Donnerstag, 15. Dezember 2016
Berlinale-Wettbewerb: Eine erste Duftmarke

"Colo" von Teresa Villaverde © Alce Filmes
Die ersten zehn Berlinale-Wettbewerbsfilme zeigen, wo Dieter Kosslick 2017 hin will: Das Festival soll eigene Auteurs wachsen lassen und vor allem Regisseurinnen eine Weltbühne bieten. Eine Analyse von Michael Müller

Die Reaktionen über Twitter reichten bei den ersten Programmdetails des Berlinale-Wettbewerbs 2017 von begeistert bis desillusioniert. Der britische Variety-Kritiker Guy Lodge schrieb: "First Berlinale announcements are mighty tasty. Can't wait for the new Călin Peter Netzer and Sebastián Lelio." Dann ergänzte er seine Berlin-Bilanz: "Four of the seven years I've been to the Berlinale, I've seen my eventual favourite film of the year there. Their lineup's as exciting as Cannes to me." Besser geht's nicht. IndieWIRE-Chefkritiker Eric Kohn sah einen vielversprechenden Auftakt.

Auch der italienische Über-Cineast und Präsident der International Cinephile Society, Cédric Succivalli, twitterte aufgeregt: "Kaurismäki (!), Moverman, Holland, Veiel, Potter, Enyedi, Vilaverde, Gomis (!), Lelio & Călin Peter Netzer to compete for the Golden Bear. Four women directors (!) out of only 10 competition entries so far. I am so looking forward to re-discovering Enyedi and Villaverde's works!" Aber es gab auch andere Reaktionen. Der von mir sehr geschätzte Cargo- und Perlentaucher-Kritiker Lukas Foerster sagte: "Ich fühle mich gerade in meiner Entscheidung, nicht zur Berlinale zu fahren, aber sowas von bestätigt. Die Filme, die gerade verkündet wurden, lassen business as usual im allerschlechtesten Sinn befürchten."
Eigene Auteurs wachsen lassen
Ich zähle eindeutig auch zur begeisterten Seite. Die ersten zehn Wettbewerbsfilme sind verheißungsvoll. Mir sagt vor allem die von Foerster kritisierte Kontinuität zu. Ich hätte zum Beispiel darauf gewettet, dass sich Cannes den neuen Film von Călin Peter Netzer abgreift. So wie es Thierry Frémaux bereits mit dem früheren Goldenen-Bären-Gewinner Asghar Farhadi ("Nader & Simin") gemacht hat. Aber Netzer, der für "Mutter & Sohn" im Jahr 2013 den Goldenen Bären gewann, bleibt der Berlinale treu. Seinen Film "Ana, mon amour", den kunstvolle Zeitsprünge auszeichnen sollen, präsentiert er nach einer vierjährigen Kunstpause in Berlin.

Auch, dass der Chilene Sebastián Lelio nach seinem Triumphfilm "Gloria" in den Wettbewerb mit "A Fantastic Woman" zurückkehrt, werte ich als gutes Zeichen. Zumal der Lelio-Film von Maren Ades Produktionsfirma Komplizen Film co-finanziert wurde. Es geht um die Beziehung einer Transsexuellen zu einem älteren Mann, der einen Herzinfarkt in Santiago de Chile erleidet.

Das sind jetzt die selbst hoch gepushten Auteurs von Dieter Kosslick, die im nächsten Werk liefern müssen. Darauf darf man gespannt sein. Da wird das Ereignis, dass auch der neue Aki Kaurismäki ("The Other Side of Hope") in Berlin läuft, wie Negative Space bereits richtig spekulierte, fast zur schönen Nebensache. Richtig gefreut habe ich mich ebenso über den Senegalesen Alain Gomis, der mit "Félicité" in den Wettbewerb zurückkehrt. Sein Film "Aujourd'hui" wurde 2012 als kleines Wunder auf der Berlinale wahrgenommen. In "Félicité"" kämpft die titelgebende Mutter um das Leben ihres Sohnes, der bei einem Motorradunfall verletzt wurde. Während sie in Kinshasa Hilfe sucht, muss sie sich auf der Reise auch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.
Frauenpower von Vergessenen
Wohin der Blick auch wandert, es lauern überall spannende Geschichten. Ja, die verhältnismäßig vielen Filmemacherinnen stechen ins Auge. Es sind vor allem Frauen, von denen es länger wenig Neues gab. Mal sehen, was sie nach ihren Auszeiten und Karriere-Abzweigungen 2017 zu erzählen haben. Das gilt für die Ungarin Ildiko Enyedi ("On Body and Soul"), genauso wie für Sally Potter ("The Party") oder die Polin Agnieszka Holland ("Pokot"). Wobei der Potter-Film bei diesem Staraufgebot schon ein bisschen nach Wettbewerbsleiche müffelt. Aber hey, wer sagt schon bei Kristin Scott Thomas nein.

Ich fand zwar in diesem Jahr den portugiesischen Wettbewerbsbeitrag "Letters from War" relativ egal, aber Portugal bleibt für mich dank der Sprache und den Talenten ein aufregendes Filmland. Das gilt auch für "Colo" (im Bild) von Teresa Villaverde. Das ist wieder eine Frau, die früh in der Karriere viele Lorbeeren auf Festivals einheimste und dann etwas von der Bildfläche verschwand. Spannend klingt auch das Comeback des israelischen Amerikaners Oren Moverman, der mit "The Dinner", der Adaption eines niederländischen Bestsellers und Richard Gere, Laura Linney und Chloë Sevigny wieder einen bleibenden Eindruck hinterlassen will. In diesem Fall schrecken mich die Stars nicht ab, sondern verstärken eher die Hoffnung auf Qualität.
August Diehl spielt Karl Marx
Die restlichen Bekanntgaben sind nicht ohne Reiz: Die deutsche Presse klammert sich an den bislang einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag "Beuys" von Andres Veiel. Seine Dokumentation heftet sich an die Spuren der Kunstschlüsselfigur der 1960er-Jahre, Joseph Beuys. In diesem Jahr schaffte es mit "24 Wochen" ein einziger deutscher Film in den Wettbewerb. Mal sehen, ob 2017 mehr Platz für von Donnersmarck, Gerster oder weniger bekannte deutsche Namen ist.

Die Wiederaufführung von Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie "Acht Stunden sind kein Tag", der kubanische Film "Last Days in Havana" und "Der junge Karl Marx" mit August Diehl wecken mein Interesse. Letzterer Film ist von Raoul Peck, der aktuell auf zahlreichen amerikanischen Bestenlisten mit dem Film "I Am Not Your Negro" steht. Die 67. Filmfestspiele von Berlin finden vom 9. bis 19. Februar 2017 statt. Die erste Duftmarke ist Berlinale-Direktor Dieter Kosslick geglückt. Netzer, Kaurismäki, Gomis, Lelio, Peck und Moverman klingen erst einmal nach einem starken Jahrgang.

Links: - Mehr Spekulationen, - Helmut Käutner in Berlin

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