Mittwoch, 15. Februar 2017
Berlinale 2017: Wettbewerb beschleunigt mit Kaurismäkis "The Other Side of Hope"

"The Other Side of Hope" © Sputnik Oy
Soweit so gut: Offenbar lasse ich in diesem Jahr häufig die schwächeren Wettbewerbsfilme aus und genieße die rar gesäten Highlights. Neuester Kandidat ist Kaurismäkis Film "The Other Side of Hope". Negative Space-Chefkritiker Michael Müller zieht Halbzeitbilanz.

Der Wettbewerb der Berlinale nimmt Fahrt auf. Es wäre auch schrecklich, wenn er es nicht täte, denn er ist bald vorbei. War Josef Haders Journalistenporträt „Wilde Maus“ zwar ziemlich unterhaltsam, aber ultrakonventionell erzählt, bedeutete „Felicite“ von Alain Gomis am Samstag schon eine ganz andere Klasse. Vor allem die zweite Hälfte des Films, der eine verzweifelte Mutter im Kongo dabei begleitet, wie sie versucht, das Geld für die Operation ihres kranken Jungen aufzutreiben, begeistert.

Aus den verzweifelten Taten der Mutter in der ersten Filmhälfte, bei denen sie sich – alle Schamgrenzen verdrängend – zum Beispiel vor den örtlichen Oligarchen auf den Boden schmeißt und bettelt, wird dann ein ganz anderer, fast meditativer Film. Dazu tragen die hypnotischen, zerdehnten Gesangsauftritte der Hauptdarstellerin bei, die Gomis mal in rotes oder grünes Licht taucht, sie in Gedanken abschweifen und wild träumen lässt.
Chilenische Superheldin ohne Superkraft
Der erste Favorit auf den Goldenen Bären kommt aus Chile. „A Fantastic Woman“ von Sebastian Lelio trifft keinen falschen Ton. Die Geschichte um die Transsexuelle Marina (Bärenkandidatin: Daniela Vega), die nach dem plötzlichen Tod ihres deutlich älteren Liebhabers, Schikanen und Demütigungen durch die Gesellschaft erdulden muss, ist makellos erzählt. Dabei ist sie keine Superheldin. Ihre Superkraft besteht darin, selbst in den emotional herausforderndsten Momenten der Arroganz und dem Hass ihren Stolz und ihre Würde entgegenzustellen.

Auch „The Other Side of Hope“ ist ein richtig guter Film, der jedem Wettbewerb eines A-Festivals gut zu Gesicht gestanden hätte. Was man auch daran merkt, dass er plötzlich fertig ist und man gerne noch etwas länger zugesehen hätte. Zu schade. Am besten einfach nochmal sehen. Der finnische Auteur Aki Kaurismäki orientiert sich bei seinem Humor bekanntermaßen an der Komödienschule von Buster Keaton. Umso ernster die Protagonisten schauen, umso weniger sie lächeln, umso witziger sind die Aktionen für die Zuschauer.
Wunschtraum Gastronom
Der finnische Handelsvertreter Wikström hängt sein früheres Leben an den Nagel: Den Ehering legt er bei seiner Frau wie einen Hotelschlüssel auf dem Tisch ab. Der Triumph bei einer Hinterzimmer-Pokerpartie ermöglicht ihm, seinem Lebenstraum nachzugehen, nämlich ein eigenes Restaurant aufzumachen. Nur dumm, dass er nichts von Gastronomie versteht. Hinzu kommt das Personal, dass die Gutmütigkeit des Mannes aufs Vortrefflichste auszunutzen versteht.

Khaled ist aus Syrien geflohen. Bis auf seine verschollene Schwester ist seine gesamte Familie in Aleppo umgekommen. Jetzt durchläuft er die Asylantragsmaschinerie in Finnland. Als sein Antrag abgelehnt wird, flüchtet er vor der Polizei in den Hinterhof des Restaurants, wo ihn der ehemalige Vertreter erst verprügelt, um ihn dann in seine Restaurant-Familie aufzunehmen.

Es war ein großer Coup, als Dieter Kosslick frühzeitig im Dezember verkünden konnte, dass der neue Kaurismäki nicht – wie gewöhnlich – in Cannes, sondern in Berlin aufschlagen würde. Es ist zwar keine Weltpremiere, weil der Film davor bereits in den finnischen Kinos angelaufen war, was nur der kleine Schönheitsfehler bei diesem tollen Wettbewerbsbeitrag ist.
Ein utopisches, liebenswertes Universum
„The Other Side of Hope“ ist nach "Le Havre" der zweite Teil der losen Hafen-Trilogie und als Tragikkomödie perfekt: In seinem Ton, seiner melancholischen Sehnsucht aller Protagonisten, die zugleich todtraurig und irgendwie glücklich wirken. Der Humor ist reichhaltig, meist visuell, häufig herrlich skurril. Als das Ordnungsamt gleich am zweiten Tag nach der Wiedereröffnung unter dem neuen Besitzer auftaucht, verstecken die Mitarbeiter Khaled in der Damentoilette. Das machen sie mitsamt seinem Staubsauger, der noch läuft, als die Beamten den Laden mehr oder weniger motiviert unter die Lupe nehmen. Nachdem der Spuk vorbei ist, kommt Khaled mit dem Restaurant-Hund aus der Toilette und erzählt, wie er ihn während seines Aufenthalts zum Islam bekehrt hat.

Der Ex-Vertreter ist auch so sympathisch, weil unter der anfänglich angedeuteten harten Schale des Durchschnittsfinnen eine zutiefst menschliche und hilfsbereite Persönlichkeit lauert. Fast lässt er sich mit Wohlwollen von seinen Mitarbeitern, der schon recht alten blonden Praktikantin, dem Koch, der nur Konservendosen öffnen kann und dem Kellner, der weiß, wo es die besten gefälschten Ausweise gibt, abziehen. In diesem utopischen, liebenswerten Universum wirken die finnischen Rassisten, der fette Glatzkopf und sein Gefolge, die Khaled terrorisieren, wie ein Fremdkörper. Am Anfang des Films werden sie von Obdachlosen verjagt, die gegen Diskriminierung mit ihren Fäusten einstehen.

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