Dienstag, 3. September 2019
Einen Goldenen Löwen für den „bemalten Vogel“

Kommt nie an: Petr Kotlar | © Václav Marhoul – Silver Screen
Klug programmiert: Nachdem der Hollywoodzirkus um die Oscars weiter nach Toronto zieht, präsentiert Venedig-Chef Alberto Barbera der Presse den schwarzweißen Fast-Dreistünder „The Painted Bird“. Er ist einer der besten Filme der Konkurrenz – und harter Tobak.

„The Painted Bird“ von Václav Marhoul ist wie Homers Odyssee, hätte sie Hieronymus Bosch auf die Leinwand gemalt. In so klaren wie verstörenden Schwarzweißbildern erzählt die tschechische Produktion Horrorvisionen um einen jüdischen Jungen während des Zweiten Weltkrieges in einem unbestimmten osteuropäischen Land, der zu überleben versucht. Seine Eltern verstecken ihn vor ihrer Deportation bei einer alten Bäuerin auf dem Land; die verstirbt aber plötzlich. Fortan taumelt der Namenlose von Dorf zu Dorf und erfährt die Gräueltaten des Krieges im Hinterland.

Zu einem der fortgeschrittendsten, aber nie gedrehten Filmprojekten Stanle Kubricks gehörte Louis Begleys Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“. Die Geschichte und Motive ähneln der literarische Vorlage um „The Painted Bird“. Aber nach Steven Spielbergs Herangehensweise an den Holocaust mit „Schindlers Liste“ in den 1990er-Jahren ließ nicht nur Kubrick sein Projekt fallen – auch ein Regisseur wie Billy Wilder gab seine Ideen auf. „Ich dachte, beim Holocaust sei es um die Ermordung von sechs Millionen Juden gegangen – und nicht um die Rettung ein paar hundert“, merkte Kubrick spitzfindig an. Die Zeit scheint reif zu sein für einen so schwer zu ertragenden Film wie „The Painted Bird“, auch wenn der Holocaust nicht im Zentrum der Erzählung steht – er im Hinterkopf aber stets präsent bleibt.

Die literarische Vorlage von „The Painted Bird“ ist berüchtigt: In den 1960er-Jahren wurde sie als eines der authentischsten Zeugnisse zum Thema Holocaust und Umgang mit Juden im Zweiten Weltkrieg gefeiert. In den 1980er-Jahren kam heraus, dass der Autor sich diverse der Geschichten bei polnischen Autoren zusammengeklaut hatte. Die filmische Erzählung um den Jungen in „The Painted Bird“ ist also eine Form von komprimiertem Leid. Einmal zeigt Harvey Keitel als katholischer Priester dem Kind in der Kirche ein Bild Jesu auf dem Kreuzweg und sagt, dass der Junge auf einer ähnlichen Reise sei. Der Protagonist ist ein Stellvertreter für alle namenlosen Kinder, denen keine faire Chance im Leben geschenkt wurde.
Wie Leone ohne Oper
Die Reise bringt den Jungen zu einer Wassermühle, in der der eifersüchtige Udo Kier dem schönen Müllersgehilfen beide Augen mit einem Löffel ausdrückt. Der Junge wird in einen Sack gepackt und verdroschen, in den Boden eingegraben und von Raben attackiert. Fast muten einige Episoden wie sehr düstere alptraumhafte Märchen an. Gleichzeitig zeigen sie Menschen auf allen Seiten, die der Krieg auf ihre Instinkte reduziert hat – sei es bei den noch wie im Mittelalter lebenden Bauern, den Heilerinnen und Vogelfängern oder bei den sowjetischen oder deutschen Soldaten. Auch der Protagonist kann in dieser Welt nicht unschuldig bleiben.

Marhoul inszeniert das Ganze wie ein Sergio-Leone-Epos ohne die Opernelemente. Das Knarzen und Quietschen der Eröffnungssequenz von „Spiel mir das Lied vom Tod“ macht dagegen den Stil des gesamten Soundtracks der tschechischen Produktion aus. Einzelne Wassertropfen, die aus der nassen Kleidung auf die kochend heiße Herdplatte fallen, das Fiepen der Ratten, die sich in einem Bunker verstecken, das Abrupfen des vertrockneten Maises, der einen noch einen Tag weiterleben lässt. Spricht der Junge anfangs noch, lernt er doch sehr schnell, dass jede falsche Wort, ja, jede bereits auffällige Geste oder Handlung zu seinem Tod führen kann. So ist „The Painted Bird“ nahezu ein Stummfilm, der mich aber auch gerade deshalb von der ersten bis zur letzten der 169 Minuten gefesselt hat. Die Bildsprache ist so stark, dass sie den Film trägt. Vor allem auch die unzähligen Großaufnahmen dieser interessanten, hässlichen und schönen Charaktergesichter sind unvergesslich.

Das ist wohl eines von zwei, drei Werken, die am Ende dieses Venedig-Festivals bleiben werden. „The Painted Bird“ ist eine knüppelharte Herausforderung. Es ist aber angesichts der heutigen politischen Verhältnisse eine Herausforderung, die jeder Mensch mit Verstand eingehen sollte, um die Verhältnisse von damals nie wieder aufkommen zu lassen. Ich wünsche der Produktion den Goldenen Löwen.

Links: - Joker am Lido, - Baumbachs Marriage Story

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