Mittwoch, 25. Juli 2018
Bester Venedig-Wettbewerb aller Zeiten?

Alfonso Cuáron kehrt heim zu seinen mexikanischen Wurzeln: „Roma“

An diesen Venedig-Wettbewerb wird die Filmwelt noch lange zurückdenken. Festivalchef Alberto Barbera ist der Held der Stunde. Er wusste teilweise gar nicht mehr wohin mit den ganzen exzellenten Filmen.

Ungefähr so muss sich auch Zinédine Zidane gefühlt haben, als er zum dritten Mal in Folge die Champions League mit Real Madrid gewonnen hatte. Der Trainer trat zurück, weil er wusste, dass er das nicht noch mal toppen können würde. Dem 68-jährigen Venedig-Chef Alberto Barbera spielte ein bisschen in die Karten, dass sich Cannes und Netflix verkracht hatten. So bekam er Alfonso Cuarón und Paul Greengrass für seinen Wettbewerb – und obendrauf noch einen verschollenen Orson Welles. Aber das war es nicht.

Wenn wir das historisch starke Wettbewerbsprogramm des ältesten Filmfestival der Welt überblicken, das vom 29. August bis zum 8. September stattfindet, steckt da System hinter der Qualität der ausgewählten Filme. Jonathan Rutter, der Leiter der Filmabteilung von Premier Communications, sagte gegenüber dem Hollywood Reporter: „Der Fokus in Venedig liegt auf den Filmen. Außerdem schafft es das Festival eher die cine-gebildeten Journalisten anzuziehen. Die meisten der Schlüssel-Publikationen sind vor Ort. Wenn man hier also fünf-Sterne-Kritiken bekommt, wird das weltweit schnell registriert. Aber es gibt weniger die Neigung wie in Cannes, Filme kreuzigen zu wollen.“
Ein sehr sichtbarer Festivalchef
Weiter analysiert Rutter: „Alberto Barbera versteht es sehr gut, die Beziehungen zu den Studios und Vertriebsgesellschaften zu pflegen und die Filme aussuchen, welche die Presse und die Industrie wirklich aufregend finden.“ Außerdem sei er als künstlerischer Leiter sehr sichtbar während des Festivals. Die Ernte war für Barbera so reichlich, dass er gar nicht mehr wusste, wo er die ganzen Filme unterbringen sollte. Dem Branchendienst Deadline erzählte er: „Wir haben viele Filme gesehen, die wir aufregend fanden und die wir in der Vergangenheit eingeladen hätten. Aber dieses Jahr mussten wir aufgrund des Platzes einigen exzellenten Filmen absagen.“

Gerne hätte Barbera auch Harmony Korines neuen Film „The Beach Bum“ eingeladen. Aber der war noch nicht fertig. „Wir haben den Film sehr gemocht, Matthew McConaughey gibt eine oscarwürdige Leistung, wir haben eine enge Beziehung mit Harmony“, sagte Barbera: „Es ist zu schade, denn der Film ist wundervoll.“ Aber das ist Meckern auf höchstem Niveau. Denn ansonsten hat das Festival quasi einen eigenen, deutlich attraktiveren Cannes-Wettbewerb zusammengestellt, der zusätzlich mit diversen glamourösen Oscar-Filmen und unzähligen Hollywoodstars gespickt ist. Dass außer Konkurrenz auch neue Dokumentarfilme von Errol Morris, Frederick Wiseman, Sergei Loznitsa und Amos Gitai gezeigt werden, geht in dem Aufgebot leider fast schon unter.
Cannes-Klassentreffen am Lido
Aber was für ein wahnsinniges Aufgebot ist das im Wettbewerb: Es stellt sich heraus, dass das neue Coen-Projekt „The Ballad of Muster Scruggs“ keine Miniserie, sondern ein Spielfilm ist, den Netflix auch ins Oscarrennen bringen wird. In Venedig läuft dank den Amazon Studios mit Luca Guadagninos „Suspiria“ das heißeste Ticket des Jahres. Regie-Schwergewichte wie Olivier Assayas, Jacques Audiard, Alfonso Cuarón, Yorgos Lanthimos, Lázló Nemes, Carlos Reygardas, Mike Leigh und Julian Schnabel feiern ein Cannes-Klassentreffen am Lido. Und sogar der deutsche Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck leistet es sich für Venedig, seine unendliche Geschichte, „Werk ohne Autor“, fertigzustellen. Bei dem ganzen Glamour wird aber viel zu leicht darüber hinweggesehen, dass von den 21 Wettbewerbsfilmen nur einer von einer Frau stammt: nämlich Jennifer Kents „Babadook“-Nachfolger „The Nightingale“. Claire Denis und Mia Hansen-Løve laufen in Toronto. Marielle Heller und Mélanie Laurent müssen nach Telluride.

Auf dem Papier ist das wohl wirklich der stärkste Venedig-Wettbewerb seit vielen Jahren. In den 1930er-Jahren waren noch die wenigsten dabei. Und da übernahm dann auch bald Mussolinis Familie die Leitung. Aber selbst angesichts eines Wettbewerbs des Jahres 1935 mit John Ford, King Vidor, George Cukor, Werner Hochbaum und Walter Reisch braucht sich der aktuelle Jahrgang nicht völlig zu verstecken.
„Telluride ist Cannes des Herbstes geworden“
Es wird spannend zu sehen sein, ob sich bei so viel Prominenz die Filme nicht gegenseitig im Licht stehen werden. Vielleicht wird so auch die Oscar-Startrampe überlastet. Vielleicht kommt dann auch der ein oder andere Filmemacher auf die Idee, einfach noch ein paar Monate zu warten und nach Berlin zu gehen. Aber aktuell ist Venedig das Maß aller Dinge. Das Filmfestival von Telluride ist indes der größte Verlierer. „Telluride ist zum Cannes der Herbst-Filmfestivals geworden“, schreibt die Branchenexpertin Anne Thompson bei indieWIRE. Einst hätten viele Verleiher alles getan, um ihre Filme dort platzieren zu können. Jetzt hätten einige eher Angst vor diesem Slot, weil die Filme in Telluride zu stark durch das Oscar-Glas bewertet würden.

Der Wettbewerb:
  • The Mountain (Rick Alverson)
  • Double Vies (Olivier Assayas)
  • The Sisters Brothers (Jacques Audiard)
  • First Man (Damien Chazelle)
  • The Ballad of Buster Scruggs (Joel & Ethan Coen)
  • Vox Lux (Brady Corbet)
  • Roma (Alfonso Cuarón)
  • 22 July (Paul Greengrass)
  • Suspiria (Luca Guadagnino)
  • Werk ohne Autor (Florian Henckel von Donnersmarck)
  • The Nightingale (Jennifer Kent)
  • The Favourite (Yorgos Lanthimos)
  • Peterloo (Mike Leigh)
  • Capri-Revolution (Mario Martone)
  • What You Gonna Do When the World's on Fire (Roberto Minervini)
  • Sunset (Lázló Nemes)
  • Freres Ennemis (David Oelhoffen)
  • Nuestro Tiempo (Carlos Reygardas)
  • At Eternity's Gate (Julian Schnabel)
  • Acusada (Gonzalo Tobal)
  • Killing (Shinya Tsukamoto)
Links: - Hollywood Reporter | - Deadline | - Venedig

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