Sonntag, 7. Februar 2016
Berlinale-Filmtipps 2016

"Bildnis einer Trinkerin" © Autorenfilm-Produktionsgemeinschaft
Ausgespart habe ich als Tipps lediglich die Filme, die im Wettbewerb laufen werden. Die allgemeine Ablehnung des selbigen unter den ach so hippen Festivalgängern ist berüchtigt. Wer sich die vergangenen Jahre allerdings dort heran getraut hat, weiß um die Schätze, die dort zu heben sind. Nur: Mittlerweile ist das Namensaufgebot des Wettbewerbs (Mia Hansen-Løve, Denis Côté, Lav Diaz, Thomas Vinterberg, Jeff Nichols) so stark und das vermeintlich egale Starkino („Alone in Berlin“, „Hail, Caesar“, „Genius“) so unterrepräsentiert, dass es da keine Verteidigungsschrift mehr braucht. Die Wettbewerbsfilme werden selbstständig ihre Aufmerksamkeit generieren. Wer aber jenseits des Wettbewerbs auf der Suche nach Berlinale-Filmtipps ist, der könnte hier Anregungen finden:

Die Betörung der blauen Matrosen (Ulrike Ottinger, Teddy 30)

Die deutsche Regisseurin Ulrike Ottinger gehört jetzt schon zu meinen cineastischen Entdeckungen des Jahres. Eine feministisch-lesbische Filmemacherin des Neuen Deutschen Films, deren Werke so artifiziell, surreal und wunderschön gerieten, dass sie gerade auch Feministinnen ablehnten. Richard Linklater hat sie für mich wiedergefunden. Die Berlinale zeigt dieses Jahr ihre zwölfstündige Dokumentation „Chamissos Schatten“. Wer es etwas handlicher haben will, besucht ihren 48-minütigen Kurzfilm „Die Betörung der blauen Matrosen“, der anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Teddys gezeigt wird. Ottinger weiß, wie man eine mythische Aura bewahrt: Die DVD ihres Klassikers „Bildnis einer Trinkerin“ kostet auf ihrer eigenen Website zum Beispiel schlappe 80 Euro.

Kate Plays Christine (Robert Greene, Forum)

Der stellvertretende Blickpunkt:Film-Chefredakteur Thomas Schultze maulte nach Sundance sinngemäß: Warum läuft eigentlich keiner der richtig geilen US-Filme auf der Berlinale? Das sei früher mal anders gewesen. Klar, Kenneth Lonergans Oscar-Kandidat „Manchester by the Sea“ kann man nicht früh genug zu sehen bekommen. Aber sonst: Wenn auch das schwarze Sklavendrama „Birth of a Nation“ eine neue Rekordbörse für Sundance-Verhältnisse amortisierte, herrscht über die Qualität des Films alles andere als Einigkeit. Und auf eine furzende Daniel Radcliffe-Leiche („Swiss Army Man“) kann ich ehrlich gesagt durchaus verzichten.
Aber es gibt sie ja, die Sundance-Filme, die es auf die Berlinale geschafft haben. Über den Metafilm „Kate Plays Christine“, der den Selbstmord der Fernsehfrau thematisiert, die für den 1970er-Jahre-Klassiker „Network“ das Vorbild war, hört man sehr viel Gutes. Man macht wahrscheinlich auch nichts falsch, wenn man Andrew Neels „Goat“, James Schamus‘ „Indignation“ oder Ira Sachs‘ „Little Men“ schaut, die allesamt in Sundance gelobt und teilweise sogar gefeiert wurden.

Playgirl (Will Tremper, Retrospektive)

Wenn ich nach Lav Diaz‘ Kunstbrocken „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ noch die Kraft haben sollte, würde ich sehr gerne Will Trempers „Playgirl“ auf großer Leinwand sehen. Auch, weil es davor May Spils‘ Kurzfilm „Das Portrait“ zu sehen gibt. Überhaupt May Spils. Man kennt ihren riesigen Zuschauererfolg „Zur Sache, Schätzchen“ und die sehenswerte Fortsetzung „Nicht fummeln, Liebling!“ Aber ich wüsste gerne mehr über sie, wie sie sich in dieser knallharten Männerwelt der 1970er-Jahre am Boxoffice durchsetzte, um dann wie ein Stern zu verglühen.
Für Filmgeschichts-Freaks und Cineasten hat die diesjährige Retrospektive mit Filmen wie „Jimmy Orpheus“, „Der sanfte Lauf“ oder „Schonzeit für Füchse“ schon etwas zu bieten. Aber die Frage muss gestattet sein: Warum eigentlich nicht als Thema das Jahr 1967 anstatt 1966? Fände ich viel spannender. Kostprobe gefällig? Nur ein paar deutsche Filmtitel des Folgejahres: „Die Schlangengrube und das Pendel“, „Tob Job“, „Die blaue Hand“, „Tätowierung“, „Der Mönch mit der Peitsche“, „Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn“, „Mädchen Mädchen“, „48 Stunden bis Acapulco“, „Liebesnächte in der Taiga“, „Heißes Pflaster Köln“, „St. Pauli zwischen Nacht und Morgen“, „Das Rasthaus der grausamen Puppen“ und „Das Geständnis eines Mädchens“. Uff. Vielleicht schaffe ich Will Trempers „Playgirl“ nicht. Dann bliebe noch Michael Ballhaus‘ Ehrung mit „Working Girl“ (gerade von Amy Nicholson im The Canon-Podcast als sehr unterschätzter Frauenfilm-Klassiker gewürdigt) oder James Whales Kriegsfilm „The Road Back“, die in anderen Retro-Sektionen laufen werden.

Wir sind die Flut (Sebastian Hilger, Perspektive Deutsches Kino)

„24 Wochen“ ist der einzige deutsche Beitrag im Wettbewerb. Wer also junges deutsches Kino sucht, muss in die Sektion Perspektive Deutsches Kino. Das vergangene Jahr brachte uns das Wunder „Der Bunker“, im Jahr davor feierte „Der Samurai“ hier seine Geburtsstunde. Am ehesten schaut der Film „Wir sind die Flut“ wie die nächste deutsche Genreperle aus. Das dystopische Setting, nicht der übliche Coming-of-Age-Ansatz. Und Lana Cooper spielt eine der Hauptrollen. Das spricht seit „Lovesteaks“ für Qualität. Ansonsten wirken die deutschen Berlinale-Filme in ihren Titeln etwas saft- und kraftlos. Selten mehr als ein Wort: „Lotte“, „Liebmann“, „Meteorstraße“, „Agonie“ und „Toro“. Der österreichische Max Ophüls Festival-Gewinner „Einer von uns“, der auch auf der Berlinale läuft, hat drei Wörter. Ein Omen?

Son of Joseph (Eugène Green, Forum)

Den Eugène Green-Film “Son of Joseph” nenne ich stellvertretend für alle hoffentlich verrückten, ästhetisch gewagten, einfach anderen Filmerfahrungen der Berlinale 2016. Man wird mit Depardieu durch den Wald wandern können („The End“ aka „The Wandering“), vielleicht gibt man auch den Filmen, die im arabischen Raum spielen („A Maid for Each“ aus dem Libanon klingt spannend), eine echte Chance. Oder man geht zur Hachimir Madness ins Arsenal-Kino, um japanische 8mm-Punkfilme zu feiern. Oder man besucht die Woche der Kritik mit Grandrieux („Despite the Night“) und Zulawski („Cosmos“). „Théo et Hugo dans le même bateau” soll laut Wieland Speck eine schöne Jacques Rivette-Hommage sein. Wo doch die Nouvelle Vague ihre ersten Weihen auf der Berlinale genossen hat, wäre das ein schöner Bogenschluss.

Baden Baden (Rachel Lang, Forum)

Der Rachel Lang-Film “Baden Baden” ist meine Wild Card. Allein, um diesen Titel zu wählen, braucht es Eier so groß wie ein Volkswagen. Die Bilder, die bisher verröffentlicht wurden, sehen fantastisch aus. Auf den Film habe ich einfach Lust. Das kann natürlich auch völlig nach hinten losgehen. Aber dafür ist die Berlinale eben auch da. Versucht doch die Panorama-Doku „The Lovers and the Despot“ über das von Kim Jong-il entführte südkoreanische Starschauspieler-Paar. Der Hollywood Reporter-Kritiker Todd McCarthy mochte den sehr. Oder ihr gebt dem ghanaischen Film „Nakom“ eine Chance. Oder ihr schaut euch den umfeierten australischen Film „Girl Asleep“ an. Oder ihr versucht den chilenischen Film „Plants“, der interessant ausschaut. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Wild Card-Plätze unbegrenzt. Noch zwei Rate-Versuche ins Blaue: “Don’t Call Me Son” von Anna Muylaert, deren letzter Film “The Second Mother” sehr viel Lob bekommen hat. Oder auch der Panorama-Eröffnungsfilm „I, Olga Hepnarova“ über die Frau, die als letzter Mensch in der Tschechoslowakei per Todesstrafe umgebracht wurde.

Links: - Goldener Bär für Iran?, - Mehr Ulrike Ottinger

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