Donnerstag, 14. Februar 2019
„Synonyme“: Der nicht mehr hebräisch spricht

Beeindruckt in seinem Schauspieldebüt: Tom Mercier | © Guy Ferrandis / SBS Films
Israelischer Film mit Bären-Chancen: Das Portrait eines innerlich zerrissenen Israelis, der nach Paris auswandert, um die hebräische Sprache abzulegen, zählt zu den stärksten Wettbewerbsbeiträgen dieser Berlinale. Von Michael Müller

Das sei gleich klargestellt: Ein Wolhfühlfilm ist das neue Werk des israelischen Regisseurs Nadav Lapid, das „Synonyme“ heißt, ganz sicher nicht. Es ist ein teils frostiger Film, der den Zuschauer herausfordert. Sein Protagonist, der junge Yoav (Tom Mercier), steckt in einer ernstzunehmenden Lebenskrise fest. Als Ursache dafür hat er seine Heimat Israel ausgemacht. In einer Spontanaktion reist er nach seinem Militärdienst nach Paris. Nie wieder will er die hebräische Sprache verwenden. Frankreich und vor allem die französische Sprache sollen seine neue Heimat werden. Ästhetisch betrachtet ist „Synonyme“ auch gewiss eine der spannendsten Produktionen des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs, der am Samstag zu Ende geht.

Gleich in einer der ersten Szenen ist Yoav kurz vor dem Erfrieren. In einer eiskalten Pariser Wohnung sitzt er nackt in der Badewanne und überschüttet sich mit Wasser. Es mutet wie ein gesuchter Selbstmord an. Zwei junge Franzosen finden ihn gerade noch rechtzeitig. Während Caroline (Louise Chevilotte) den Notdienst anrufen will, wärmt Emile (Quentin Dolmaire) Yoav pragmatisch mit seinem eigenen Körper.

Wer jetzt zwischen diesen jungen Erwachsenen eine klassische Ménage-à-trois erwartet, wie es in einem französischen Liebesfilm üblich wäre, wird enttäuscht. Ja, es gibt zwischen den dreien Sex, platonische Liebe und tiefschürfende Gespräche. Aber diese Geschichte spielt sich im Hintergrund ab. Dem Film geht es vorrangig um Yoavs israelische Identität, die der Regisseur Lapid ein Stück weit mit den Gewissensfragen der gesamten jungen Generation Israels gleichsetzt.
Nicht nur eine Sprache, sondern eine Kultur ablegen
Yoav probiert die französische Sprache aus wie die edel geschneiderte Kleidung, die ihm seine französischen Freunde beim ersten Treffen schenken. Sein Großvater sei dabei sein Vorbild. Der habe das Jiddische abgelegt, als er nach Palästina unter britischem Mandat auswanderte. Yoav kauft sich ein Wörterbuch. Negative Adjektive wie „feige“ oder „brutal“ sind seine erste große Leidenschaft. Er will sein Land auf Französisch charakterisieren und anfeinden können, wenn er sich darüber unterhält. Dabei verzichtet er bewusst auf biblische Metaphern und greift lieber auf die griechische Mythologie zurück. Besonders Homers „Ilias“ hat es ihm angetan. Er will sich nicht nur der hebräischen Sprache, sondern gleich seiner ganzen Kultur entledigen.

Es ist sein Versuch, sich im Exil als Israeli neu zu erfinden. Die Anhaltspunkte für diesen radikalen Schritt muss sich der Zuschauer selbst zusammensuchen. Offensichtlich hat dabei sein dreijähriger Militärdienst auf den Golanhöhen eine wichtige Rolle gespielt. Einmal erzählt er, wie er bei einer Maschinengewehr-Übung im Takt eines französischen Chanson gefeuert hat, bis die Zielscheibe vor lauter Schüssen zersiebt war.

Keine klassische Ménage-à-trois | © Guy Ferrandis / SBS Films
Ein anderes Mal erwähnt er eine Versammlung von israelischen Soldaten auf einem Militärfriedhof, wo zwei leicht bekleidete Frauen den israelischen Eurovision-Songcontest-Klassiker „Hallelujah“ singen. Die Ironie dieser Szenarien kann einem nicht entgehen. Da Yoav aber kein verlässlicher Erzähler, sondern ein Fabulierer und Geschichtenerzähler ist, bleibt offen, was ausgedacht oder tatsächlich passiert ist. Er ist eigentlich ein beißend satirischer Poet, der sich aber ganz bewusst seines wichtigsten Werkzeugs, nämlich der Sprache, beraubt hat.

Weil Yoav Künstler ist, fällt es ihm sehr schwer, eine reguläre Arbeit in Frankreich zu finden. Letztlich greifen seine alten Militärverbindungen. Er trifft israelische Sicherheitsbeamte, die bei der israelischen Botschaft in Paris und bei privaten Firmen arbeiten. Regisseur Lapid gibt hier einen selten gezeigten Einblick in die Befindlichkeiten dieser Menschen, der aber auch satirisch zugespitzt erscheint: Die Sicherheitsbeamten gehen sich zur Begrüßung erst einmal an die Gurgel. Es ist ein brutales, kindisches Kräftemessen, was im Ringkampf auf dem Schreibtisch endet. Einer von ihnen erzählt, dass sie sich demnächst mit französischen Neonazis irgendwo draußen zu einer Schlägerei nach striktem Regelwerk verabreden.
Antisemitismus mit israelischen Hymne austreiben
Der muskelbepackte Sicherheisbeamte, mit dem sich Yoav anfreundet, hat auch ein besonderes Hobby: Er geht in die U-Bahn oder in Straßencafés, um Antisemiten ausfindig zu machen. Dafür setzt er seine Kippa auf und beginnt die israelische Nationalhymne zu singen – am Ende der Szene schreit er U-Bahn-Passagiere die Hymne regelrecht ins Gesicht. Sein großer Traum wäre es gewesen, wenn er bei der Geiselnahme im jüdischen Supermarkt während des Angriffs auf die Redaktion von Charlie Hebdo dabei gewesen wäre – oder bei dem Terroranschlag in Nizza. Die Islamisten hätte er mit seinem Körper zerschmettert, deutet er mit einer in die Luft gehauene Kopfnuss an.

Lapid findet für Yoavs Zerrissenheit und Unruhe immer wieder kreative Bilder. Eine Party filmt er etwa nur ab Hüfthöhe abwärts. Ein schnell an und aus geschalteter Lichtschalter sorgt für ein visuelles Gewitter. Wiederholt gibt es wilde Spaziergänge, die mit Handkamera aufgenommen wurden und die klassische Pariser Bildmotive verweigern. In dem israelischen Schauspieler Tom Mercier hat Lapid einen Hauptdarsteller gefunden, der sich als Yoav seelisch wie körperlich komplett aufopfert. Es ist tatsächlich Merciers erster Film. In seiner Leinwandpräsenz und Energie ist es bei ihm unmöglich wegzuschauen, obwohl er sich in teils absurd abgründige Abenteuer begibt. Ein Silberner Bär als bester Darsteller wäre gerechtfertigt.

Regisseur Lapid mit Darstellerin Chevilotte | © Guy Ferrandis / SBS Films
In der Verachtung die Heimat wiederfinden
„Synonyme“ ist eine zutiefst emotionale, harte und auch verstörende Auseinandersetzung mit der israelischen Psyche. Unfair ist Regisseur Lapid dabei nicht. Aber er will natürlich auch die hässliche Fratze und die Abgründe beschreiben. Der jahrzehntelange israelisch-palästinensische Konflikt habe tiefe und negative Spuren in den Köpfen seiner Landsleute hinterlassen, sagte er im Interview. Die Geschichte von Yoav sei seine Geschichte. Lapid, der den Film seiner kürzlich verstorbenen Mutter und Cutterin Era Lapid gewidmet hat, ging selbst nach seinem Militärdienst nach Paris.

Am stärksten fasziniert aber der Aspekt, dass umso mehr der Film Yoavs Probleme mit der israelischen Heimat schildert, umso stärker auch seine Verbundenheit durchscheint. In der französischen Fremde findet er kein neues Zuhause. Er findet eine Sprache, die nicht passen will. Er trifft auf eine Oberflächlichkeit, Luxusprobleme und eine politische Korrektheit in der Pariser Gesellschaft, die ihn nicht interessiert. Es reift in ihm die Erkenntnis, dass in seiner Heimat viel falsch läuft, dass es aber seine Heimat ist und er nicht davor weglaufen kann.

Wenn am Samstag im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Silbernen Bären und der Goldene Bär für den besten Film vergeben werden, ist „Synonyme“ nicht chancenlos. Die französische Jurypräsidentin Juliette Binoche ist eine echte Cineastin. Das macht Hoffnung. Der letzte große israelische Auszeichnung auf der Berlinale war der Silberne Bär für die beste Regie an Joseph Cedar im Jahr 2007 für den Film „Beaufort“.

Verheißungsvolle Staffelauftakt zu „False Flag“ © Rotem Yaron
Berlinale und Israel: Das passt
Die Bilanz des israelische Films auf dem wichtigsten deutschen Filmfestival fällt wieder positiv aus. Neben „Synonyme“ lief auch noch außer Konkurrenz der Thriller „Die Agentin“ mit Diane Kruger als Mossad-Agentin im Wettbewerb. Das Werk war zwar herrlich egal. Aber es brachte den israelischen Regisseur Yuval Adler nach Berlin, der zu den verheißungsvollsten Talenten seiner Generation zählt. Über den sehr empfehlenswerten Polizistenfilm „Chained“ in der Panorama-Sektion schrieb Negative Space bereits.

Der Israeli Nimrod Eldar debütierte mit dem unaufgeregten Vater-Tochter-Drama „The Day After I’m Gone“, der mit einem angezündeten Soldatendenkmal im einer Siedlung im Westjordanland das Thema der BDS-Boykottbewegung streift. Aber eigentlich geht es um Familienprobleme nach dem frühen Tod der Mutter und einem versuchten Selbstmord der Tochter. Sehr verheißungsvoll waren die ersten beiden Episoden der zweiten Staffel von „False Flag“. In der TV-Serie geht es um den Bombenanschlag auf eine gemeinsame Ölpipeline von Israel und der Türkei. Hier kann man dem Inlandsgeheimdienst bei der Arbeit über die Schulter schauen. Mit welchen technischen Finessen der Schabak inzwischen Terroristen auf die Spur kommt, ist beängstigend und faszinierend zugleich.

Die guten Beziehungen zwischen der israelischen Filmindustrie und der Berlinale unterstrich auch ein Tribut an die Sam-Spiegel-Filmschule in Jerusalem. Anlässlich des 30-jährigen Bestehens gab es unter dem Titel „Scarred Generation“ eine Zusammenstellung von deren besten israelischen Kurzfilme der letzten Jahrzehnte zu entdecken.

... comment

 
Yoav, nicht Yuval
Danke für die ausführliche Kritik, die ich sehr unterstützen kann. Der von Tom Mercier gespielte Hauptprotagonist heißt allerdings nicht "Yuval", sondern eindeutig "Yoav"...

... link  

 
Danke für den Hinweis, Lucan! Kann mir noch nicht erklären, wo ich den anderen Vornamen her habe. Auf der Berlinale-Seite sowie im Presseheft steht's richtig. Vielleicht durch Yuval Adler, der auch einen Film im Programm hatte.

... link  


... comment