Montag, 2. Juli 2012
Quartals-Top Ten 2012: Vol. 2
01. DAS UNSICHTBARE MÄDCHEN - Dominik Graf
02. MOONRISE KINGDOM - Wes Anderson
03. MICHAEL - Markus Schleinzer
04. LES BIEN-AIMÉS - Christophe Honoré
05. JUAN OF THE DEAD - Alejandro Brugués
06. TÜRKISCH FÜR ANFÄNGER - Bora Dagtekin
07. SLEEP TIGHT - Jaume Balagueró
08. EIN DEUTSCHER BOXER - Eric Friedler
09. MYTH OF AMERICAN SLEEPOVER - David Mitchell
10. THE DESCENDANTS - Alexander Payne

Runners-Up: Ligg med mig, Chronicle, Take This Waltz, Margaret

So wie das Cannes-Filmfestival im letzten Jahr selbst für die blinden und tauben Kritiker, die es bis dahin noch immer nicht mitbekommen hatten, die Renaissance von Woody Allen einläutete, steht 2012 ganz im Zeichen eines Wes Anderson. Sein Film "Moonrise Kingdom", der übrigens nur im Titel auf Frank Borzage anspielt, wächst stetig in der Erinnerung. Und wäre da nicht der TV-Film eines ansonsten leider mangels deutscher Alternativen immer ungünstig überhypten Dominik Grafs gewesen, befände sich Anderson bereits auf Platz eins. Die Zeit wird dem Umstand Abhilfe verschaffen. Aber so lange suhlt sich die Liste im süßen Filmpatriotismus und der Gewissheit, sich endlich einmal wieder sofort in einen Graf - seit "Hotte im Paradies" - verknallt zu haben. Das vollkommene Gegenteil dazu war Christophe Honorés neues Musical, das mich erst irritierte, nur um mich seitdem vor allem dank des Soundtracks immer stärker zu faszinieren. Ein wildes Teil, das mit dem Prostituieren für teure Schuhe beginnt und tragisch mit einem Dreier in Montreal endet. Und auch Credits für den ersten deutschen Blaxploitation-Film "Ein deutscher Boxer", eine fesselnde ARD-Doku und faszinierende Lebensgeschichte von Charly Graf. Ein Mannheimer, der auszog, um Boxweltmeister zu werden und stattdessen bei der RAF in Stammheim landete.

Link: - I. Quartal 2012

... comment

 
Moonrise Kingdom wäre bei mir auch in der Top 5. Allerdings auf der Liste der unerträglichsten Filme des Jahres. :-)

... link  

 
Alles klar. Bist du nicht auch dieser Geschmackspunk, der wiederum "Tim Burtons Planet der Affen" und "Alice im Wunderland" supigut fand? ;)

... link  

 
Nein, leider mochte ich die beide nicht sonderlich. :-(

... link  

 
Schönes Spitzentrio, mag die auch alle drei sehr. Schleinzer war letztes Jahr in meiner Filmfest-München-Top-10 eines starken Festivals, und Anderson war vorletzte Woche wiederum eine tolle Einstimmung am Vortag des diesjährigen Filmfestes. Deine Begeisterung für gerade diesen Graf überrascht mich allerdings doch etwas. Inszenatorisch besticht der fraglos einmal mehr, aber das Drehbuch streut m.E. gelegentlich Sand ins Getriebe, da fällt dann doch ins Gewicht, dass nicht wie etwa beim gloriosen CASSANDRAS WARNUNG ein eingespieltes Buch-Regie-Dou am Werk war. Wirst du vermutlich anders sehen. Trotzdem natürlich immer noch ein Ausnahmefilm in der hiesigen TV-Landschaft, gar keine Frage. Der große Graf-Film 2012 ist für mich aber eher LAWINEN DER ERINNERUNG, da ist mir wirklich das Herz aufgegangen, und in den Sehnsuchts- und Erinnerungsmotiven spukt wohl auch nochmal ein wenig Michael Althen durch den Film.

BARBARA hast du nicht gesehen? War ja sogar ein veritabler Überraschungserfolg in den Kinos, endlich einmal. Von Payne wiederum war ich leider ziemlich enttäuscht. Ganz nett anzuschauen, aber arg darauf aus, smooth durchzurauschen und potenzielle Kanten abzufeilen (ein bisschen Tragik, ein bisschen Komik, ein bisschen Postkarten-Feelgood, immer umstandslos goutierbar), da blieb für mich nicht viel hängen.

... link  

 
Ich mag richtige Filme. "Hotte im Paradies" ist ein richtiger Graf-Film. "Das unsichtbare Mädchen" ist ein richtiger Graf-Film. Der Polizeiruf "Cassandras Warnung" hat für mich so nicht funktioniert. Das war zu gezwungen. Graf drückt ja dem Ganzen seinen Stempel auf: Man sieht seine Trademarks, seine Charakteristika. Sie fühlen sich aber nur aufgeklebt an. Da funktionierten für mich auch die Giallo-Elemente überhaupt nicht. Im Gegensatz zum "Unsichtbaren Mädchen" waren sie nicht organisch in den Film eingewoben, sondern mehr wie ein irritierender Ausruf a la 'Schaut mal, ich habe in den letzten Jahren wie so viele den Giallo auf DVD entdeckt und mache das hier nach!'. Ich weiß nicht. Bei Tarantino kann ich das auch nicht besonders leiden, wenn er zum Beispiel eine C.S.I.-Episode dreht und die Fanboys darauf abgehen. "Das unsichtbare Mädchen" dagegen ist total rund. Und ich finde Ulrich Noethen als fränkischen Dirty Harry epochal!

Große Freude über den Kinoerfolg von "Barbara"! Berlinale als Sprungbrett! "The Descendants" ist sicherlich der schwächste Alexander Payne, keine Frage. Und ich suche auch schon händeringend nach einer würdigen Alternative für meinen Platz zehn. Aber so interessant und großartig einige aktuelle Filme über weibliche Befindlichkeiten erzählen, sie schaffen es nicht an meiner Autorentreue zu Payne vorbei. Michel Ciment hat vor einigen Jahren Woody Allen in den Komödien-Pantheon zu Ernst Lubitsch und Billy Wilder befördert. Und für mich ist Payne der aussichtsreichste Kandidat seiner Generation. Seine Filme wachsen mit der Zeit. "Election" und "About Schmidt" sind heute für mich absolute Komödien-Meisterwerke. Ich glaube nicht, dass "The Descendants" sich noch dazu aufschwingen wird. Aber ich mochte das alles schon sehr. Die erste halbe Stunde hat ja keinen Lacher. Dieser toughe Einstieg. Das ernste Thema. Aber eben nicht als Arthouse-Leidensschau, sondern mit dem überlebenswichtigen Hollywoodtouch. Irgendwie schwirren mir die hawaianischen Klänge dieses Requiems immer noch durch den Hinterkopf. Mir gefällt das tragische Motiv, eine geliebte Person erst nach ihrem Tod mit ganz anderen Augen richtig kennen zu lernen. Das klingt schon sehr wahr (siehe auch "The Constant Gardener" oder "Hanami - Kirschblüten"). Und ich habe die Figur des helfenden Freundes der Tochter sehr geliebt. Hans Schifferle hatte übrigens damals im epd-Film-Heft eine sehr schöne Kritik geschrieben, obwohl er insgesamt nicht sonderlich begeistert klang. Und in Paynes neuem Film "Nebraska" spielt mein aktueller amerikanischer Lieblingsschauspieler Will Forte mit!

... link  

 
Verstehe ungefähr, was du meinst. Ging mir aber anders. Inszenatorisch ist MÄDCHEN vielleicht wirklich der geschlossenere und virtuosere Film, leidet aber gelegentlich unter Drehbuchschwächen (gerade bzgl. Plotentwicklung, teilweise auch Dialoge, aber da fängt die Regie einiges auf), während CASSANDRA ein vor inspirierter Detailfreude sprühendes Buch im Rücken hat. Etwas kurios, dass gerade ich damit argumentiere, bin ich sonst ja eher Inszenierungs- als Drehbuch-Fan. Genau deshalb halte ich MÄDCHEN dann trotzdem noch für einen ziemlich tollen Film, den ich aber insgesamt einfach nicht so dicht und elektrisierend wie CASSANDRA fand.

Welche aktuellen Filme über weibliche Befindlichkeiten waren bei dir noch im Listenrennen? HEMEL scheint dir ja leider nicht so recht gemundet zu haben (das wäre dann auch wiederum ein Beispiel, wo ein eher uninteressantes Buch durch intensives Schauspiel und ein Gespür für atmosphärische Visualisierung weitgehend ausgeglichen wird). Apropos weibliche Befindlichkeiten und Meister der Komödien, hat WRONG bei mir mit DAMSELS IN DISTRESS einen sehr aussichtsreichen Konkurrenten für die herausragende Komödie des Jahres bekommen. Hinreißender Screwball-Dialogmarathon, blendend geschrieben, gespielt und getimt. Das mit dem "überlebenswichtigen Hollywoodtouch" bei Payne verstehe ich übrigens nicht ganz (bzw. warum das dem Film gut tun soll), ist aber vielleicht u.a. das, was mich an dem Film gestört hat. Bin aber auch kein großer CONSTANT-GARDENER-Fan und ob ich mir HANAMI jemals anschauen werde, bezweifle ich eher - die jüngste Expedition ins GLÜCK hat mich in Sachen DD wohl erstmal eine ganze Weile bedient :) NEBRASKA klingt aber interessant, kurioserweise sogar in s/w gedreht, wenn auch leider nicht mehr auf Film. Könnte vielleicht wieder was werden.

... link  

 
Drehbuchschwächen sind mir logischerweise keine aufgefallen. Und ich will dich nicht in die Verlegenheit bringen, ins Detail gehen zu müssen, weil ich dann höchstwahrscheinlich noch mal den Film einschmeißen müsste, wobei das ein ziemlich guter Grund wäre.

Schau mal unter meine Runners-Up mit Ausnahme von "Chronicle". Ist überhaupt ein Thema bzw. Blickwinkel, der sich bei mir durch die letzten Jahre Filmeschauen zieht. Der weibliche Blick ist per se nicht interessanter. Aber wenn man so viele Jahre immer nur männliche Coming-of-Age-Geschichten aufgetischt bekommt, wirken gerade Filme von Mia Hansen-Love oder Andrea Arnold ungleich frischer. Mich hat das Jahr nur wenig mehr angeödet als "Project X", diese Mockumentary über die ausufernde Hausparty, in deren Mittelpunkt wieder einmal nur drei notgeile Teenager stehen, die Drogen nehmen und flach gelegt werden wollen. Sarah Polleys Film ist zum Beispiel alles andere als perfekt. Aber allein die weibliche Perspektive auf das ausgelatschte Thema Fremdgehen macht das Ganze schon wieder interessanter. Wie "Hemel" mir gezeigt hat, rettet die Perspektive aber auch nicht alles. Zumindest nicht, wenn sich das Charakterporträt ausschließlich auf das promiskuitive Sexleben eines egomanischen Püppchen mit Daddy-Issues bezieht.

Beim Thema Brüllerkomödien würde mir jetzt spontan nur der vorgestern gesehene "Ted" einfallen, wobei der mehr Sitcom als Film ist. Er biedert sich zwar extrem beim nicht erwachsen werden wollenden Publikum mit Star-Wars-Figurensammlung im Schrank an - also bei einer ganzen Generation von jungen und gar nicht mehr so jungen Männern. Wenn er das aber unter anderem dadurch tut, dass er den unwiderstehlichen 1980er-Jahre-Kultklassiker "Flash Gordon" zurück in die DVD-Player bringt, soll mir das nur recht sein. Aber ich glaube, das war sowieso nicht das, was du mit "Damsels in Distress" und "Wrong" meintest. ;)

... link  

 
Dafür müsste ich den Film wahrscheinlich auch nochmal einschmeißen. Und will da auch nicht zu sehr darauf herum reiten, weil mir der Film ja letztlich auch sehr gut gefallen hat. Ist eher Meckern auf hohem Niveau und vielleicht auch eher eine Sache des Maßstabs - auch angesichts dieser Wahnsinnsform, in der Graf schon seit Jahren ist.

Stimmt, die Runners-Up-Nennungen hatte ich nicht genau genug betrachtet. Wobei mir auch erst völlig entgangen ist, dass sich da seltsamerweise unter schwedischem Titel der norwegische TURN ME ON, DAMMIT! befindet, von dem auch bereits Hofbauer-Kommando-Mitglied Christian schwärmte, der ihn bereits im Frühjahr sah und sogar einen Kommentar in seinem kürzlich endlich online gegangenen STB verfasste. Wird nachgeholt. Auf Mia Hansen-Love freue ich mich auch schon, warte aber den baldigen Kinostart ab. Und Andrea Arnolds jüngstes Werk fand ich tatsächlich ihren bislang interessantesten Film, vielleicht gerade wegen seiner unbeirrten Insistenz, die es gleichzeitig wohl war, die vielen daran aufgestoßen ist.

Schön, dass es DAMSELS IN DISTRESS bei dir direkt in die Top-10 geschafft hat. Da steht er bei mir momentan auch eindeutig, wenngleich im Herbst sicherlich nochmal harte Konkurrenz anrollt. V/H/S scheint dich ja ziemlich umgehauen zu haben, so begeistert hatte ich bislang sonst noch niemanden wahrgenommen, aber die mitschwingende Fuck-Blu-Ray-Geste beflügelt da wohl auch kräftig, oder? :) Werfe ich demnächst wohl auch mal ein.

EDIT: Haha, die twitternden FFF-Fans scheinen deine Euphorie gar nicht zu teilen:
- "V/h/s: boah war der schlecht. Ein audio-visueller zuschauertroll. Null spannung und horror."
- "Langeweile? Habe zum ersten Mal seit Jahren einen Film beim FFF in der Mitte verlassen. 'V/H/S' - für'n Urlaubsvideo zu wenig Ideen!"
- "V/H/S ist die Luftnummer des Festivals. Größtenteils belanglos und langatmig, ab und zu lustig, aber "terrifying" - nie. Schade. 4/10"
- "bin immernoch ganz verärgert. v/h/s ist so langweilig, nichtssagend und pupertär. bisher meine größe enttäuschung beim #fff26"

Aber wie schon im anderen Faden zu US-3D geschrieben: Solche Ablehnungswellen deuten dort prinzipiell ja eher auf was potenziell interessantes hin. :) Hoffentlich entpuppt es sich dann nicht als RAID-artiger Hype deinerseits! ;D

... link  

 
Um das also vom anderen Faden nochmal kurz aufzugreifen: Kann dich beruhigen, kann das seltsam unmotivierte Bashing gar nicht teilen, sondern fand V/H/S insgesamt doch sehr hübsch. Meisterwerk wäre zu hoch gegriffen, aber reihe mich eindeutig eher bei Jochen und dir ein, als bei der seltsamen Häme in den Fanforen, die er wahrlich nicht verdient hat. Aber dort stieß vor ein paar Jahren ja auch 36 PASOS (an den mich ein, zwei V/H/S-Episoden fast ein wenig erinnerten, auf DVD als BLOODY BIRTHDAY erschienen) durchweg auf Hass. Für kreatives Freidrehen und Dahinfließen können sich viele offenbar nicht erwärmen. Einzig die Kritik an der fehlenden tatsächlichen VHS-Anmutung kann ich ansatzweise nachvollziehen. Aber am Titel sollte man bei dem Film andererseits sowieso nicht zu sehr kleben, das ist wohl auch eines der Missverständnisse in den Foren. So richtig viel hat er mit VHS als Medium eigentlich gar nicht zu tun. Eher ein ungeniertes mash-up als eine konkrete Medien-Reminiszenz. Was ich als Ansatz letztlich aber gar nicht so verkehrt finde.

... link  


... comment