Montag, 20. Februar 2017
Berlinale 2017: Dominik Grafs Doku "Offene Wunde deutscher Film"

© Internationale Filmfestspiele Berlin
Der deutsche Film in all seinen Ausprägungen war eigentlich das Aufregendste an der diesjährigen Berlinale. Mit Dominik Grafs Doku "Offene Wunde deutscher Film" konnte man beispielsweise auf Spurensuche nach sehenswertem deutschen Genrekino in früheren Jahrzehnten gehen. Eine Filmkritik von Michael Müller

Die Dominik-Graf-Doku „Offene Wunde deutscher Film“, die Fortsetzung von „Verdammte Liebe deutscher Film“, ist wie ein unsortierter Gemischtwarenladen über eine alternative deutsche Filmgeschichte der Nachkriegsjahrzehnte. Sie glänzt immer wieder mit goldenen Anekdoten-Nuggets und macht jede Menge Spaß, obwohl sie wild hin und her springt: Eben erzählt noch Klaus Lemke davon, wie er in den 1960er-Jahren mit Mick Jagger abhing, da geht es schon um den NDW-Film „Gib Gas – Ich will Spaß!“ mit Nena und Markus in den 1980er-Jahren. Zwischendrin erklärt der Filmkritiker Olaf Möller fünf Minuten lang den deutschen Heimatfilm. Gelegentlich schaltet sich auch Graf selbst aus dem Off mit Zitaten ein.

Ob das Chaos Teil des Erzählkonzepts ist, kann jeder für sich entscheiden. Es lenkt auf jeden Fall gekonnt davon ab, dass es sich bei „Offene Wunde deutscher Film“ größtenteils um Talking Heads vor der Kamera handelt. Womöglich war das inhaltliche Vorbild der Gang der beiden Protagonisten in Lemkes Film „Rocker“ über die voll befahrene und nicht abgesperrte Straße, den auch Graf in einem Ausschnitt präsentiert. Wildheit war die Idee. Der Fokus sollte von daher auf dem Inhalt und den ausgewählten Persönlichkeiten liegen, die Graf repräsentativ für das deutsche Genrekino ins Schaufenster stellt. Es geht um Filmemacher wie Roger Fritz („Mädchen, Mädchen“), Peter F. Bringemann („Theo gegen den Rest der Welt“), Carl Schenkel („Abwärts“), Wolfgang Petersen, Wolfgang Büld („Manta, Manta“), Eckhart Schmidt („Der Fan“), Achim ‚Akiz’ Bornhak („Das wilde Leben“), Nikolai Müllerschön („Der rote Baron“) und Georg Tressler („Sukkubus“).
Vorbild SigiGötz-Entertainment
Wenn man so will, ist das die Dokumentation zum alternativen deutschen Filmkanon, den die Kultzeitschrift SigiGötz-Entertainment vor einigen Jahren aufgestellt hat. Nicht zufällig ist mit Rainer Knepperges auch ein SGE-Autor als Experte von Graf befragt worden. Kritisch könnte man hinterfragen, ob es denn diesen alternativen Blick auf die deutsche Filmgeschichte braucht. Müssen die in England produzierten Direct-to-DVD-Sexploitationfilme eines Wolfgang Büld um Männer fressende Vaginas unbedingt ein größeres Publikum finden? Das ist aber wohl der falsche Denkansatz. „Offene Wunde deutscher Film“ will zeigen, dass es immer eine Kontinuität im deutschen Genrefilm gegeben hat und es regelmäßig außergewöhnliche Arbeiten und Talente gab, dass diese Fortführung des Genres aber meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit und auf privates Betreiben einzelner Heroen geschah.

Die Deutschen haben – das kann man so laut der Doku vereinfachen – seit der Nazizeit (?) einen Hau weg und größte Probleme mit dem Medium Film, gerade, wenn es um die Darstellung des Bösen und um echtes Genrekino geht. Ein interessanter Fakt, den die Doku thematisiert, ist zum Beispiel, dass die Zeitschrift Filmkritik in ihrer Besprechung des James-Bond-Films „Man lebt nur zweimal“ es nicht zustande gebracht hat, den Namen der deutschen Schauspielerin Karin Dor zu erwähnen. Alles Kommerzielle war verpönt und wurde intellektuell abgelehnt.
Kleines Denkmal für Carl Schenkel
Richtiggehend aufgesogen habe ich die biografischen Körnchen und Anekdoten zu Carl Schenkel, dem Regisseur des 1980er-Jahre-Aufzugs-Thriller „Abwärts“. Dessen Karriere hat mich immer fasziniert. Zumal mein Vater passionierter Schachspieler ist und früher einmal eine Schwäche für den Christopher-Lambert-Film „Knight Moves“ hatte. Das brachte mich dazu, diesen wundervoll bizarren Film viel zu früh im Leben sehen zu können. Das sind bekanntlich die Filmerfahrungen, die bleiben und prägen. Da ist es zweitrangig, ob das Meisterwerke sind, sondern ob sie magische Szenen und Momente für das Unterbewusstsein hinterlassen haben. Im Delphi-Palast war bei der Weltpremiere von "Offene Wunde deutscher Film" am Freitagabend ein vereinzeltes Graf’sches Lachen zu hören, als einer der Produzenten pointiert erzählte, wie es zu Schenkels verfrühtem Ableben gekommen ist. Die Stichworte lauten körperaufbauende Präparate.

Auch sehr hellhörig wurde ich bei dem deutschen Filmtraumpaar Werner Enke und May Spils, die zusammen den 1960er-Jahre-Blockbuster „Zur Sache, Schätzchen“ aus dem Nichts geschaffen hatten. Da verpasste ich leider schon ihr Frühwerk bei der letztjährigen Berlinale-Retrospektive zum Filmjahr 1966. Allein dieser Aspekt der deutschen Filmgeschichte wäre eine eigene Doku wert gewesen. Das ist eben auch das wehmütige Element des Films, dass nämlich trotz der fast zwei Stunden Laufzeit vieles nur angerissen wird.

Die neue Graf-Doku predigt zu Bekehrten. Sie ist nicht unbedingt an Einsteiger und Neugierige gerichtet, sondern sie beschwört einen Geist, der unter einer bestimmten Gruppe deutscher Cineasten angesagt ist. Ich habe das mit Vergnügen gesehen, bezweifle aber, ob das die Dokumentation ist, wenn sie auf Arte ausgestrahlt wird, die neue Generationen für dieses Kino zu begeistern weiß. Aber jetzt, wo die Doku draußen ist, gibt es einen neuen Orientierungspunkt, der auch als Startpunkt für Diskussionen und noch spannendere Entdeckungen genommen werden kann. Es ist einfach gut, dass es „Offene Wunde deutscher Film“ gibt. Der Filmtitel ist sowieso über allem erhaben.

Links: - "4 Blocks", - "Aus einem Jahr der Nichtereignisse"

... comment