungs-Chart des Tagesspiegel warf, fiel auf: Nahezu jeder Wettbewerbsfilm hat seine Anhänger gefunden. Zum Beispiel „Letters from War“, der portugiesische Schwarzweißfilm, der mit Hilfe von Liebesbriefen die Gräueltaten der Portugiesen im Angola-Kolonialkrieg beschreiben will. Jener eben schon erwähnte Rüdiger Suchsland war begeistert. Auch der Tagesspiegel-Kritiker Jan Schulz-Ojala schwärmte. Obwohl ich die portugiesische Sprache liebe, empfand ich „Letters from War“ dagegen als künstlerische Totgeburt.

Der portugiesische Beitrag "Letters from War" © O Som e a Fúria
Ernst Jünger in Angola
Einerseits von einer angenehmen Frauenstimme verlesene Briefe aus dem Off, andererseits hochstilisierte, teils atemberaubend schöne Schwarzweißbilder. In der Häufung und Wiederholung verliert das Ganze allerdings schnell an Reiz. Zumal die Liebesbriefe des Protagonisten an seine Zuhause weilende Frau weniger Liebesbriefe als Briefe der Selbstliebe sind. So sehr schwelgt der Militärarzt in den eigenen Formulierungen, so wenig scheinen die Schmeicheleien ausschließlich für die Frau bestimmt. Und das Schlimme: Es gibt auch keinen qualitativen Unterschied zwischen den Liebesbekundungen zur Frau und den blumig-imperialistischen Beschreibungen des Kolonialkrieges. Wenn man so will: ein Ernst Jünger-Epigone auf Portugiesisch. In Schönheit gestorben. Trotzdem würde ich sagen, dass dieses Filmexperiment in den Wettbewerb eines A-Festivals gehört.

Wohin man blickte, gab es Verteidiger von Wettbewerbsfilmen. Konsensfilme, die alle liebten, fand man fast keine (vielleicht am ehesten André Téchinés „Being 17“ und Hansen-Løves „Things to Come“). Die BZ-Kritikerin Anke Westphal gab dem einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag „24 Wochen“ die Höchstwertung und einen schwärmerischen Text mit dem Titel „Ein Film von großer Wucht“. Der Film mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel in den Hauptrollen um Komplikationen in der Schwangerschaft fand auf jeden Fall einen Resonanzboden auf der Berlinale. Ich weiß nicht, ob dieser Film im Wettbewerb laufen musste, weil er ästhetisch eher irrelevant ist. Ich weiß nicht einmal sicher, ob das ein guter Film ist. Was ich dagegen weiß: „24 Wochen“ ist ein packendes, mitreißendes Stück Kino, bei dem ich zwei Mal Tränen in den Augen hatte.

Selbst der krude kanadische Beitrag „Boris without Béatrice“, der von einem arroganten Geschäftsmann erzählt, der regelmäßig fremdgeht, hatte eine Anhängerin. Artechock-Kritikerin Dunja Bialas verteidigte den Film, in dem Regisseur Denis Côté auf Michael Haneke für ganz Arme machte.

"Midnight Special": "Starman" meets "Close Encounters" © WB
Wenig Hollywood, trotzdem unterhaltsam
Der Wettbewerb hatte eine erstaunlich dichte Qualität. Wenige Ausreißer nach unten, noch weniger nach ganz oben, aber sehr häufig interessant, sehenswert und anregend. Es gab vor allem eine Vielfalt in den ästhetischen Macharten zu bewundern. Und es hätte auch über die Nebenreihen die Möglichkeit gegeben, den Wettbewerb noch wertvoller zu gestalten, aber dazu etwas später mehr. Der einzige Hollywoodfilm der Konkurrenz, Jeff Nichols‘ Spielberg-Carpenter-Hommage „Midnight Special“, war zwar kein richtig großer Wurf. Dafür waren die Figuren zu schemenhaft angelegt. Aber was für ein meisterliches Sounddesign und was für einen treibend hypnotischen Soundtrack besaß der Film. „Midnight Special“, die Geschichte um einen außergewöhnlichen Jungen, hinter dem der Staat und die Kirche her sind, war immer genau dann bei sich, wenn er sich vom Plot und den Figuren löste und einfach Action, audiovisuelles Spektakel und eine wabernde Stimmung sein konnte.

Danis Tanovics opulenter Ensemble-Film „Death in Sarajevo“, der mich am stärksten an die Hollywoodversion von Vicki Baums Literaturklassiker „Menschen im Hotel“ erinnerte, gewann den Großen Preis der Jury. Auch hier fehlte der Schuss Genialität. Aber was für ein vitalisierendes Bewegungskino brennt Tanovic hier ab. Selten ruht die Kamera, immer gleitet sie den Protagonisten belauernd hinterher. Sie ist wie der Sicherheitsmann, dem aufgetragen wurde, den französischen Ehrengast zu beschützen. Aus altem kommunistischen Reflex macht der aus dem Security-Job eine traditionelle Beschattung. Und es ist spannend, den unterschiedlichen Parteien zu lauschen, sei es dem Historiker auf dem Dach, der über die mindestens zwei Herzen spricht, die in der post-jugoslawischen Gesellschaft schlagen. Oder seien es die Gangster, die es sich im Keller gemütlich gemacht haben und losschlagen, wenn mal wieder ein Arbeiteraufstand des Personals ansteht.

Trine Dyrholm in "The Commune" © Henrik Petit
Mäuschen spielen bei Meryl
Oder Thomas Vinterbergs Film „The Commune“, der von einem dänischen Paar erzählt, das in den 1970er-Jahren eine Wohngemeinschaft eröffnet, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Wenn man so will, ist das das erzählerische Gegenstück zu „Things to Come“. Wenn sich Isabelle Huppert wegen des fremd gehenden Mannes neu erfinden muss, zerstört Trine Dyrholms Charakter die eigene Liberalität. Sie war es, die die Kommune im geerbten Haus gründen wollte. Sie ist es, die nach Ulrich Thomsens Seitensprung glaubt, dass die Gemeinschaft und vor allem sie selbst das aushalten könnte. Man hätte zu gerne Mäuschen gespielt bei der Schauspielerin-Entscheidung der Jury. Wie die Jury-Präsidentin Meryl Streep wohl argumentiert haben muss, dass letztlich nicht die Huppert, sondern Dyrholm den Preis bekam. Einer meiner liebsten Schauspieler-Momente ist in „The Commune“ allerdings, als die Tochter den Vater auf frischer Tat ertappt. Thomsen, der ein herrlich schreckliches Toupet trägt, das nach Betrug schreit, will aus dem Bad kommen. Er erblickt seine Tochter aus dem Augenwinkel und versucht sich doch tatsächlich noch irgendwie in der Luft durch einen ungelenken Körperkniff zu verstecken. Vielmehr muss man über diesen Charakter nicht wissen.

Auch die richtig großen Filme des Wettbewerbs gingen auf die Suche nach dem persönlichen Glück ihrer Protagonisten. Über Mia Hansen-Løves Film „Things to Come“ habe ich schon ein bisschen geschrieben. Ein Film, der mit Abstand wächst, weil er wahrscheinlich mit das bittersüßeste Ende des Jahres bereithält. „Things to Come“ will ich schnell wiedersehen. Hansen-Løve versteht es, die Alltäglichkeit als kleine Wunder zu zerlegen. Es ist atemberaubend, der Huppert dabei zuzusehen, wie ihrer Figur, der engagierten Philosophie-Lehrerin, alle Sicherheitsleinen von eben auf jetzt weggezogen werden und sie sich neu behaupten und erfinden muss. Als sich die Huppert in ihrer dunkelsten Stunde im Kino Kiarostamis Film „Die Liebesfälscher“ anschaut, wird sie von einem Proll angegraben. Er rückt ihr immer mehr auf die Pelle, verfolgt sie in der Nacht nach Hause, will zudringlich werden. Nach einem kurzen Moment der Irritation lacht sie ihn einfach weg. Als Frau, die „Die Klavierspielerin“ und in „Die Ausgebufften“ war, stellt das keine echte Herausforderung dar. Ich glaube, dass „Things to Come“ noch nicht an Hansen-Løves Meisterstück „Der Vater meiner Kinder“ heranreicht. Vielleicht sehe ich das in ein, zwei Jahren anders.

Hedi und Rym lernen sich kennen ("Inhebek Hedi") © Nomadis
Der Arabischer Frühling als Alien
Ein früher Liebling im Wettbewerb war der tunesische Debütfilm „Hedi“. Die Titelfigur soll verheiratet werden. So wünscht es sich die Mutter, die alles arrangiert hat. Auf einer Arbeitsreise nutzt Hedi die Gunst der Stunde und beginnt eine Affäre mit einer Animateurin. Seine Anmache im Hotel wird wohl als missglückteste in die Filmgeschichte eingehen. Die Magie des Films, der von den Gebrüder Dardenne präsentiert wird, besteht unter anderem darin, dass die beiden trotzdem oder gerade deswegen ein Paar werden.

Der Film ist ganz dicht an seinen Protagonisten dran, zeichnet jede Gesichtsregung wie ein Seismograph auf. Mal wirkt Hedi mit seiner Halbglatze und dem Lebensunmut uralt, mal in nass-klebender Badehose wie ein Schuljunge. Er vereint in seinem Leben das schlechteste aus beiden Welten. Die emotionale Taubheit des Alters mit der Unreife der Jugend. Einmal sieht man von ihm, der die Welt gerne mit seinen Comics erobern würde, eine Zeichnung. Es ist eine triste Schwarzweiß-Skizze, die nach einer dystopischen Zukunft aussieht. Der Protagonist des Comics erinnert dabei an Hedi. Nur hat das Geschöpf einen riesigen unförmigen Schädel wie ein Alien oder ein Baby. Ein Fremder auf der Erde, ein Fremder im Leben. Ein Außenstehender im bislang fremd bestimmten Leben durch seine alles dominierende Mutter. Es fällt nicht schwer, die Parallele von Hedis Situation auf die des Arabischen Frühlings zu übertragen. Und die Melancholie der Geschichte verstärkt sich noch, wenn man sie mit den Entwicklungen der nordafrikanischen Revolutionen abgleicht.
Szenenapplaus für den Planeten Mars
Das muss man Dieter Kosslick auch anrechnen: Bei all dem Drama und der Tristesse, die im Wettbewerb fast unvermeidlich erscheinen, taucht dann ganz unverhofft eine extrem unterhaltsame Komödie wie „News from Planet Mars“ am Horizont auf. Am ehesten lässt sich der Film von Dominik Moll, der eigentlich berüchtigt ist für seine subtilen Thriller, mit einer ungewöhnlichen Bill Murray-Hollywoodperle wie „Was ist mit Bob?“ vergleichen.

Der unwiderstehliche François Damiens, einer meiner französischen Lieblingsdarsteller, spielt einen treusorgenden, emotional aber ständig überforderten Familienvater. Die Ex-Frau hat die beiden Kinder bei ihm außerplanmäßig abgegeben, weil sie in Brüssel vom EU-Gipfel als Außenreporterin berichten muss. Dazu kommen der Hund der exzentrischen Schwester und ein durchgeknallter Arbeitskollege (Vincent Macaigne, seit dem Film „Tonnerre“ ein weiterer französischer Lieblingsdarsteller), der ihm mit einem Beil das Ohr abgeschlagen hat und zum Dank bei ihm einzieht. Das ist im besten Sinne eine altmodisch erzählte schwarze Komödie, bei der ganz Billy Wilder-artig alle Erzählstränge im Schlussdrittel gekonnt zusammen geführt werden. Der Humor ist teils herrlich geschmacklos und grotesk. Ein sehr sympathischer Rausch von einer Komödie, die sogar den einzigen Szenenapplaus einheimste (Stichwort: Hund), den ich dieses Jahr auf der Berlinale mitbekommen habe.

Gottesdienst unter der Erde ("A Lullaby to the ...") © Bradley Liew
Das sanfte Achtstunden-Monstrum
„Wie war es?“, fragte die aufgekratzte Deutsche Welle-Reporterin auf der Treppe des Berlinale-Palastes, als gerade einmal die Halbzeit von Lav Diaz‘ achtstündigem Schwarzweiß-Epos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ eingeläutet wurde. Mir kam nur ein „No, please“ über die Lippen. Ein „I respectfully refuse, it’s far too early to call“ wäre angebrachter gewesen. Aber vier zeitlupenhaft erzählte Stunden philippinischer Revolutionskampf gegen die spanischen Besatzer kann einen schon in so eine Art emotionalen Tunnel versetzen. Als Mindestziel hatte ich mir die Halbzeit gesetzt, es anfangs mehr als sportive Herausforderung betrachtet, weil ich glaubte, dass das sowieso nicht mein Film sein würde. Die allererste Stunde war hart, die letzten beiden der über acht Stunden vergingen wie im Flug.

Ich weiß immer noch nicht so ganz, was ich von Diaz‘ Wiegenlied halten soll. Auf jeden Fall kann ich das nicht hier im sowieso schon zu langen Rückblick ausformulieren. Allein über das Licht und die Winde könnte man Studien schreiben. Aber ich greife mal einen Aspekt heraus: Sichtbare Gewalt gibt es in diesem Lav Diaz-Film beinahe gar nicht auf der Leinwand. Selbst wenn die Macheten gezückt werden, passiert das Geschnetzel außerhalb des Bildes. Eigentlich komisch für einen Film, der von den spanischen Kriegsgräuel gegen die Philippinen erzählen will, oder? Mitnichten! Diaz legt nämlich ganz untypisch den Fokus auf die Zurückgebliebenen. Schließlich begleiten wir einen Großteil des Films die Witwe eines der ermordeten philippinischen Revolutionsführer, die seinen Leichnam sucht. Es geht Diaz sehr um das Entsetzen und den Horror in den Köpfen derer, die zurückbleiben und weiterleben müssen.

Bezeichnend ist dafür eine frühe Szene: Soldaten zielen mit ihren Waffen auf Zivilisten. Man hört den Feuerbefehl, die Schüsse und die Schreie. Aber keiner der Zivilisten fällt. Plötzlich wird die Situation klar. Die Zivilisten wohnen einer Erschießung bei, die im Off passiert. Die Soldaten mit den ausgerichteten Gewehrläufen dienen der Abschirmung des tatsächlichen Mordes. Genau darum geht es Diaz, um die Gefühle der Angehörigen, der Vergewaltigten und Misshandelten, die von den Schüssen nicht getroffen werden und sie trotzdem fast mehr spüren als die Opfer selbst.

"Soy Nero": Aus dem Dschungel kommst du nur im Sarg ©PallasFilm
Geheimtipp "Soy Nero"
Mein Joker für den am meisten unterschätzen Film des Wettbewerbs geht derweil an „Soy Nero“ von Rafi Pitts. Der junge Mexikaner Nero will illegal in die USA einreisen. Man sieht sein wiederholtes Scheitern und seine daraus resultierende einzige Option, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Der so genannte Dream Act besagt, dass Einwanderer, die für die USA als Soldaten kämpfen, ein Anrecht auf eine Green Card haben. Der amerikanische Traum als staatlich verordneter Alptraum. So kann man immerhin als echter Amerikaner im Sarg nach Hause kommen.

Ich fand, „Soy Nero“ ist ein nahezu makelloser Film, fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Er besitzt einen der besten, weil härtesten Schnitte der Filmgeschichte seit dem Vietnamkriegs-Epos „Die durch die Hölle gehen“. Er hat teils bizarre, teils sehr real wirkende Nebenfiguren, die Nero auf seinem gnadenlosen Road Trip ins Herz der Finsternis begleiten. Wie Nero in der Silvesternacht das Feuerwerk als Ablenkung ausnutzt, um an der Polizei vorbeizurennen, hat sich bei mir visuell wahnsinnig eingebrannt.

Und „Soy Nero“ kommunizierte vortrefflich mit dem einzigen Retrospektiven-Film, den ich auf der Berlinale gesehen habe, nämlich James Whales Hollywoodfilm „The Road Back“. Die Erich Maria Remarque-Fortsetzung, die wegen deutscher Interventionen im Jahr 1937 aus dem Verkehr gezogen wurde, erzählt das Leid der heimkehrenden deutschen Soldaten von der Ersten Weltkriegs-Front. Um einige Jahre nimmt der Film da emotional das viel und auch zu Recht umfeierte William Wyler-Meisterwerk „The Best Years of Our Lives“ vorweg. Die Soldaten passen nicht mehr in diese Welt der abgerissenen Schulterklappen und Soldatenräte. Zwischenmenschlich ist bei ihnen so viel kaputt gegangen, dass sie sich eigentlich nur wohl fühlen, wenn sie sich untereinander als Kameraden treffen und über die Welt den Kopf schütteln. Auf eigenartige Weise zeigten „Soy Nero“ und „The Road Back“ die verschiedenen Seiten der gleichen Medaille.

Gewinner des Goldenen Bären: Gianfranco Rosi ("Fire at Sea") ©RaiCinema
Das Meisterwerk des Wettbewerbs
Bleibt mir noch übrig, meinen Hut zu ziehen vor Gianfrancos Meisterwerk „Fire at Sea“. Als Pietà der Flüchtlingskrise hat es der Screen Daily-Kritiker Lee Marshall bezeichnet. Die Woche der Kritik, eine Berlinale-Gegenveranstaltung, eröffnete letztes Jahr zum ersten Mal mit dem Dokumentarfilm „Burn the Sea“ über die Flüchtlingskrise. Das sind sehr ähnlich klingende Filme, aber völlig unterschiedliche Konzepte. Während „Burn the Sea“, der sicherlich auch die besten Absichten hatte, ausschließlich einen Protagonisten monologisieren lässt, ist der Berlinale-Gewinner „Fire at Sea“ das totale Gegenteil. Gianfranco Rosi lässt nicht über die Thematik reden, er zeigt. Es ist ein unvergleichlicher, schmerzlicher Bilderrausch, der tief unter die Haut geht.

Klugerweise ist der Film zweigeteilt: Zum einen porträtiert er die Menschen, die auf der Insel Lampedusa leben. In den Augen des Regisseurs sind das sehr großzügige Menschen, einfache Fischer, für die alles, was über das Meer kommt, erst einmal prinzipiell gut ist. Mit dieser Haltung kümmern sie sich um die Flüchtlinge. Das ist die Andockstation für den Zuschauer, das ist unsere Perspektive auf die Flüchtlingskrise. Die Mutter, die in der Küche das Essen macht und die neuesten Opferzahlen über das Radio vernimmt. Diesen Menschen setzt Rosi ein Denkmal. Liebevoll gleitet die Kamera die Küsten entlang. Man sieht den kleinen Protagonisten der Inselszenen, einen Jungen, herzhaft schmatzend Spaghetti essen. Beim Schleuderschießen stellt dieser ein Augenproblem fest. Der Doktor verordnet ihm gegen das lahme Auge eine Piratenklappe für das gesunde. Das Gehirn soll so lernen, beide Augen gleichmäßig einzusetzen. Die europäische Blindheit auf dem Auge, das die Flüchtlingskrise lange kommen sah, ohne zu handeln.

Und dann geht Rosi auf die Flüchtlingsschiffe, zeigt Verletzungen, die bei der Mischung aus Salzwasser und Benzin auf der Haut entstehen. Er lässt uns den verzweifelten Funkverkehr mithören, er ist in den Flüchtlingslagern. Er geht weit über die Schmerzgrenze hinaus. Und man ist bereit mitzugehen, weil man sich in sicheren Händen fühlt und seinem Blick auf die Realität vertraut. „Fire at Sea“ ist ein ganz außergewöhnliches Kunstwerk, was noch lange Zeit nachhallen wird.

Es gäbe noch so viel mehr zu schreiben, um meine traditionelle Floskel zu bemühen. Und vielleicht mache ich das noch mal separat für Movies & Sports in der Form einiger Einzelkritiken. Denn es würde sich lohnen. Kiyoshi Kurosawas exzellenter Horrorfilm „Creepy“ und das sublime Emily Dickinson-Biopic „A Quiet Passion“ von Terence Davies verdienen eigentlich eine gesonderte Würdigung. Zumal die beiden Filme ein bisschen in der Special-Nebenreihe versteckt wurden. Hätte man den Wettbewerb noch besser machen wollen, hätte man zum Beispiel „Boris without Béatrice“ und „The Patriarch“ dagegen eintauschen können. Es ändert indes nichts an ihrer Qualität. Auch müsste ich noch eine Lanze für den knallharten deutsch-österreichischen Film „Agonie“ und die traumhafte Slacker-Komödie „Baden Baden“ brechen. Der Tag wird kommen.


Zehn Berlinale-Empfehlungen (alphabetisch)

* AGONIE (David Clay Diaz)
* BADEN BADEN (Rachel Lang)
* CREEPY (Kiyoshi Kurosawa)
* FIRE AT SEA (Gianfranco Rosi)
* HEDI (Mohamed Ben Attia)
* A LULLABY TO THE SORROWFUL MYSTERY (Lav Diaz)
* NEWS FROM PLANET MARS (Dominik Moll)
* A QUIET PASSION (Terence Davies)
* SOY NERO (Rafi Pitts)
* THINGS TO COME (Mia Hansen-Løve)

Runners-Up: Goat, Midnight Special, 24 Wochen, The Commune, Death in Sarajevo

Links: - "Agonie", - "Baden Baden", - "Creepy", - "A Quiet Passion"

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