Samstag, 24. September 2016
Deutsche Filmgeschichte neu schreiben

© Deutsches Filminstitut DIF e.V.
Die Locarno-Retrospektive zum deutschen Nachkriegsfilm, die im August lief, kommt im Oktober ins Deutsche Filmmuseum nach Frankfurt. Die Reihe von zwanzig Filmen ist ergänzt und thematisch erweitert worden. Nach den Vorführungen wird dringend eine Überarbeitung der deutschen Filmgeschichte angeraten, findet "Negative Space"-Redakteur Michael Müller.

„Die meisten Filme, die ich damals geguckt habe, würde man heute als Eskapismus-Filme bezeichnen: Wörthersee, Gunther Philipp, Peter Weck und natürlich Peter Alexander.“ Das erzählt der heutige Berlinale-Chef Dieter Kosslick im Jahr 2007 bei einem schummerigen Gespräch mit Gero von Boehm. Kosslick dachte damals laut darüber nach, eine Retrospektive zu diesen Unterhaltungsfilmen der 1950er- und 1960er-Jahre zu machen. Eine Berlinale-Rückschau über Heimatfilme zum Beispiel, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Seelen der Menschen wieder heilen mussten. Oder auch über die Komödien der Zeit, die mit relativ schlichten Mitteln die Deutschen wieder zum Lachen brachten. Aus Kosslicks Traum, den die eigenen frühen Kinoerfahrungen speisen, ist bis heute leider keine Retrospektive geworden. Neidvoll muss Kosslick deshalb diesen August nach Locarno geblickt haben, als das Festival mit einer über 70 Filme starken Retrospektive das deutsche Nachkriegskino feierte. Noch neidvoller müsste der Blick aber jetzt ausfallen, wenn der Berlinale-Chef auf das schaut, was das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main daraus weiterentwickelt hat.

„Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963“ hieß nicht nur die Retrospektive in Locarno, sondern auch das sehr lesenswerte Begleitbuch des Deutschen Filminstituts, das zeitgleich erschien. Nur war diese Veranstaltung in der Schweiz aufgrund der Wegstrecke quasi ausschließlich für Tageskritiker und Über-Cineasten geeignet. Es hatte schon was, wenn der Sight & Sound-Kritiker Jonathan Romney von dort twitterte: „One of my Locarno highlights: DER VERLORENE (1951), b/w drama directed by and starring Peter Lorre. He's even stranger in German.“ Oder die britische Filmkritikerin Carmen Grey plötzlich vom deutschen Regisseur Wolfgang Staudte schwärmen zu hören: „Post-war denial can't erase a Wehrmacht deserter soldier's body in KIRMES (1960). What a wonderful film!“ Aber letztlich waren es doch die gleichen Rosinen, die sich bereits Joe Hembus und seine Mannen in den legendären Citadel-Büchern der frühen 1980er-Jahre als Highlights der deutschen Unterhaltungsindustrie herausgepickt hatten.
Poetischer, sinnlicher und abgründiger als sein Ruf
Umso schöner ist es, dass das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt zwar wichtige Filme der Locarno-Reihe jetzt über den gesamten Oktober verteilt nachspielt („Rosen blühen auf dem Heidegrab“, „Kirmes“), aber auch – nach Absprache mit dem Locarno-Kurator Olaf Möller – eine große Zahl an weiteren entdeckungswürdigen Werken nachlegt. Das Anliegen dieser Schau ist es, zu zeigen, dass das Kino der Adenauer-Ära sich bei genauerem Hinsehen als vielgestaltiger, ambivalenter und brüchiger erweist, als gängige filmhistorische Erzählungen glauben machen wollen. In den Augen der Programmierer ist es vor allem politischer, poetischer, ästhetisch ambitionierter und abgründiger, wilder und sinnlicher als sein Ruf. Die Filmschau in Frankfurt richtet den Blick etwas weg vom Genre des Kriminalfilms, der noch in Locarno im Mittelpunkt stand. Frankfurt legt einen starken und somit gewagten Akzent auf den verpönten Heimatfilm. Das kann nur spannend werden.

Eröffnet wird die Frankfurter Retrospektive, das verspricht das Presseheft, von zwei Meisterwerken: Helmut Käutners „Schwarzer Kies“ und Harald Brauns „Der gläserne Turm“. Zu den meisten Filmen wird es thematisch passende Kurzfilme im Programm geben. Der Locarno-Kurator und Filmkritiker Olaf Möller wird einen Großteil der Einführungen sprechen. Im November ist eine Fortsetzung des Programms angekündigt, unter anderem mit Helmut Käutners „Die Rote“ und Peter Pewas‘ „Viele kamen vorbei“. Das Programm in Frankfurt ist so umfangreich und die Texte zu den einzelnen Werken so gut geschrieben, dass ich einen längeren Blick in das unten verlinkte Programmheft empfehlen kann. Ich freue mich besonders auf alle Filme von meinem neuen Spezi Harald Braun ("Der gläserne Turm", yes) und Rolf Hansen sowie die abseitigeren Entdeckungen, von denen ich noch nie gehört habe (z. B. "Schwedenmädel", "Klettermaxe", "Die Frauen des Herrn S."). Auch auf die Spezialvorführungen ("Nackt, wie Gott sie schuf") bin ich gespannt.

Eine erste Oktober-Übersicht:

Sonntag, 09.10.

PÜNKTCHEN UND ANTON (BRD 1953, Thomas Engel)
15:00 Uhr - außer Konkurrenz

DER GLÄSERNE TURM (BRD 1957. R: Harald Braun)
17:30 Uhr - Einführung: Olaf Möller

SCHWARZER KIES (BRD 1961. R: Helmut Käutner)
20:15 Uhr - mit Vorfilm - Einführung: Olaf Möller

Montag, 10.10.

DAS DORF UNTERM HIMMEL (BRD 1953. R: Richard Häussler)
19:00 Uhr - mit Vorfilm - Einführung: Olaf Möller

DAS LIED VON KAPRUN (BRD 1955. R: Anton Kutter)
21:15 Uhr - mit Vorfilm - Einführung: Olaf Möller

Dienstag, 11.10.

EINE FRAU FÜR'S LEBEN (BRD 1938/50. R: Rolf Hansen)
17:00 Uhr - Einführung: Olaf Möller

AUGEN DER LIEBE (BRD 1944/51. R: Alfred Braun)
19:00 Uhr - Einführung: Olaf Möller

SCHWEDENMÄDEL (BRD/Schweden 1955. R: T. Engel & H. Bergström)
21:00 Uhr - Einführung: Olaf Möller

Mittwoch, 12.10.

NACHTWACHE (BRD 1949. R: Harald Braun)
18:00 Uhr - Einführung: Olaf Möller

AUFERSTEHUNG (BRD/I/F 1958. R: Rolf Hansen)
20:30 Uhr - Einführung: Olaf Möller

Freitag, 14.10.

ROSEN BLÜHEN AUF DEM HEIDEGRAB (BRD 1952. R: Hans H. König)
18:00 Uhr - Einführung: Christoph Huber

Samstag, 15.10.

DIE FRAUEN DES HERRN S. (BRD 1951. R: Paul Martin)
15:30 Uhr - mit Vorfilm - Einführung: Rainer Knepperges

ALRAUNE (BRD 1952. R: Arthur Maria Rabenalt)
20:15 Uhr - mit Vorfilm - Einführung: Rainer Knepperges

Sonntag, 16.10.

ROSE BERND (BRD 1957. R: Wolfgang Staudte)
13:00 Uhr - Einführung: Christoph Huber

KLETTERMAXE (BRD 1952. R: Kurt Hoffmann)
17:00 Uhr - Einführung: Christoph Huber

Montag, 17.10.

BARBARA - WILD WIE DAS MEER (BRD 1961. R. Frank Wisbar)
18:00 Uhr - Einführung

Dienstag, 18.10.

VENUSBERG (BRD 1963. R. Rolf Thiele)
20.30 Uhr - Mit Vorfilm und Einführung

Donnerstag, 20.10.

ZWEI UNTER MILLIONEN (BRD 1961. R. Victor Vicas & Wieland Liebske)
18 Uhr

Sonntag, 23.10.

KIRMES (BRD 1960. R. Wolfgang Staudte)
18 Uhr - Mit Einführung

Freitag, 28.10.

DER ROTE RAUSCH (BRD 1962. R: Wolfgang Schleif)
20.30 Uhr - Mit Vorfilm und Einführung: Torgil Trumpler


Links: - Programmheft, - Programmübersicht Oktober

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Donnerstag, 21. Mai 2015
Richard Fleischer – der Zwang zum Bösen Werkschau eines amerikanischen Originals

Drei Werke von Richard Fleischer (r.o.)
Es wird wohl kein Filmgeschichtsbuch geben, in dem sein Name nicht auftauchen wird. Da war sich der Hollywood-Regisseur Richard Fleischer am Ende seiner Karriere in der Autobiografie „Just Tell Me When to Cry“ sicher. Ein Buch, das übrigens mit der allerersten, sehr profanen Set-Erfahrung Fleischers, nämlich dem Satz „John Wayne hasn’t shit yet“, beginnt. Manchmal kann es morgens eben auch mal länger dauern. Gerade, wenn die größte aller Filmlegenden erst den Trailer verlässt, wenn der Biohaushalt ausgeglichen ist. Fleischer spielte jedenfalls mit der Unausweichlichkeit seiner Person für die schreibende Zunft auf die eigene, ausufernde Filmografie an.

In fünf Jahrzehnten drehte er über fünfzig Spielfilme, darunter bedeutende Filmklassiker wie „20.000 Meilen unter dem Meer“ und „Die Wikinger“, die fest im kollektiven Filmgedächtnis verankert sind. Er verdiente sich noch seine ersten Sporen bei RKO, dinierte mit D. W. Griffith und wurde vom milliardenschweren Filmmogul Howard Hughes beklaut. Es wäre einfacher, die Hollywoodstars aufzuzählen, die nicht mit ihm gedreht haben. Viel bemerkenswerter ist allerdings diese Tatsache: Im Jahr 2015 existiert – mit Ausnahme der eigenen Lebensbeichte – immer noch kein englisch- oder deutschsprachiges Filmbuch über den Regisseur. Was für ein Versäumnis, möchte man denken, wenn man ihn heute in seiner Gänze wiederentdeckt!
Evolution des Geschmacks
Für mich war Fleischer sehr lange Zeit einfach nur der Regisseur einiger meiner naiven Lieblingsfilme der Kindheit („Conan – Der Zerstörer“, „Red Sonja“). Trashige Fantasy-Muskelprotz-Filme mit Arnold Schwarzenegger, denen ich bis heute keinen ernsthaften zweiten Blick antun will. Und er war der Mann hinter dem Körper erkundenden Sci-Fi-Klassiker „Die fantastische Reise“. Einem Film also, den Joe Dante in den 1980er-Jahren als „Die Reise ins Ich“ rebootete und für mein kindliches Gemüt mit Sam Cooke-Songs, dem verrückten Martin Short und Rob Bottins meisterhaften Spezialeffekten aufhübschte. Fleischers Namen auf der Zunge zergehen zu lassen, war zwar faszinierend. Ich hatte ihn trotzdem vorerst unter den so emsigen wie uninspirierten Handwerkern Hollywoods abgespeichert, wie es sie dort zuhauf gibt.

Das änderte sich schlagartig im Jahr 2004 mit dem Kinostart von „Kill Bill: Vol. 2“. Wenn Tarantino in seinen Filmen direkte Referenzen in Form von Postern oder gezeigten Ausschnitten macht, hört und sieht man schon ganz genau hin: Egal, ob es der Vietnam-Biker-Film „The Losers“ beim Blaubeerpfannkuchen-Frühstück in „Pulp Fiction“, Helmut Bergers „Der Tollwütige“ beim Kiffer-Sit-in in „Jackie Brown“ oder eben Henri-Georges Clouzots „Der Mörder wohnt in Nr. 21“ in „Inglourious Basterds“ war. In Michael Madsens Wohnwagen, wo sich die Braut mit Elle Driver einen Kampf auf Leben und Tod liefert, hängt, gut sichtbar angebracht, ein „Mr. Majestyk“-Poster an der Wand.
Elmore Leonard meisterhaft adaptiert
„Mr. Majestyk“ (dt. Verleihtitel: „Das Gesetz bin ich“) war ein recht untypischer Charles Bronson-Revenge-Flick: Viel zu ernsthaft erzählt und viel zu einfühlsam in der Liebesgeschichte inszeniert, als dass er in die Reihe des ungestümen Klischee-Bronson passte. Diese meisterliche Elmore Leonard-Adaption um einen von der Mafia drangsalierten Melonenfarmer weckte Lust auf mehr. Aber wo sollte man in diesem riesigen Werk anfangen? Es fehlten die Hinweise. Und so sammelte ich über die Jahre eher zufällig als bewusst immer mal wieder Fleischer-Perlen am Wegesrand ein: Als ich begeistert von Jack Cardiffs „Raubzug der Wikinger“ war und eine kleine Nordmänner-Phase hatte, war auch Zeit für Fleischers „Die Wikinger“.

Der ziemlich schöne Western „Vier Vögel am Galgen“, der eher spröde Gangsterfilm „Der Don ist tot“ und die Sci-Fi-Bildungslücke „Jahr 2022 … die überleben wollen“ machten zwar Spaß, aber begeisterten nicht. Dann folgte eine langgezogene Rechts-links-Kombination: Die DVD-Sammelbox The Film Noir Classics Collection Vol. 2 offenbarte im Jahr 2005 selten gezeigte Film noir-Klassiker, die eines zweiten Blickes wert waren. Darauf fand ich auch Fleischers RKO-Durchbruch „Um Haaresbreite“, einen rasch produzierten Schwarzweiß-Thriller, der komplett in einem fahrenden Zug spielt und die Enge und Beschränktheit zu seinem Vorteil auszunutzen weiß. Vor allem war man dort mit seiner Begeisterung nicht allein, denn William Friedkin hatte als großer Fleischer-Fan einen schwärmerischen Audiokommentar beigesteuert.

Die Hard-Boiled-Anfänge: der Film noir "Um Haaresbreite"
Robin Wood & das New Beverly Cinema
Der richtige Niederschlag erfolgte jedoch erst 2007 mit „Mandingo“. Ich entdeckte gerade die Filmbücher des berühmten britisch-kanadischen Filmkritikers Robin Wood. In seinem Werk „Sexual Politics and Narrative Film“ schrieb er eine vielseitige Hymne auf das verkannte Sklavenepos, einen rauschhaften Text über die Verbindung von Rasse, Sexualität und Geschlecht in Hollywoodfilmen. Er bezeichnete den Film als aufklärerische Antithese zum verlogenen Hollywood-Überfilm „Vom Winde verweht“. Der wilde Exploitationfilm ließ in seiner Rohheit erahnen, wie hart und unerbittlich das Leben der schwarzen Sklaven in Amerika gewesen sein musste, gerade weil er nichts aussparte.

Hiernach konnte man über soften Kunstquark wie „Twelve Years a Slave“ nur noch die Nase rümpfen. Ich hatte also meine drei Richard Fleischer-Meisterwerke („Mr. Majestyk“, „Um Haaresbreite“ und „Mandingo“) beisammen, aber immer noch keinen Plan, wo ich weitermachen sollte. Tatsächlich erhielt ich den erst diesen Januar, als Quentin Tarantino in seinem New Beverly Cinema eine kleine Fleischer-Retrospektive während den Dreharbeiten zu „The Hateful Eight“ programmierte. Inspiration ist bekanntlich das halbe Cineastenleben. Und nach so vielen Jahren des aufgestauten Wartens hatte ich die unbändige Lust, die nötige Zeit und die Filmkopien, um endlich im größeren Stil durchzustarten.
Du sollst keine Sandalen neben den meinigen tragen!
Am Gründonnerstag strahlte der österreichische Sender Servus-TV passenderweise Fleischers Bibelfilm „Barabbas“ aus. Das Sandalenepos mit Anthony Quinn war einer der größten Flops in der Karriere des gebürtigen New Yorkers. Ganze vier Jahre fand er keine neue Arbeit. Nach einer solchen Zwangspause kommen nicht viele Regisseure zurück. Fleischer hatte anschließend in den 1970er-Jahren seine produktivste Phase, haute jährlich fast immer zwei Produktionen raus, als wollte er zeigen, dass er so einfach nicht tot zu kriegen sei. Wenn man den Film „Barabbas“ heute sieht, versteht man sofort, warum diese prächtig ausgestattete Dino De Laurentiis-Produktion scheitern musste: Der Film erzählt nicht die klassische Jesus-Geschichte, sondern die Geschichte des Verbrechers, der an seiner Stelle vom Kreuz gelassen wurde. Noch heute wirkt diese Drehbuch-Entscheidung atemberaubend.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie wahnsinnig sie in den 1960er-Jahren zwischen den sonstigen Bibelschinken ausgesehen haben muss. „Barabbas“ ist dreigeteilt: Der Begnadigte stolpert, sein Glück nicht fassen könnend, durch Bierschänken und Hurenhäuser. Parallel wird Jesus‘ Kreuzigung und Wiederauferstehung im Hintergrund miterzählt; sie legt sich wie ein schuldbeladener Schatten auf Barabbas und lässt den Film fast surreal erscheinen. Barabbas versucht sich wieder als Räuberhauptmann, mordet und wird zu lebenslanger Zwangsarbeit in den Schwefelminen auf Sizilien verurteilt. Diese Szenen sind in ihren apokalyptischen Ausmaßen noch schwerer zu greifen. Fleischer zeichnet eine ganz reale Hölle unter der Erde. Klaustrophobisch, lebensfeindlich und unendlich brutal. Im letzten Abschnitt verschlägt es Barabbas als Gladiatorenkämpfer nach Rom. Die Action ist so spektakulär, wie Jack Palance als monströser, dauergrinsender Aufseher bösartig ist. Die Botschaft des Films ist ambiguen und dabei angenehm religionskritisch gehalten. Was für eine Entdeckung! Ich war begeistert und hatte einen Lauf.
Lebenserfahren oder -müde? Lee Marvin in "Vier Vögel am Galgen"
Richard Fleischer, Superstar
Wohin ich im New Beverly-Programmschwerpunkt zu Fleischer nun auch griff, wurde ich fündig. Zum Beispiel bei „Wen die Meute hetzt“, einem mit leidenschaftlich-heißer Nadel gestrickten Gangsterfilm-Schwanengesang über einen alternden Fluchtwagenfahrer, der es noch mal wissen will. Hauptdarsteller George C. Scott ist ein ähnlich Totgeweihter wie der in der Arena kämpfende Barabbas. Er nimmt ein Selbstmordkommando an, als er Tony Musante aus einem Gefängnistransport befreit und zwischen die feindlichen Linien der Mafia gerät. So wird es ein bitterer, melancholischer Road Trip, der viel mehr vom blutvollen italienischen Genrefilm der 1970er-Jahre als von Hollywood beatmet ist.

Fleischers Figuren gelten als gestrig und verbraucht und zeigen in existenzialistischen Ausnahmeerfahrungen, dass mit ihnen immer noch zu rechnen ist. Gleiches gilt für eben jenen George C. Scott im eher episodischen Cop-Film “Polizeirevier Los Angeles-Ost”. Sein Filmpartner Stacy Keach mag zwar der Protagonist sein, dem die Handlung bis zuletzt folgt. Aber in Erinnerung bleibt vor allem der pensionierte Scott, der im Stuhl am Fenster langsam zu dem einsamen Anrufer wird, über den er selbst im Dienst noch schmunzelte. „Polizeirevier Los Angeles-Ost“ ist vielleicht nicht eine von Fleischers besten Arbeiten, gehört jedoch zu seinen sympathischsten, weil sie auf ganz bodenständige Weise ein Gleichgewicht zwischen tragischen und schönen Momenten schafft. Und sie zeigt, dass es für den Job Polizist spezielle Typen braucht, die viel Privatheit und Freizeit aufgeben und von der Gesellschaft wenig zurück bekommen – es sei denn ein schlechtes Gehalt oder im dümmsten Fall einen Bauchschuss.
Sympathy for the Devil
Beschäftigt man sich auch nur oberflächlich mit Fleischers Filmografie, wird augenfällig, dass der Mann, dessen Vater Max Fleischer einst von Walt Disney im Cartoon War der 1920er- und 1930er-Jahre durch fiese Abwerbungen und Nachahmungen in die Knie gezwungen wurde, einen Hang zu Mörder- und Serienkiller-Geschichten entwickelte. Das fing bereits in den 1950er-Jahren mit dem Film „Das Mädchen auf der Samtschaukel“ an. Vier lupenreine Serienkiller-Filme sollten folgen (darunter die intensive Mia Farrow-Tour de Force „Stiefel, die den Tod bedeuten“). Am interessantesten ist vielleicht das Werk „John Christie, der Frauenwürger von London“. Mit dokumentarischer Akribie zeichnet Fleischer die Gräueltaten eines Briten (Richard Attenborough) seit dem Zweiten Weltkrieg nach: Der Mörder gibt sich als Mediziner aus, betäubt seine Opfer, wenn er ihr Vertrauen gewonnen hat, mit einer eigens konstruierten Gas-Apparatur. Er vergeht sich an den Frauen, tötet sie und verscharrt sie in seiner Umgebung. Letztlich sind es so viele, dass sie aus Platzmangel förmlich aus den Wänden wieder herauszufallen scheinen, weil nur notdürftig drüber tapeziert wurde. Kein anderer Fleischer-Film hat mich mehr beeindruckt, hat mich tiefer ins Mark getroffen.

Ja, das ist ein abgrundtief böser Horrorfilm, auch weil er die Spießigkeit des Nachkriegs-Großbritanniens so detailliert in der eintönigen Kleidung, den zerbombten Wohnungen und siffigen Kneipen schildert und die Taten noch ungleich grotesker erscheinen lässt. Das hier ist kein „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, bei dem man zum Schluss Mitleid mit dem Kindsmörder Peter Lorre hat. Es ist perfider: „John Christie“ stellt von Anfang an klar, wer das Monster ist, spielt geradezu mit der Antipathie des Zuschauers. Aber durch Fleischers genaues Beschreiben der Taten, durch das Teilhabenlassen an den Plänen und ihren Umsetzungen holt der Film einen unbemerkt mit ins Boot. Man ertappt sich dabei, innerlich zu zucken, als die wiederkommenden Maurer den Frauenwürger bei der „Arbeit“ stören. Dieser Hang Fleischers zum Horror und den menschlichen Abgründen kann nicht nur den damals angesagten Genres geschuldet sein, da sich das Thema wie ein roter Faden durch sein Œuvre zieht. Seine Autobiografie gibt darüber leider keinen Aufschluss, auch weil sie bereits Ende der 1960er-Jahre abreißt.

In seinem Herzen wohnen Schlangen ("Die Wikinger")
Im Wandel der Zeit
Mich faszinieren Trends in der Filmgeschichtsschreibung, vor allem, wenn sie Paradigmenwechsel zu bekannten Regisseuren einleiten. Wann hat sich das Bild gewandelt, wann wurde aus einem Stümper ein Auteur, wann erkaltete die Liebe der Cineasten für einen einstmals heiß und innig verehrten Filmemacher? So ein Zeitpunkt ist schwer zu bestimmen, weil es meist dauert, bis die Veränderung ins kollektive Gedächtnis eingesickert ist. Wie ein Archäologe macht man sich auf die Spur, forscht nach ersten zaghaften Würdigungsversuchen und hangelt sich dann am Retrospektiven-Programm der Festivals entlang. Richard Fleischer ist kein unbeschriebenes Blatt. Schon der legendäre Andrew Sarris führte ihn 1968 in seinem Standardwerk „The American Cinema“ neben Regisseuren wie Richard Brooks, Stanley Kubrick oder John Frankenheimer in der Kategorie strained seriousness: „These are talented but uneven directors with the mortal sin of pretentiousness. Their ambitious projects tend to inflate rather than expand.” Wie man bei den Franzosen Jean-Pierre Coursodon und Pierre Sauvage im ebenso unerlässlichen Filmbuch-Klassiker “American Directors Volume II” nachlesen kann, gab es in den 1950er-Jahren sogar europäische Kritiker-Strömungen, die Fleischer in den Stand eines major director erheben wollten.

Aber so wie Fleischers Karriere in den 1960er-Jahren mit Flops und künstlerischen Aussetzern zerfaserte, entschwanden auch die Anhänger. Die Fürsprecher waren in der Minderheit, setzten trotzdem immer wieder Leuchtfeuer der Anerkennung: Jean-Pierre Coursodons 1980er-Jahre-Essay in „American Directors“ gehört zum Schönsten und Sorgfältigsten, was bisher über Richard Fleischer publiziert wurde (im Französischen existiert wohl auch eine Fleischer-Monografie von Stéphane Bourgoin, die 1986 herausgekommen ist). In den 1990er-Jahren hielten der Spiegel-Journalist Lars-Olav Beier und Robert Müller die Fackel mit der einstündigen Dokumentation „Auf engstem Raum – Das Kino des Richard Fleischer“ hoch. 1997 erschien Robin Woods CineAction-Verteidigung von „Mandingo“.
„Alles wird anders dieses Mal!“
Im neuen Jahrtausend waren es vor allem die Filmfestivals, die das Erbe weiterführten. Das Turiner Filmfestival machte 2004 den Anfang, indem es zehn Fleischer-Filme als Tribut zeigte. Diese Auswahl inspirierte wiederum den künstlerischen Leiter des Edinburgh-Festivals, Chris Fujiwara, knapp zehn Jahre später eine eigene Fleischer-Retrospektive auf die Beine zu stellen. Fujiwara sah Fleischer als immer noch völlig unterschätzten Filmemacher an, dem sein richtiger Platz im Filmpantheon noch nicht zugewiesen war. Der amerikanische Kritiker Nick Pinkerton brachte die Fleischer-Filme dann im März 2014 nach New York ins Anthology. Diese umfangreichste Werkschau, die Pinkerton gleich selbst mit dem schönen Film Comment-Artikel „Futures & Pasts: Barabbas“ würdigte, mag Tarantino auf die Idee und zu einigen der 35mm-Kopien für das New Beverly gebracht haben. Während Turin auch Fleischer-Frühwerke wie das Kinderstar-Vehikel „Child of Divorce“ oder die Komödie „Also das ist New York!“ zeigte und sich Edinburgh auf die fantastischen 1960er-Jahre konzentrierte, legte das New Beverly Cinema den Schwerpunkt deutlicher auf die exploitativen 1970er-Jahre, wobei die Programmierung von „Der Prinz und der Bettler“ in der Kinder-Matinee absoluten Seltenheitswert hatte.

Wann ist ein Regisseur im Pantheon angekommen? Wenn er auf einer Sight & Sound-Bestenliste auftaucht? Wenn sein Name im Kanon eine Selbstverständlichkeit geworden ist? Jede Kritikergeneration bestimmt den eigenen Kanon wieder neu. Und ich plädiere bei der nächsten Abstimmung nicht mehr nur für den Lexikonplatz zwischen Terence Fisher und Victor Fleming, sondern dafür, Fleischer prinzipiell vor David Fincher und John Ford zu nennen. Das wäre mal ein Anfang!

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