Donnerstag, 28. Februar 2019
Robert-Hossein-Hommage im Frankfurter Filmmuseum

Robert Hossein in Frankfurt am Main wiederentdecken

Acht teils seltene Robert-Hossein-Genreperlen laufen im März im Frankfurter Filmmuseum auf 35mm-Kopien.

Der heute 91-jährige Künstler Robert Hossein war „zweifellos einer der vielseitigsten, kühnsten, unvorhersehbarsten Filmemacher Frankreichs der 1950er und 1960er Jahre.“ Das schreibt das Filmkollektiv Frankfurt über den Star seiner Hommage. Der französische Regisseur und Schauspieler wird im März mit acht seiner Regiearbeiten im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main gefeiert. Er und die Schauspielerin Marina Vlady werden persönlich bei den Vorführungen der 35mm-Kopien anwesend sein. Laut des Filmkollektivs ist es die größte Retrospektive, die Hossein jemals in Deutschland gewidmet bekommen hat.

Das Filmkollektiv, das in der Vergangenheit schon tolle Retrospektiven zu Eckhart Schmidt, Armando Bó und Miklós Jancsó organisierte, schreibt über sein neuestes Projekt: „Hossein begann früh als Schauspieler am Theater zu arbeiten, bevor er Mitte der 1950er-Jahre als Kinodarsteller zu Berühmtheit gelangte. Gleichzeitig begann er seine Regiekarriere, mit seiner damaligen Frau Marina Vlady als Muse und Hauptdarstellerin seiner ersten Werke. Der zeitgleich florierenden Nouvelle Vague setzte er die Vision eines dem Auteur-Prinzip verpflichteten Genrekinos entgegen.

Erst in den 1970er-Jahren trat sein Kinoschaffen hinter seiner Arbeit als Regisseur aufwändiger Theaterinszenierungen zurück, und sein letzter Kinofilm entstand Mitte der 1980er-Jahre.“ Hossein drehte in so unterschiedlichen Genres wie dem Film noir, dem Western, dem Agenten- und Gefängnisfilm.

Für Negative Space wird diese Hommage, die vom 15. bis 17. März stattfindet, eine echte Entdeckungsreise. Hossein ist ein Begriff, aber als Regisseur eigentlich nur durch den französischen Spaghetti Western „Friedhof ohne Kreuze“ – und natürlich als Schauspieler („Rififi“, „Angelique“, „OSS 117“). Seine anderen Regiearbeiten lesen sich aber äußerst spannend, zumal er ständig das Genre wechselte.

Fr. (15.03.)
20.00 Uhr – Die Lumpen fahren zur Hölle (1955)
22.45 Uhr – Zwei im Visier (1970)

Sa. (16.03.)
17.00 Uhr – Vis-à-vis (1960)
20.00 Uhr – Nachts fällt der Schleier (1959)
22.45 Uhr – Friedhof ohne Kreuze (1969)

So. (17.03.)
12.00 Uhr – Die Nacht der Spione (1959)
18.00 Uhr – Mitternachtsparty (1961)
20.30 Uhr – Das grausame Auge (1964)

Link: - Deutsches Filmmuseum, - Filmkollektiv Frankfurt

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Mittwoch, 20. Februar 2019
Berlinale-Geheimtipp: „Die Letzten, die sie leben sahen“ (Sara Summa)

Eine Ahnung vom Sterben | © Katharina Schelling
Einer der besten Filme des Forums auf der Berlinale war der zärtlich beobachtete Film „Die Letzten, die sie leben sahen“. Debütantin Sara Summa sollte man im Auge behalten.

Die Ausgangsidee zu Sara Summas Debütfilm „Die Letzten, die sie leben sahen“ ist an Künstlichkeit nicht zu überbieten: Sie nahm den wahren Mordfall, der auch Pate für Truman Capotes Klassiker „In Cold Blood“ stand, nämlich die Ermordung einer Familie im Kansas des Jahres 1959. Und sie transferierte ihn in das heutige Italien, in die Gegend, wo schon Alice Rohrwachers magischer Film „Glücklich wie Lazzaro“ spielte. Als Vater, Mutter, Sohn und Tochter castete sie Laien, die sich die Szenen erarbeiteten.

Eigentümlicherweise ist „Die Letzten, die sie leben sahen“ trotzdem oder gerade deswegen einer der lebendigsten Filme der diesjährigen Berlinale gewesen. Er ist von einem inneren Leuchten getragen. Immer wieder sieht man das Auto, was die Gangster ein Stück näher an das Haus der Familie bringt. So werden die Routinen und die alltäglichen Beschäftigungen mit einer schweren Bedeutung aufgeladen. Zum letzten Mal spülen Mutter und Tochter gemeinsam das Geschirr mit der Hand, obwohl sie eigentlich eine Spüllmaschine haben; zum letzten Mal kommt der Freund der Tochter ins Haus und sie schauen Fernsehen, wobei der Bruder natürlich stört.

Der Sohn soll die Olivenplantage übernehmen | © Katharina Schelling
Ganz unaufgeregt erzählt Regisseurin Summa davon, wie der Vater an diesem verfluchten Tag eine Lebensversicherung abschließt; wie die Mutter sich mit ihrer Depression aus dem Bett quält, um für die Kinder da zu sein; im Hintergrund wird die Hochzeit eines Familienmitglieds vorbereitet. Dass sie aus dem Leben scheiden, war nicht für sie vorgesehen. Und trotzdem werden sie am Ende des Tages nicht mehr sein. Der Kinozuschauer ist ihr letzter Zeuge. Er sieht absolut künstliche Figuren, aber kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Ableben tragisch und schmerzhaft ist.

Regisseurin Sara Summa am Set | © Marie Sanchez

Ein Kunstwerk von Poster | © Basile Carel
Die Bilder Süditaliens haben eine Wärme, sind unheimlich sinnlich – so als würde Summa ein letztes Mal in das volle und schlichte Leben eintauchen wollen. Der Film ist eben auch wie das Leben: Der Tod lauert am Ende der Straße. Bis er zuschlägt, ist nicht klar, an welcher Kurve er sich ins Leben drängen wird. „Die Letzten, die sie leben sahen“ vergegenwärtigt durch ein simples dramaturgisches Mittel, wie kostbar die alltäglichen Momente und das Miteinander doch sind. Er rückt das Vergrößerungsglas auf das Gewöhnliche, ohne dabei prätentiös daherzukommen. „Gli ultimi a vederli vivere“, so der italienische Originaltitel des Films der DFFB-Studentin, ist ein echtes Geschenk.

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Montag, 18. Februar 2019
Berlinale-Abschluss-Podcast mit Jenny Jecke

Schanelec-Highlight „Ich war zuhause, aber ...“ | © Nachmittagfilm
Ein Berlinale-Podcast, der alles zusammenfasst: Kosslicks Abschieds, Chatrians Beginn, den mauen Wettbewerb und die wenigen richtig tollen Highlights.

Die Situation ist eigentlich immer völlig bizarr: Die Inhalte, die von Journalisten und Cineasten auf der Berlinale produziert werden, sind vor allem für die Menschen interessant, die auch auf dem Festival unterwegs sind. Weil das in seinem Umfang und Angebot aber so groß ist und einen dabei regelmäßig das Sammelfieber packt, sitzen die Hauptinteressenten für die Artikel und Podcasts eigentlich die ganze Zeit im Kino. Darum könnte das Timing jetzt nicht besser sein, dass ich zum Abschluss des Ganzen im Wollmilchcast von Jenny und Matthias zu Gast sein durfte.

Leider wurde der gute Matthias von der berüchtigen Berlinale-Erkältung heimgesucht. Also wuppen Jenny und ich die Dieter-Kosslick-Abrechnung und den kommenden Neuanfang mit Carlo Chatrian zu zweit. Der internationale Wettbewerb des Festivals war schwach – mit Ansage. Einige wenige Highlights konnten wir letztlich aber doch ausmachen. Es geht im Podcast um den israelischen Bären-Gewinner „Synonyme“, das chinesische Familienepos „So Long, My Son“, Fatih Akins „Der Goldene Handschuh“, Schanelecs Regiebären „Ich war zuhause, aber ...“, das Genre-Meisterwerk „Monos“, den britschen Film „The Souvenir“ mit Shootingstar Honor Swinton Byrne und noch um vieles andere.

Shownotes:

00:00:00 – Begrüßung
00:00:50 – Niederschmetternder Gesamteindruck
00:05:40 – Kosslick-Abrechnung
00:12:55 – Synonyme (Nadav Lapid)
00:16:33 – So Long, My Son (Xiaoshuai Wang)
00:20:25 – Der Goldene Handschuh (Fatih Akin)
00:31:02 – Ich war zuhause, aber … (Angela Schanelec)
00:41:32 – Gelobt sei Gott (François Ozon)
00:47:19 – Monos (Alejandro Landes)
00:56:41 – Heimat ist ein Raum aus Zeit (Thomas Heise)
01:04:36 – Die Letzten, die sie leben sahen (Sara Summa)
01:10:16 – The Souvenir (Joanna Hogg)
01:18:26 – Der neue Berlinale-Chef Carlo Chatrian

Den Podcast gibt es hier anzuhören.

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Samstag, 16. Februar 2019
Negative-Space-Preise Berlinale 2019
Der Werner-Hochbaum-Preis für den besten Film geht an:
  • „Monos“ (Alejandro Landes)

© Berlinale 2019
Der Ulrike-Ottinger-Preis für das Gesamtkunstwerk geht an:
  • „Jessica Forever“ (Caroline Poggi & Jonathan Vinel)

© Ecce films – ARTE France Cinéma
Der Eberhard-Schroeder-Preis für die beste Regie geht ex aequo an:
  • Nadav Lapid („Synonyme“)
    & Angela Schanelec („Ich war zuhause, aber ...“)

© Guy Ferrandis / SBS Films

© Joachim Gern
Der Amy-Nicholson-Preis für Kickass Cinema geht an:
  • „Systemsprenger“ (Nora Fingscheidt)

© kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer
Der Richard-Fleischer-Preis für neue Perspektiven auf das Weltkino geht an:
  • Sara Summa („The Last to See Them“)

© Katharina Schelling
Der Rod-Taylor-Preis für den besten Darsteller geht an:
  • Tom Mercier („Synonyme“)

© Guy Ferrandis / SBS Films
Der Ludivine-Sagnier-Preis für die beste Darstellerin geht an:
  • Honor Swinton Byrne („The Souvenir“)

© Agatha A. Nitecka
Der Brigitte-Lahaie-Preis für Sinnlichkeit geht ex aequo an:
  • „Öndög“ (Quan’an Wang)
    & „Heute oder morgen“ (Thomas Moritz Helm)


© Wang Quan'an

© CASQUE film
Der Jan-Harlan-Preis für den besten Dokumentarfilm geht an:
  • „Chained“ (Yaron Shani)

© Little Bear Inc.
Der unregelmäßig vergebene Joe-Hembus-Ehrenpreis geht an:
  • „Der Goldene Handschuh“ (Fatih Akin)

© Gordon Timpen / 2018 bombero int./Warner Bros. Ent.
Zehn Berlinale-Lieblingsfilme 2019 (alphabetisch):

CHAINED (Yaron Shani)
FOURTEEN (Dan Sallitt)
GELOBT SEI GOTT (François Ozon)
DER GOLDENE HANDSCHUH (Fatih Akin)
ICH WAR ZUHAUSE, ABER ... (Angela Schanelec)
JESSICA FOREVER (Caroline Poggi & Jonathan Vinel)
THE LAST TO SEE THEM (Sara Summa)
MONOS (Alejandro Landes)
SYNONYME (Nadav Lapid)
SYSTEMSPRENGER (Nora Fingscheidt)

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Donnerstag, 14. Februar 2019
„Synonyme“: Der nicht mehr hebräisch spricht

Beeindruckt in seinem Schauspieldebüt: Tom Mercier | © Guy Ferrandis / SBS Films
Israelischer Film mit Bären-Chancen: Das Portrait eines innerlich zerrissenen Israelis, der nach Paris auswandert, um die hebräische Sprache abzulegen, zählt zu den stärksten Wettbewerbsbeiträgen dieser Berlinale. Von Michael Müller

Das sei gleich klargestellt: Ein Wolhfühlfilm ist das neue Werk des israelischen Regisseurs Nadav Lapid, das „Synonyme“ heißt, ganz sicher nicht. Es ist ein teils frostiger Film, der den Zuschauer herausfordert. Sein Protagonist, der junge Yoav (Tom Mercier), steckt in einer ernstzunehmenden Lebenskrise fest. Als Ursache dafür hat er seine Heimat Israel ausgemacht. In einer Spontanaktion reist er nach seinem Militärdienst nach Paris. Nie wieder will er die hebräische Sprache verwenden. Frankreich und vor allem die französische Sprache sollen seine neue Heimat werden. Ästhetisch betrachtet ist „Synonyme“ auch gewiss eine der spannendsten Produktionen des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs, der am Samstag zu Ende geht.

Gleich in einer der ersten Szenen ist Yoav kurz vor dem Erfrieren. In einer eiskalten Pariser Wohnung sitzt er nackt in der Badewanne und überschüttet sich mit Wasser. Es mutet wie ein gesuchter Selbstmord an. Zwei junge Franzosen finden ihn gerade noch rechtzeitig. Während Caroline (Louise Chevilotte) den Notdienst anrufen will, wärmt Emile (Quentin Dolmaire) Yoav pragmatisch mit seinem eigenen Körper.

Wer jetzt zwischen diesen jungen Erwachsenen eine klassische Ménage-à-trois erwartet, wie es in einem französischen Liebesfilm üblich wäre, wird enttäuscht. Ja, es gibt zwischen den dreien Sex, platonische Liebe und tiefschürfende Gespräche. Aber diese Geschichte spielt sich im Hintergrund ab. Dem Film geht es vorrangig um Yoavs israelische Identität, die der Regisseur Lapid ein Stück weit mit den Gewissensfragen der gesamten jungen Generation Israels gleichsetzt.
Nicht nur eine Sprache, sondern eine Kultur ablegen
Yoav probiert die französische Sprache aus wie die edel geschneiderte Kleidung, die ihm seine französischen Freunde beim ersten Treffen schenken. Sein Großvater sei dabei sein Vorbild. Der habe das Jiddische abgelegt, als er nach Palästina unter britischem Mandat auswanderte. Yoav kauft sich ein Wörterbuch. Negative Adjektive wie „feige“ oder „brutal“ sind seine erste große Leidenschaft. Er will sein Land auf Französisch charakterisieren und anfeinden können, wenn er sich darüber unterhält. Dabei verzichtet er bewusst auf biblische Metaphern und greift lieber auf die griechische Mythologie zurück. Besonders Homers „Ilias“ hat es ihm angetan. Er will sich nicht nur der hebräischen Sprache, sondern gleich seiner ganzen Kultur entledigen.

Es ist sein Versuch, sich im Exil als Israeli neu zu erfinden. Die Anhaltspunkte für diesen radikalen Schritt muss sich der Zuschauer selbst zusammensuchen. Offensichtlich hat dabei sein dreijähriger Militärdienst auf den Golanhöhen eine wichtige Rolle gespielt. Einmal erzählt er, wie er bei einer Maschinengewehr-Übung im Takt eines französischen Chanson gefeuert hat, bis die Zielscheibe vor lauter Schüssen zersiebt war.

Keine klassische Ménage-à-trois | © Guy Ferrandis / SBS Films
Ein anderes Mal erwähnt er eine Versammlung von israelischen Soldaten auf einem Militärfriedhof, wo zwei leicht bekleidete Frauen den israelischen Eurovision-Songcontest-Klassiker „Hallelujah“ singen. Die Ironie dieser Szenarien kann einem nicht entgehen. Da Yoav aber kein verlässlicher Erzähler, sondern ein Fabulierer und Geschichtenerzähler ist, bleibt offen, was ausgedacht oder tatsächlich passiert ist. Er ist eigentlich ein beißend satirischer Poet, der sich aber ganz bewusst seines wichtigsten Werkzeugs, nämlich der Sprache, beraubt hat.

Weil Yoav Künstler ist, fällt es ihm sehr schwer, eine reguläre Arbeit in Frankreich zu finden. Letztlich greifen seine alten Militärverbindungen. Er trifft israelische Sicherheitsbeamte, die bei der israelischen Botschaft in Paris und bei privaten Firmen arbeiten. Regisseur Lapid gibt hier einen selten gezeigten Einblick in die Befindlichkeiten dieser Menschen, der aber auch satirisch zugespitzt erscheint: Die Sicherheitsbeamten gehen sich zur Begrüßung erst einmal an die Gurgel. Es ist ein brutales, kindisches Kräftemessen, was im Ringkampf auf dem Schreibtisch endet. Einer von ihnen erzählt, dass sie sich demnächst mit französischen Neonazis irgendwo draußen zu einer Schlägerei nach striktem Regelwerk verabreden.
Antisemitismus mit israelischen Hymne austreiben
Der muskelbepackte Sicherheisbeamte, mit dem sich Yoav anfreundet, hat auch ein besonderes Hobby: Er geht in die U-Bahn oder in Straßencafés, um Antisemiten ausfindig zu machen. Dafür setzt er seine Kippa auf und beginnt die israelische Nationalhymne zu singen – am Ende der Szene schreit er U-Bahn-Passagiere die Hymne regelrecht ins Gesicht. Sein großer Traum wäre es gewesen, wenn er bei der Geiselnahme im jüdischen Supermarkt während des Angriffs auf die Redaktion von Charlie Hebdo dabei gewesen wäre – oder bei dem Terroranschlag in Nizza. Die Islamisten hätte er mit seinem Körper zerschmettert, deutet er mit einer in die Luft gehauene Kopfnuss an.

Lapid findet für Yoavs Zerrissenheit und Unruhe immer wieder kreative Bilder. Eine Party filmt er etwa nur ab Hüfthöhe abwärts. Ein schnell an und aus geschalteter Lichtschalter sorgt für ein visuelles Gewitter. Wiederholt gibt es wilde Spaziergänge, die mit Handkamera aufgenommen wurden und die klassische Pariser Bildmotive verweigern. In dem israelischen Schauspieler Tom Mercier hat Lapid einen Hauptdarsteller gefunden, der sich als Yoav seelisch wie körperlich komplett aufopfert. Es ist tatsächlich Merciers erster Film. In seiner Leinwandpräsenz und Energie ist es bei ihm unmöglich wegzuschauen, obwohl er sich in teils absurd abgründige Abenteuer begibt. Ein Silberner Bär als bester Darsteller wäre gerechtfertigt.

Regisseur Lapid mit Darstellerin Chevilotte | © Guy Ferrandis / SBS Films
In der Verachtung die Heimat wiederfinden
„Synonyme“ ist eine zutiefst emotionale, harte und auch verstörende Auseinandersetzung mit der israelischen Psyche. Unfair ist Regisseur Lapid dabei nicht. Aber er will natürlich auch die hässliche Fratze und die Abgründe beschreiben. Der jahrzehntelange israelisch-palästinensische Konflikt habe tiefe und negative Spuren in den Köpfen seiner Landsleute hinterlassen, sagte er im Interview. Die Geschichte von Yoav sei seine Geschichte. Lapid, der den Film seiner kürzlich verstorbenen Mutter und Cutterin Era Lapid gewidmet hat, ging selbst nach seinem Militärdienst nach Paris.

Am stärksten fasziniert aber der Aspekt, dass umso mehr der Film Yoavs Probleme mit der israelischen Heimat schildert, umso stärker auch seine Verbundenheit durchscheint. In der französischen Fremde findet er kein neues Zuhause. Er findet eine Sprache, die nicht passen will. Er trifft auf eine Oberflächlichkeit, Luxusprobleme und eine politische Korrektheit in der Pariser Gesellschaft, die ihn nicht interessiert. Es reift in ihm die Erkenntnis, dass in seiner Heimat viel falsch läuft, dass es aber seine Heimat ist und er nicht davor weglaufen kann.

Wenn am Samstag im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz die Silbernen Bären und der Goldene Bär für den besten Film vergeben werden, ist „Synonyme“ nicht chancenlos. Die französische Jurypräsidentin Juliette Binoche ist eine echte Cineastin. Das macht Hoffnung. Der letzte große israelische Auszeichnung auf der Berlinale war der Silberne Bär für die beste Regie an Joseph Cedar im Jahr 2007 für den Film „Beaufort“.

Verheißungsvolle Staffelauftakt zu „False Flag“ © Rotem Yaron
Berlinale und Israel: Das passt
Die Bilanz des israelische Films auf dem wichtigsten deutschen Filmfestival fällt wieder positiv aus. Neben „Synonyme“ lief auch noch außer Konkurrenz der Thriller „Die Agentin“ mit Diane Kruger als Mossad-Agentin im Wettbewerb. Das Werk war zwar herrlich egal. Aber es brachte den israelischen Regisseur Yuval Adler nach Berlin, der zu den verheißungsvollsten Talenten seiner Generation zählt. Über den sehr empfehlenswerten Polizistenfilm „Chained“ in der Panorama-Sektion schrieb Negative Space bereits.

Der Israeli Nimrod Eldar debütierte mit dem unaufgeregten Vater-Tochter-Drama „The Day After I’m Gone“, der mit einem angezündeten Soldatendenkmal im einer Siedlung im Westjordanland das Thema der BDS-Boykottbewegung streift. Aber eigentlich geht es um Familienprobleme nach dem frühen Tod der Mutter und einem versuchten Selbstmord der Tochter. Sehr verheißungsvoll waren die ersten beiden Episoden der zweiten Staffel von „False Flag“. In der TV-Serie geht es um den Bombenanschlag auf eine gemeinsame Ölpipeline von Israel und der Türkei. Hier kann man dem Inlandsgeheimdienst bei der Arbeit über die Schulter schauen. Mit welchen technischen Finessen der Schabak inzwischen Terroristen auf die Spur kommt, ist beängstigend und faszinierend zugleich.

Die guten Beziehungen zwischen der israelischen Filmindustrie und der Berlinale unterstrich auch ein Tribut an die Sam-Spiegel-Filmschule in Jerusalem. Anlässlich des 30-jährigen Bestehens gab es unter dem Titel „Scarred Generation“ eine Zusammenstellung von deren besten israelischen Kurzfilme der letzten Jahrzehnte zu entdecken.

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Mittwoch, 13. Februar 2019
Bitte mehr Genrewerke wie „Monos“ und „Jessica Forever“, Carlo Chatrian!

„Monos“: ein kolumbianischer Herr der Fliegen | © Berlinale 2019
Wenn der neue künstlerische Leiter der Berlinale, Carlo Chatrian, 2020 antritt, sollte er rauschhafte Genrefilme wie den kolumbianischen Thriller „Monos“ und den französischen Endzeitfilm „Jessica Forever“ fördern. Sie sind zwei der besten Filme dieses Jahrgangs.

Werke wie den kolumbianischen Action-Thriller „Monos“ und den französische Endzeitfilm „Jessica Forever“ wünscht sich Negative Space in der Berlinale-Ära unter dem neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian ab kommendem Jahr häufiger. Beides sind rauschhafte Genrewerke – aber jeweils mit einer sehr persönlichen Handschrift der Filmemacher und präzise in ihren Beobachtungen zur Gesellschaft.

„Monos“ erzählt von einer paramilitärischen Guerilla-Einheit im kolumbianischen Dschungel. Eine Handvoll Jugendlicher trainiert für den Ernstfall und hält eine entführte Ärztin gefangen. Sie soll Lösegeld für die Organisation bringen. Schnell eskaliert aber die Situation. Hierarchien werden in Frage gestellt und der Ärztin gelingt die Flucht. So weit, so unspektakulär. Der neue Regie-Shootingstar Alejandro Landes, der den akribischen Wahnsinn eines Werner Herzog mit der technischen Perfektion eines jungen James Cameron vereint, hat daraus aber ein abgründiges „Herr der Fliegen“-Inferno gemacht.

Ein rauschhafter Rutsch ins Herz der Finsternis | © Berlinale 2019
Landes offenbart eine vom jahrzehntelangen Krieg gezeichnete kolumbianische Gesellschaft, in der die Kinder sehr schnell erwachsen werden müssen. Vom Drill und Militarismus gekennzeichnet, wird Zwischenmenschlichkeit als Schwäche ausgelegt. Fehler werden hart bestraft – am härtesten von der Person selbst, die den Fehler begangen hat. Die Muskeln sind gestählt, der Abzug sitzt locker. Die gefangene Ärztin wird von der Gruppe nur als austauschbare Ware angesehen. Und trotz dieser Härte gelingt es Landes, der sein „Herz der Finsternis“ mit wahnsinnigem Aufwand mitten im Dschungel gedreht hat, Interesse für jede seiner Figuren zu wecken. Als Zuschauer will man mehr über Rambo, Lady, Bum Bum und Smurf wissen, ihnen auf dem steinigen Weg in das Chaos folgen.

Das Entgleiten der Situation ist in so abenteuerlichen und fantastischen Bildern eingefangen, dass es einem teils den Atem raubt. Schönheit und Horror liegen hier nahe beieinander. Noch nie hat man man wahrscheinlich so authentisch gesehen, wie ein Mensch bei lebendigem Leibe fast von Mosquitos aufgefressen wurde. Umso länger „Monos“ geht, umso deutlicher wird, dass der kolumbianische Regisseur in diesem perfekten Adrenalinrausch nicht nur eine Visitenkarte für Hollywood abgegeben hat. Mit dem ungeschönten Blick auf sein Land und einer weltweiten Entwicklung zur Aufrüstung hin empfiehlt er sich, der nächste Denis Villeneuve zu werden.

„Jessica Forever“ | © Ecce films – ARTE France Cinéma
Mit tiefer Melancholie den Untergang zelebriert
Auch in dem französischen Endzeitfilm „Jessica Forever“ geht es um das Bild von Männlichkeit und um dessen Wandel in einer sich immer schneller drehenden Welt. Die titelgebende Jessica (Entdeckung: Aomi Muyock) ist die amazonengleiche Anführerin einer Gruppe männlicher Waisen, die in einer postapokalyptischen Welt überleben. Der Gegner ist unbekannt. Gesichtslose Drohnen vollführen regelmäßige Angriffe auf die Truppe. Wie in „Monos“ sind die Männer im Fitnessstudio gestählt und Meister an der Waffe. Ihnen fehlen aber die Worte, um sich auszudrücken. Umso länger man ihnen in ihrem Kampf zuschaut, umso verlorener wirken sie. Die Gruppe rettet sich vor den Drohnen in eine abgelegene Villa. Doch plötzlich tauchen überall Menschen auf.

Die beiden Filmemacher Jonathan Vinel und Caroline Poggi zeichnen eine postapokalyptische Welt, die vollkommen in die Realität integriert ist. Die Endzeit hat, wenn man der Lesart des Films folgt, für diesen grobschlächtigen und testosterongesteuerten Typ Mann begonnen. Tatsächlich ist die Schlacht bereits entschieden. Die Protagonisten wissen es nur noch nicht. Mit einem fantastischem Elektro-Score, süchtig machenden Bildern und einer tiefen liebevollen Melancholie zelebriert „Jessica Forever“ diesen Untergang. Der Film arbeitet kontinuierlich gegen die Erwartungen an. Nicht die Action oder der Thrill stehen im Mittelpunkt, sondern Poesie und Außenseitertum.
Jessica (Aomi Muyock) führt| © Ecce films – ARTE France Cinéma
„Monos“ und „Jessica Forever“ ragen im diesjährigen Berlinale-Jahrgang heraus. Es ist nur schade, dass man sie unter Hunderten von Filmen mit der Lupe suchen muss. Negative Space erhofft sich von Carlo Chatrian ab 2020 viel mehr solcher Kandidaten. Wenn der Italiener die 70. Jubiläumsausgabe des wichtigsten deutschen Filmfestivals zusammenstellen wird, soll er laut des Branchenblatts Variety ein Großteil seines alten Locarno-Teams mit sich bringen. Darunter ist auch der kanadische Filmkritiker und Herausgeber des Filmmagazins Cinema Scope Mark Peranson. Das klingt verheißungsvoll.

Genauso sinnvoll erscheint die terminliche Verlegung, so dass die nächste Berlinale vom 20. Februar bis zum 1. März stattfindet. Sie geht damit den vorverlegten Oscars aus dem Weg. Es könnte dem Festival bei der Profilschärfung helfen. Und deutlich wärmer dürfte es zu der Zeit auch schon in Deutschland sein.

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Sonntag, 10. Februar 2019
Berlinale-Film „Chained“: Wenn Liebe ein Gefängnis wird

Die Gewalt bin ich: Rashi (Eran Naim) | © Berlinale 2019
Der israelische Film „Chained“ ist ein Volltreffer in der Panorama-Sektion. Bei der Geschichte um einen Tel Aviver Polizisten, der die Familie mit seiner Liebe und Moral zu zerquetschen droht, verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm.

Rashi (Eran Naim) will sein Leben so kontrollieren, wie er seine Fälle im Dienst kontrolliert. Als Tel Aviver Polizist hat er mehr als 15 Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel. Dem bulligen Hünen macht im Einsatz niemand mehr etwas vor. Er riecht förmlich, wenn Menschen ihm gegenüber nicht die Wahrheit sagen. Etwas rabiat sind aber seine Methoden: Türen werden auf Verdacht aufgebrochen, und potenzielle Drogendealer müssen schon mal ihre Unterhosen runterziehen, um zu beweisen, dass sie nicht doch etwas versteckt haben. In letzterem Fall stellen sich die Jugendlichen als Kinder eines hohen Beamten im Geheimdienstapparat heraus. Die Unterwäschen-Inspektion hat ein juristisches Nachspiel. Rashi wird verhört und erst einmal suspendiert. Das schürt Konflikte zu Hause, weil der unterforderte Gesetzeshüter seinen so strengen wie liebevollen Blick nun auf seine 13-jährige Tochter Yasmin (Stav Patay) konzentriert.

Der 45-jährige Regisseur Yaron Shani, der in Tel Aviv studierte und im Jahr 2010 mit seinem Gangsterstreifen „Ajami“ für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde, wendet sich in seiner neuen Arbeit vom traditionellen Erzählkino ab. Dass Zuschauer im Kino auf Emotionen reagieren müssen, die Schauspieler künstlich generieren, findet er falsch. In „Chained“ mischt er deswegen Laien mit Schauspielern. Ein grobes Handlungsgerüst gab er ihnen vor. Aber er ließ während der Dreharbeiten große Freiräume zur Improvisation. Shani, so erzählt er am Sonntagabend bei der Weltpremiere im Panorama der Berlinale, ist stolz auf den Ansatz. Mit Ausnahme des Schlusses seien alle Szenen jeweils der erste Aufnahmeversuch gewesen. So stellt Shani eine Wahrhaftigkeit auf der Leinwand her, die ihres Gleichen sucht. Die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm verschwimmen.
Polizeiliche Talente sind Gift für Familie
Im hebräischen Original heißt der Film „Eynayim Sheli“ (Meine Augen). Der Polizist Rashi hat seine Augen im Privatleben zu weit und zu intensiv aufgerissen. Jedes Treffen seiner Tochter mit Freunden betrachtet er misstrauisch. Aus Fürsorge will er sie so lange wie möglich von Drogen, Sex und Gewalt fern halten. Das macht ihn zu einem übervorsichtigen Vater, der seinem Kind die Luft zum Atmen nimmt. Auch seine Ehefrau Avigail (Stav Almagor) spürt den Druck. Gemeinsam versuchen sie aktuell, ein zweites Kind zu bekommen. Aber sie erleidet eine Fehlgeburt. So führsorgend und aufmerksam Rashi auch ist – seine polizeilichen Talente sind Gift für die Familie.

Frau Avigail und Tochter Yasmin | © Berlinale 2019
Rashi ist ein rechtschaffender Mann. Er ruiniert seiner Tochter aber auch ein Fotoshooting, weil er zu viel Angst vor aufreizenden Posen und zu knappen Kleidern hat. Aus einem Park schleppt er sie in sein Auto, als er sie mit Hilfe eines Polizistenkollegen über ihr Handy ortet und beim Alkoholtrinken erwischt. Wer liebt, muss auch Freiräume zugestehen. Er muss seiner Tochter vor allem mehr vertrauen. Seine Übervorsichtigkeit, die Dominanz und der Beschützerinstinkt treiben auch die Beziehung mit seiner Frau in eine Krise. Seine Emotionen entwickeln sich für ihn zu einem Gefängnis. Er begreift nicht, dass er zwar keine körperliche Gewalt auf seine Familie ausübt. Aber umso stärker ist seine psychische und verbale Gewalt aus Liebe.
Aus dem Leben gegriffen
Diese Abwärtsspirale ist in den langen sowie intensiven Dialog- und Konfliktszenen teils eine echte Herausforderung für den Zuschauer. Aber selten fühlt sich Kino so unmittelbar und wahrhaftig an. Das hängt auch damit zusammen, dass die Schauspieler stärker ihre eigene Biografie in die Figuren einbrachten. Eran Naim, der Rashi spielt, war zum Beispiel selbst Polizist. „Chained“ ist nicht seine Geschichte. Viele Elemente der Handlung sind ihm aber im eigenen Leben begegnet.

Die Produktionsgeschichte von „Chained“ klingt abenteuerlich und aufopferungsvoll. Bereits drei Jahre sei es her, dass sie den Film abgedreht haben, erzählt Regisseur Shani. Eine einzige Produktion war geplant. Aber der freie Entfaltungsrahmen für die Schauspieler sprengte alle Zeitgrenzen, so dass das Projekt auf drei Spielfilme angewachsen ist. Der erste Teil der Trilogie, „Stripped“, feierte seine Weltpremiere auf dem Venedig-Festival. Der abschließende Teil „Reborn“ hat noch keinen festen Start. Die Produzenten, worunter auch der Kultursender Arte und das Kleine Fernsehspiel des ZDF sind, bezeichnete Shani aufgrund der Ausdauer und des Vertrauens in das Projekt als „auf eine positive Weise verrückt“. Zu hoffen bleibt, dass zwischen den nächsten Projekten Shanis nicht wieder fast zehn Jahre vergehen müssen.

Regisseur Shani (r.) und seine Hauptdarsteller in Berlin
Weitere Kinotermine auf der Berlinale: 9. Februar um 19.30 Uhr im International, 10. Februar um 14.30 Uhr im Cine Star 3, 11. Februar um 14 Uhr im Cubix 9, 14. Februar um 19.30 Uhr im International, 17. Februar um 21.30 Uhr im Zoo-Palast 1.

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Samstag, 9. Februar 2019
12 Jahre nach Grisebach-Debüt im Wettbewerb: „Systemsprenger“ schlägt auf der Berlinale ein

Monströs: Helena Zengel als Benni | © kineo Film / Weydemann Bros. / Yunus Roy Imer
Endlich einmal präsentiert die Berlinale den Filmkritikern und Zuschauern gleich zu Anfang ein echtes Highlight: Nora Fingscheidts deutscher Debütfilm „Systemsprenger“ ist eine emotionale Achterbahnfahrt.

Bei Filmen gibt es nur noch wenige Tabus. Zu viel hat man über die Jahre gesehen und erlebt. „Kannibalen des Auges“ nannte der deutsche Filmkritiker Hans Schifferle einmal zutreffend Cineasten. Ich konnte zum Beispiel noch nie Einstiche von Spritzen in der Realität und auf der Leinwand ertragen. Im Zweifelsfall hilft die Hand vorm Auge oder sie werden halt kurz geschlossen. Was bis heute aber gar nicht bei mir geht, sind Filmszenen, in denen Kinder ihre Eltern schlagen. Psychologisch lässt sich das bestimmt erklären. Aber bei mir ist da einfach nur tiefe Abscheu und auch Ekel vorhanden, bei dem sich alles in den Eingeweiden zusammenzieht. In Takashi Miikes berüchtigtem Film „Visitor Q“ gibt es unerträgliche Szenen, in denen der Sohn seine Mutter verprügelt. Ich weiß nicht, ob das die Respektlosigkeit gegenüber dem Geschenk des Lebens durch die Eltern ist oder das genetische Gründe hat – Kinder, die ihre Eltern schlagen, sind auf jeden Fall ein wunder Punkt.

Genau da setzt auch Nora Fingscheidts Debütfilm „Systemsprenger“ im Berlinale-Wettbewerb am Freitag an. Das ist ganze 12 Jahre nach Valeska Grisebachs furiosem Film „Sehnsucht“ über einen einsamen Polizisten in der Brandenburger Provinz. So lange hat es gedauert, bis sich der nun abtretende Festivaldirektor Dieter Kosslick nochmal traute, einen deutschen Erstlingsfilm in der wichtigsten Reihe zu zeigen. Es geht um die 9-jährige Benni (Helena Zengel), die von unbändigen Aggressionen heimgesucht wird und sich häufig nicht anders zu helfen weiß als Gewalt einzusetzen. Deswegen wohnt sich auch nicht mehr Zuhause bei ihrer Mutter und den zwei Geschwistern, sondern wird von Kindereinrichtung zu Pflegefamilie herumgereicht. Keine Therapie will bei Benni helfen, die eigentlich Bernadette heißt, aber wie ein Lausbube, der keiner Fliege ein Haar krümmen könnte, aussieht. Sie bekommt mit dem kernigen Micha (Albrecht Schuch) einen neuen Schulbegleiter zur Seite. Große Hoffnungen ruhen auf ihm aber nicht. Experimentelle Medikamente mit starken Nebenwirkungen und eine Kindereinrichtung in Afrika scheinen der letzte Ausweg zu sein.
Realistischer Horror, der unter die Haut geht
„Systemsprenger“ ist eine Art Horrorfilm geworden. „We Need to Talk About Kevin“ ohne den diabolisch überhöhten Terroristensohn, aber mit einem echten Monstrum von Kind, was nichts für seine Gewaltausbrüche kann. Das ist umso schwieriger als Zuschauer zu akzeptieren. Warum holt die Mutter das Kind nicht wieder zurück in die Familie? Ist vielleicht mangelnde Liebe das Problem? Schnell klärt der Film aber darüber auf, was dann passieren würde. Benni büchst aus ihrer Betreuungsstelle aus, belügt eine Autofahrerin, um sich nach Hause bringen zu lassen. Es dauert nur eine kurze Zeit, bis die Mutter in die Wohnung zu den Kindern kommt, die Situation aus dem Nichts heraus eskaliert und Benni mit einem schweren Gefäß auf der am Boden liegenden Mutter einprügelt. Ohnmacht und Hilflosigkeit sind vorherrschende Gefühle.

Die Erkrankung der Systemsprenger gibt es wirklich. Als Auslöser im Film wird spekuliert, dass die Disposition bei Benni als Säugling entstand, als ihr schmutzige Windeln ins Gesicht gedrückt wurden. Das ist harter Tobak. Wie der gesamte Film einer Tortur gleicht, weil auf der einen Seite die Einsamkeit des Kindes und auf der anderen Seite die regelmäßige Gefährdung von anderen Menschen steht. Kleinste Hoffnungspflänzchen werden umso brutaler zerschlagen. Regiedebütantin Fingscheidt bringt für dieses emotional schwierige Thema eine unglaublich souveräne Schauspielführung mit an Bord. Shooting Star Albrecht Schuch („Bad Banks“, „Gladbeck“) ist sowieso schon ein Schauspielriese.

Aber wie er sich als leicht zu erzürnender Sozialarbeiter um Benni kümmert und dabei das Wohl seiner eigenen Familie aufs Spiel setzt, ist gerade im gemeinsamen Waldcamp großartig anzuschauen. Endlich hat Schuch mit dem beängstigenden Naturtalent Helena Zengel eine ebenbürtige Gegenspielerin gefunden. Hiernach kann er eigentlich nur noch von Quentin Tarantino entdeckt, James-Bond-Bösewicht in der Tradition von Gert Fröbe und Curd Jürgens oder der neue Schimanski werden. Den Silbernen Bären für das beste Schauspiel hat aber Gabriela Maria Schmeide („Die Friseuse“, „Frau Müller muss weg“) verdient. Ihre mitfühlende und immer hilfsbereite Sozialarbeiterin Frau Bafané ist das eigentliche Herz des Films. Wenn selbst sie als Fels in der Brandung nicht mehr mit Benni weiter weiß, bricht gleich das ganze Publikum mit ihr zusammen.
Erinnert an „Punch-Drunk Love“-Farbenspiel
Es ist aber vor allem auch die dynamische Kameraarbeit, welche die Energien auf den Zuschauer überträgt. Keine egalen Shaky-Action-Cams. Wenn hier die Kamera wackelt, hinterhersprintet und die junge Protagonistin aus dem Bild zu verlieren scheint, ist das die perfekte visuelle Entsprechung zu dem tragischen Schicksal des Mädchens. Auch gibt es immer wieder nur Bilder, die in eine Farbe getaucht sind und Bennis Emotionen darstellen. Paul Thomas Anderson hat das auch mal sehr gelungen in der Tragikkomödie „Punch-Drunk Love“ eingesetzt. „Systemsprenger“ nimmt den Zuschauer mit in den Kopf der kranken Protagonistin. Regisseurin Fingscheidt mutet uns viel zu. Aber Teil dieser emotionalen Achterbahnfahrt zu sein, ist jeden Schmerz wert. Zumal Fingscheidt immer wieder den Humor während des Terrors und der Lähmung findet.

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Sonntag, 20. Januar 2019
„Goldener Handschuh“-Trailer suhlt sich im deutschen Schlager


Erster Trailer zu Akins „Der Goldene Handschuh“ veröffentlicht.

Das wird wohl wirklich einer der Filme des Berlinale-Wettbewerbs. Und ein Austesten der Schmerzgrenze. Regisseur Fatih Akin umarmt die Schlagervorgaben von Heinz Strunks Roman. Jonas Dasslers Maske funktioniert. Der deutsche Kinostart des Berlinale-Wettbewerbsfilms ist am 21. Februar.

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Donnerstag, 17. Januar 2019
Berlinale-Wettbewerb: Das Beste aus der Situation machen

„Synonymes“ | © Guy Ferrandis / SBS Films
Die letzten Wettbewerbszugänge der Berlinale sind etwas für cineastische Feinschmecker – nicht für Hollywoodjünger. Sie versöhnen etwas für die verpassten Schwergewichte, bei denen wohl Cannes den Zuschlag bekam.

Die Berlinale hat am Donnerstag die letzten fünf Wettbewerbsfilme ergänzt. Damit ist klar, dass die attraktiven Schwergewichte Malick, Korine und Almodóvar nach Cannes wandern werden. Thierry Frémaux braucht im Kampf mit Venedig jeden Regiestar, den er kriegen kann. [Nachtrag 18.01.: Korines „The Beach Bum“ geht wie schon Peeles „Us“ zum SXSW-Festival] Es bedeutet jetzt aber auch, dass man sich auf das konzentrieren kann, was wirklich in Berlin läuft. Dahingehend sind die finalen Zugänge nämlich recht schmackhaft und spannend. Negative Space hatte zum Beispiel insgeheim die ganze Zeit auf den israelischen Auteur Nadav Lapid gehofft gehabt.

Der Tel Aviver ist der Ausnahmeregisseur seiner Generation. Abonniert auf die Un Certain-Regard-Reihe in Cannes war er eigentlich dafür vorgesehen, in den Wettbewerb des wichtigsten Festivals der Welt aufzusteigen. Aber plötzlich ist er in der Berliner Konkurrenz. Lapid dreht selten. Zwei Filme reichten für seinen Weltruhm: die unter die Haut gehende Männlichkeitsstudie „Policeman“ und „The Kindergarten Teacher“. Bis heute sind das Geheimtipps unter Cineasten.

Sein neuer Film „Synonymes“ soll stark autobiografisch gefärbt sein. Die ersten Film Stills haben eine farbenfrohe Strenge und Konzentriertheit. Sie besitzen etwas Musicalhaftes wie von Jacques Demy und deuten auf eine Beziehungsgeschichte hin. Ein junger Israeli will in Paris den Wahnsinn seiner Heimat vergessen. Komplizen Film ist Co-Produzent. Das ist einer der wenigen Wunschfilme, die Berlinale-Direktor Dieter Kosslick wahr machen konnte.
Die hochbegabte Léa Mysius
Der Über-Cineast Cédric Succivalli hatte ja bereits den chinesischen Regisseur Zhang Yimou („One Second“) für den Wettbewerb vorhergesagt. Das könnten wirklich asiatische Festspiele werden. Die Bilder aller drei chinesischen Wettbewerbsfilme sind imposant und gewaltig. Auch sehr schön ist die Rückkehr des französischen Altmeisters André Téchiné in den Wettbewerb. Nach „Being 17“ läuft jetzt außer Konkurrenz „Farewell to the Night“ mit Catherine Deneuve und Kacey Mottet Klein. Die hochbegabte Léa Mysius („Ava“) hat am Drehbuch mitgeschrieben. Es geht um französische Jugendliche, die sich im Ausland radikalisieren und in ihre Heimat zurückkehren.

Der Wettbewerb 2019 bietet Highlights wie „Der Goldene Handschuh“, „By the Grace of God“, „Ich war zuhause, aber ...“, „Synonymes“ und „Varda by Agnès“. Er fährt Verheißungsvolles auf wie die drei chinesischen Filme „So Long, My Son“, „Öndög“ und „One Second“ sowie „Out Stealing Horses“, „Systemsprenger“, „Ghost Town Anthology“, „The Operative“, „A Tale of Three Sisters“, „The Kindness of Strangers“ und „Farewell to the Night“. Hüten werde ich mich vor Agnieszka Holland, eventuell auch vor Isabel Coixet, wenn nicht die masochistische Ader obsiegt.

Der Glamourfaktor beträgt null, der Hollywoodfaktor 0,5. Mit dem richtigen Geschmack und einem glücklichen Händchen können es trotzdem erinnerungswürdige Festspiele werden. Vielleicht gibt es sogar frühlingshafte Temperaturen. Machen wir das Beste aus Kosslicks Abschiedsshow, betrauern wir ein bisschen den Weggang des Mannes, der mehr als 18 Jahre die Geschicke des wichtigsten deutschen Filmfestivals geleitet hat. Freuen wir uns aber auch schon auf seinen Nachfolger Carlo Chatrian.

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