Donnerstag, 6. Dezember 2018
Lone Scherfigs „The Kindness of Strangers“ eröffnet Berlinale

Zoe Kazan und Tahar Rahim | © Per Arnesen
Ein erlesener Cast und eine Dogma-Regisseurin eröffnen die Berlinale 2019: Der Episodenfilm „The Kindness of Strangers“ von Lone Scherfig erzählt von Lebenskrisen im New Yorker Winter.

Mit der Weltpremiere von Lone Scherfigs neuem Film „The Kindness of Strangers“ wird die 69. Berlinale am 7. Februar eröffnet. In dem Episodenfilm mit Zoe Kazan („The Ballad of Buster Scruggs“), Tahar Rahim („Ein Prophet“), Andrea Riseborough („Mandy“) und Bill Nighy („Tatsächlich Liebe“) versuchen krisengeschüttelte Personen, durch den New Yorker Winter zu kommen. Ihre Wege kreuzen sich im einem russischen Restaurant.

Die dänische Regisseurin Scherfig begann ihre Filmkarriere mit dem Werk „Die Geburtstagsreise“, das 1990 in der Berlinale-Sektion Panorama gezeigt wurde. Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie im Jahr 2000 mit der Dogma-Komödie „Italienisch für Anfänger“. In Berlin erhielt sie dafür den Silbernen Bären der Jury. Auch ihre Werke „Wilbur Wants Kill Himself“ und der oscarnominierte „An Education“ liefen auf dem deutschen Festival.

„Ich fühle mich geehrt, dass Dieter Kosslick unseren Film ausgewählt hat, um solch einen festlichen und besonderen Abend zu feiern. Es wird eine große Freude sein, den Film zum ersten Mal mit dem renommierten Berlinale-Publikum zu sehen“, sagt Scherfig zur Einladung. „Wie schön, dass Lone Scherfig zurück ist und ihr jüngster Film die Berlinale 2019 eröffnet. Ihr Gespür für Charaktere, große Emotionen und subtilen Humor versprechen einen wunderbaren Festivalauftakt“, kommentiert Berlinale-Direktor Dieter Kosslick.
Der winterliche Film passt auf die Berlinale
Negative Space hält „The Kindness of Strangers“ für eine gute Wahl als Eröffnungsfilm: Scherfig hat in ihrer Karriere schon mal bei den Oscars mitspielen dürfen, weiß aber auch ganz genau, wie sich Flops anfühlen. Sie ist ein weiblicher Auteur, schreibt, wenn sie kann, ihre Drehbücher selbst oder ist beteiligt. Sie schreibt sogar für andere Regisseure. Andrea Arnold half sie zum Beispiel gemeinsam mit Anders Thomas Jensen die Figuren von „Red Road“ zu entwickeln. Die Dänin hat jetzt einen winterlichen Film gedreht, in dem sich die Protagonisten in einer kalten Welt Wärme spenden, was perfekt in den Berlinale-Februar passen wird. Der Berlinale-Twitter-Account nennt den Film ein „modernes Märchen“.

Der Cast besteht nicht aus Superstars wie George Clooney, bei denen sich der gesamte Abend nur um sie drehen würde. Stattdessen darf man sich auf Zoe Kazan freuen, die in Hollywood mit „The Big Sick“ und „The Ballad of Buster Scruggs“ durchgestartet ist. Sie hat im Film offenbar eine Liaison mit dem französischen Schauspieler Tahar Rahim, dem man seit seinem Cannes-Durchbruch in „Ein Prophet“ eine große Karriere wünscht, was bislang noch nicht so recht geklappt hat. Die Britin Andrea Risebourough bereicherte dieses Jahr den Kultfilm „Mandy“ und soll fabelhaft in „Nancy“ gewesen sein. Und Bill Nighy hat noch nie einem Episodenfilm geschadet.
Kosslicks Eröffnungsfilm-Historie
Der beste Eröffnungsfilm, den die Berlinale unter der Leitung Kosslicks überhaupt hatte, war wohl das Edith-Piaf-Biopic „La Vie en Rose“: eine Weltpremiere, welche die internationale Karriere der französischen Schauspielerin Marion Cotillard startete; ein richtig toller, emotional mitreißender Film, der auch durch die Biografie Edith Piafs Glamour auf dem roten Teppich im Jahr 2007 verbreitete. Aber solch ein Volltreffer, der gleichzeitig schwer und leicht daherkommt, ist ultraselten. Auch das übermächtige Filmfestival von Cannes, das programmtechnisch als Branchenprimus immer aus dem Vollen schöpfen kann, bekommt das fast nie hin.

Seine stärkste Phase hatte der Berlinale-Direktor Kosslick von 2012 bis 2014: Der Eröffnungsfilm „Leb wohl, meine Königin!“ mit Diane Kruger und Léa Seydoux leitete den Reigen ein. Es folgte 2013 Wong Kar-wais lange erwartetes Martial-Arts-Glanzstück „The Grandmaster“. Der startete zwar schon am 8. Januar in den chinesischen Kinos. Aber für den Westen war es quasi eine Weltpremiere. Die Krönung war dann 2014 Wes Andersons Babelsberg-Extravaganza „The Grand Budapest Hotel“ mit allen seinen Hollywoodstars. Dieses Jahr kehrte Anderson mit „Isle of Dogs“ zurück. Für Kosslick selbst war wahrscheinlich doch Martin Scorseses Dokumentation „Shine a Light“ der größte Triumph, bei deren Weltpremiere 2008 tatsächlich die Hauptdarsteller, nämlich die Rolling Stones, vorbeischauten.

Schwierig und meistens Notlösungen sind immer Berlinale-Eröffnungsfilme, an die man sich im Folgejahr schon nicht mehr aus Scham oder Egalsein erinnert: „Django“, „Nobody Wants the Night“, „Tuan Yuan“, „Snow Cake“ oder „Man to Man“. Für Hollywood verzichtete Kosslick auch gerne auf die Exklusivität: „Hail, Caesar!“, „True Grit“, „Cold Mountain“ und „Chicago“ hatten Monate vorher ihre Weltpremieren in den Vereinigten Staaten, um sich für das Oscar-Rennen zu qualifizieren. Das Problem wird er bei Lone Scherfigs Eröffnungsfilm, der lange Zeit für Sundance gehandelt wurde, im kommenden Jahr nicht haben. Wenn die Filmqualität stimmt, könnte das ein charmanter und sympathischer Eröffnungsabend 2019 werden.

HanWay Films übernimmt den Weltvertrieb sowie die Verleihrechte von „The Kindness of Strangers“ und wird hierbei von Ingenious Media und Apollo Media unterstützt. Entertainment One wird den Film in Kanada vertreiben, SF Studios in Skandinavien. Unter den verschiedenen Produzenten befinden sich auch die deutsche Firma Nadcon sowie der WDR und Arte. Die 69. Berlinale findet vom 7. bis 17. Februar 2019 statt.

Link: - Was auch auf der Berlinale 2019 laufen könnte

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Sonntag, 2. Dezember 2018
Catch-22 2018

„First Reformed“ | © Arclight Films
Hier sind 22 Lieblingsfilme des Negative-Space-Chefs Michael Müller aus dem Kinojahr 2018. Sie sind in alphabetischer Reihenfolge gelistet. Am Ende des Jahres werden sie in eine Top Ten gebracht und um Dokumentarfilme und andere Kategorien ergänzt.

Alphabetisch:

* AMANDA – Mikhaël Hers
* ASPHALTGORILLAS – Detlev Buck
* THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS – Joel & Ethan Coen
* BEAST – Michael Pearce
* BECOMING ASTRID – Pernille Fischer Christensen
* BORDER – Ali Abbasi
* BURNING – Lee Chang-dong
* AN ELEPHANT IS SITTING STILL – Hu Bo
* THE FAVOURITE – Yorgos Lanthimos
* DIE FEURIGEN SCHWESTERN – Albertina Carri
* FIRST MAN – Damien Chazelle
* FIRST REFORMED – Paul Schrader
* GEULA – Yossi Madmoni & Boaz Yehonatan Yaacov
* GUNDERMANN – Andreas Dresen
* IN DEN GÄNGEN – Thomas Stuber
* ISLE OF DOGS – Wes Anderson
* LUZ – Tilman Singer
* MANDY – Panos Cosmatos
* MANTA RAY – Phuttiphong Aroonpheng
* THE NIGHT COMES FOR US – Timo Tjahjanto
* RED COW – Tsivia Barkai
* DER UNSCHULDIGE – Simon Jaquemet

Links: - Catch-22 2017 | - Catch-22 2016 | - Catch-22 2015

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Donnerstag, 22. November 2018
Weitere Berlinale-Spekulationen 2019

Almodovars „Dolor y gloria“ | © El Deseo
Noch mehr Titelspekulationen als im Oktober: Wenn diese Regisseure alle im Februar nach Berlin kämen, würde Kosslicks Abschiedsgala legendär werden.

Na, wenn das keine Geste an Dieter Kosslick ist: Der neue Pedro-Almodóvar-Film „Dolor y gloria“ mit Penélope Cruz und Antonio Banderas hat einen spanischen Kinostart im Februar. Beim lesbisch-schwulen Teddy-Preis auf der Berlinale hatte der spanische Altmeister seine internationale Karriere begonnen. Er könnte 2019 zu seinen Wurzeln zurückkehren – und es damit Aki Kaurismäki gleichtun, der 2017 „The Other Side of Hope“ in die deutsche Hauptstadt und nicht wie gewöhnlich nach Cannes brachte.

Negative-Space-Spekulationen (15.10.):

Radegund (Terrence Malick)
The Beach Bum (Harmony Korine)
Us (Jordan Peele)
By the Grace of God (François Ozon) *Wettbewerb*
Dumbo (Tim Burton)
Ema (Pablo Larrain)
My Zoe (Julie Delpy)
Roads (Sebastian Schipper)
Lara (Jan Ole Gerster)
Berlin Alexanderplatz (Burhan Qurbani)
A Pure Place (Nikias Chryssos)
Geliebt (Anne Zohra Berrached)
Der Fall Collini (Marco Kreutzpaintner)
Deutschstunde (Christian Schwochow)
Ich war zuhause, aber ... (Angela Schanelec) *Wettbewerb*
Der goldene Handschuh (Fatih Akin) *Wettbewerb*
Little Joe (Jessica Hausner)
Temblores (Jayro Bustamante) *Panorama*
Twins (Lamberto Bava)

Die größten und unwahrscheinlichsten Wunschkandidaten sind Albert Serra, Brian De Palma und Katrin Gebbe. Es kommen viele Regisseure vor, die im Berlinale-Wettbewerb alte Bekannte wären. Ich drücke die Daumen für Linklater, Lapid und Hansen-Løve.

AwardsWatch-Ergänzungen (22.11.):

Where’d you go, Bernadette (Richard Linklater)
Wild Goose Lake (Yi’nan Diao)
Pelikanblut (Katrin Gebbe)
Walking to Paris (Peter Greenaway)
Matthias & Maxime (Xavier Dolan)
To the Ends of the Earth (Kiyoshi Kurosawa)
Il signor diavolo (Pupi Avati)
Les ennemis (André Téchiné)
Domino (Brian De Palma)
Synonymes (Nadal Lapid)
Once Upon a Time in Palestine (Aharon Keshales, Navot Papushado)
Frankie (Ira Sachs)
Bergman Island (Mia Hansen-Løve)
Dolor y gloria (Pedro Almodóvar)
I Am an Artist (Albert Serra) *Woche der Kritik*
Gomera (Corneliu Porumboiu)
As filhas do Fogo (Pedro Costa)
Dernièr Amour (Benoît Jacquot)
Geschwister (Edward Berger)
Ford Vs. Ferrari (James Mangold)
Jojo Rabbit (Taika Waititi)
Notturne (Gianfranco Rosi)
The Good Liar (Bill Condon)
Elisa & Marcela (Isabel Coixet)
Joyeux anniversaire (Cédric Kahn)
Ghost Town Anthology (Denis Côté) *Wettbewerb*
About Endlessness (Roy Andersson)
The Souvenir (Joanna Hogg) *Panorama*
The Personal History of David Copperfield (Armando Iannucci)
The Dead Don't Die (Jim Jarmusch)
Saturday Fiction (Lou Ye)
Drakulics elvtárs (Márk Bodzsár)
Calm with Horses (Nick Rowland)
Parasite (Bong Joon-ho)

indieWIRE-Ergänzungen (29.11.):

High Flying Bird (Steven Soderbergh) [Netflix-Start am 08.02.]
The Kill Team (Dan Krauss)
The Kindness of Strangers (Lone Scherfig) *Eröffnungsfilm*
Untitled Miranda July Project (Miranda July)

Playlist-Ergänzungen (03.12.):

Missing Link (Chris Butler)
Going Places (John Turturro)
Proxima (Alice Winocour)
Untitled Chris Morris Project (Christopher Morris)
Greyhound (Aaron Schneider)
Wendy (Benh Zeitlin)

Le Polyester-Ergänzungen (03.12.):

Adoration (Fabrice du Welz)
Blanche-Neige (Anne Fontaine)
Le daim (Quentin Dupieux)
Jeanne (Bruno Dumont)
Cash Nexus (François Delisle)
Fireball (Werner Herzog)
Freaks Out (Gabriele Mainetti)
Niemandsland (James Kent)
Elisa y Marcela (Isabel Coixet)
Il peccato (Andrey Konchalovskiy)
The County (Grímur Hákonarson)
Out Stealing Horses (Hans Petter Moland)
Valley of the Gods (Lech Majewski)
Gareth Jones (Agnieszka Holland)
Eden (Agnes Kocsis)
Mindörökké (György Pàlfi)
A Vida Invisível (Karim Aïnouz)
Chaos Walking (Doug Liman)
Shirley (Josephine Decker)
The Lighthouse (Robert Eggers)
Waves (Trey Edward Shultes)

Weitere Kandidaten:

Untitled Babak Anvari Project (Babak Anvari)
Das melancholische Mädchen (Susanne Heinrich) *WdK*
Ich Ich Ich (Zora Rux)
Smile (Steffen Köhn)
Ich bin voller Hass und das liebe ich (Oliver Grüttner)
Die Einzelteile der Liebe (Miriam Bliese) *Perspektive Dt. Kino*

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Doku-Tipp: Geschichte einer israelischen Nonne

Die Geschwister Marina und Tatiana | © Danae Elon Films
Die Dokumentation „A Sister’s Song“ erzählt von einer Israelin, die Nonne wird. Dabei erfährt der Zuschauer auch eine Menge über russische Einwanderer in Israel und die Definition von Lebensglück.

Marina hat Schuldgefühle. Die alleinerziehende Mutter, die am Technion studiert hat und mit ihrem Sohn in Haifa lebt, erinnert sich an ihre Jugend. In Jerusalem entdeckte sie als neugieriges Kind das Kreuzkloster. Das beeindruckende Gebäude südöstlich der Knesset übte auf sie eine besondere Faszination aus. Der Legende nach soll an diesem Ort der Baum gestanden haben, aus dessen Holz das Kreuz Christi gefertigt wurde. Marina nahm ihre zwei Jahre ältere Schwester Tatiana mit zum Kloster, weil die besser Englisch sprechen konnte. Heute lebt Tatiana als Nonne in einem Kloster auf Griechenland. Die Familienbünde sind fast abgerissen. Besonders das Verhältnis zu den Eltern ist praktisch nicht mehr existent.

Tief in ihrem Herzen fühlt Marina, dass sie wegen ihrer damaligen Neugierde mitverantwortlich für den Lebenswandel ihrer Schwester ist. Die israelische Filmemacherin Danae Elon spürt dieser Familiengeschichte in der Dokumentation „A Sister’s Song“ (Ein Lied der Schwester) nach. Seine Weltpremiere feierte der Film im Mai auf dem Tel Aviver Festival Docaviv. Aktuell zu sehen ist „A Sister’s Song“ auf dem Filmfestival von Montréal. Einen deutschen Verleih gibt es noch nicht.
Parallele zu deutschem Film über Legionäre Christi
Im Kloster rufen die anderen Nonnen Tatiana Schwester Jerusalem. Für ihre Schwester heißt sie einfach Motek, ihre Mutter nennt sie weiterhin Tatiana. Die Familie wanderte aus Russland nach Israel ein, als Marina und Tatiana noch klein waren. Direkt nach dem Schulabschluss verlässt Tatiana ihre Heimat, um nach Griechenland ins Kloster zu gehen. Der Film folgt jetzt dem Versuch Marinas, wieder Kontakt mit ihrer älteren Schwester herzustellen und sie im besten Falle nach Hause zu bringen. Dabei erinnert „A Sister’s Song“ an eine deutsche Dokumentation, die im Februar auf der Berlinale ihre Weltpremiere hatte: In „The Best Thing You Can Do with Your Life“ versuchte die Regisseurin Zita Erffa, ihren Bruder aus der katholischen Ordensgemeinschaft Legionäre Christi zu befreien. Dabei stellte die Deutsche fest, dass der Bruder glücklich in der Gemeinde lebte. Aber auch da speiste sich die Motivation für die Reise aus einer Mischung von Schuldgefühlen und dem Wunsch, dass die familiären Verbindungen wieder enger werden.

Zweiteres ist auch die treibende Kraft hinter der Reise von Marina nach Griechenland. Ihr Interesse gilt weniger den religiösen Ritualen des griechisch-orthodoxen Klosters. Sie glaubt zu wissen, dass ihre Schwester Tatiana dort nicht glücklich sein kann. Wenn sie ihre Schwester nach Israel zurückbringt und mit ihrem christlichen Lehrmeister und Beichtvater Gerondas wieder vereint, so ihr Gedankengang, dann wäre allen geholfen. Zumal Tatiana dann auch ihre Mutter und Marinas Sohn wiedersehen könnte. Aber Marina versteht nicht, dass es bei Tatianas Lebensentscheidung um Leben und Tod geht. Der Tod bedeutet in diesem Fall nicht, ihren geistigen Vater Gerondas nicht wiedersehen zu können, sondern nicht mehr mit Gott zu sein.
Streit um den Sinn des Lebens
Einmal sagt die Oberschwester des Klosters vielleicht etwas garstig, aber auch pointiert analysierend: „Wer ist Marina, dass sie von Erfolgen im Leben spricht? Sie ist zwei Mal geschieden, oder? Ich will nicht böse sein und nur ihre Sicht verstehen. Aber glaubt sie wirklich, dass sie die wahre Sicht auf Glück und Zufriedenheit im Leben hat? Anstelle sie herausholen zu wollen, könnte sie ihre ältere Schwester für ihre hohen Ziele bewundern.“

Von daher handelt diese kanadisch-israelische Dokumentation nicht nur von einer familiären Rückholaktion. Es ist auch die Geschichte von russischen Einwandern in Israel, die sich vor allem in den ersten Jahren sehr fremd im Land gefühlt haben. Sie seien von den Israelis weiterhin als Russen angesehen worden und fühlten sich den Juden nicht zugehörig, erzählt die angereiste Mutter vor der Kamera. Mit ihren Töchtern spricht sie ausschließlich Russisch. Nach den gescheiterten Versuchen, auf dem israelischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, waren sie und ihr Mann in die USA ausgewandert. Tatianas Anknüpfungspunkt zum christlichen Glauben erklärt die Dokumentation auch ein Stück weit heraus aus dem Gefühl des emotionalen Verlorenseins in Israel.

Die Landschaften und das Miteinander der Geschwister sind in „A Sister’s Song“ wunderschön und atmosphärisch gefilmt. Ein weiteres Qualitätskriterium ist, dass die Regisseurin Elon ihren Protagonistinnen mit der Kamera nicht nur optisch, sondern auch beim Blick in die Seele sehr nahe kommt. Nicht umsonst steht dem Film das Emily-Dickinson-Zitat „Sich trennen ist den Himmel sehn und in die Hölle fahr’n“ voran. Das Werk hat zwar nur eine Lauflänge von nur knapp 80 Minuten. Es schafft es trotzdem gleichzeitig ein Film über Israel, Glaube, Familie, Glück und den Sinn des Lebens zu sein. Die 47-jährige Regisseurin, die in Jerusalem aufwuchs, ist die Tochter des bekannten israelischen „Ha’aretz“-Journalisten Amos Elon, der ein großer Kritiker der israelischen Politik seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 war.

Link: - „The Best Thing You Can Do with Your Life“

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Tarantino eröffnet wieder mit Gangstern, Weihnachtsklassikern und Henry Hathaway

© New Beverly Cinema
In Quentin Tarantinos wiedereröffneten New-Beverly-Cinema weihnachtet es sehr mit John McClane, Hongkong-Hitmen und Frank Capra.

Nach einer knapp einjährigen Restaurierung öffnet Quentin Tarantinos New Beverly Kino in Los Angeles ab Dezember wieder seine Pforten. Mit Spannung wurde das erste Monatsprogramm erwartet. Es ist mit Gangsterfilmen und Weihnachtsklassikern gespickt. Also gibt es einerseits Brian De Palmas „Die Unbestechlichen“, „Goodfellas“ und Sergio Sollimas „Brutale Stadt“ mit Charles Bronson. Zum anderen laufen weihnachtliche Werke wie „Stirb langsam“, „Die Geister, die ich rief“, „Ist das Leben nicht schön?“ und der Slasherklassiker „Silent Night, Deadly Night“. Weitere Weihnachtsfilme sind „Nightmare Before Christmas“, „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“, „Christmas Evil“, „Das Wunder von Manhattan“ (1947), „Santa Clause: The Movie“ (1985), „Black Christmas“, „Schöne Bescherung“, „A Christmas Story“, „Versprochen ist versprochen“ und „The Hateful Eight“.

Aufregender sind insbesondere zwei Double-Feature-Vorstellungen. Am 11. Dezember zeigt Tarantino nämlich zwei rare Hongkong-Hitmen-Filme: „A Taste of Killing and Romance“ von 1994 mit Andy Lau und „The Odd One Dies“ von 1997. Angesichts des tolle neuen Coen-Films „The Ballad of Buster Scruggs“ ist sogar noch etwas mehr Lust für Tarantinos Henry-Hathaway-Special da, was sich den Oberthemen des Monats ganz entzieht: Am 12. und am 13. Dezember laufen im New Beverly der Abenteuerfilm „The Last Safari“ mit Stewart Granger und der Western „Shoot Out – Abrechnung in Gun Hill“ mit Gregory Peck von 1971. Auch brandneu auf Tarantinos Empfehlungsliste ist die George-Seaton-Komödie „Hochzeitsnacht vor Zeugen“ („What’s So Bad About Feeling Good?“) mit George Peppard und Mary Tyler Moore aus dem Jahr 1968. Die läuft in einer Doppelvorstellung mit „Frühstück bei Tiffany“.

Links: - New Beverly Kalender, - Macho-Western, - Halloween

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Ist Roy Anderssons neuer Film „About Endlessness“ ein Berlin-Kandidat?

Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg - gedreht in Oslo

Der exzentrische Schwede Roy Andersson arbeitet an seinem neuen Film „About Endlessness“, der sich in der Postproduktion befindet. Eventuell könnte das verheißungsvolle Werk auf der Berlinale laufen.

Die Karriere des schwedischen Regisseurs Roy Andersson begann 1970 im Wettbewerb der Berlinale mit dem Werk „Eine schwedische Liebesgeschichte“. Eventuell kehrt er mit seinem neuesten Film, „About Endlessness“ („Om det oändliga“), in die deutsche Hauptstadt zurück. Die Dreharbeiten fanden seit diesem Februar statt. Auf dem kürzlichen Festival von Sevilla präsentierte der eigensinnige Filmemacher („Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“), der in den vergangenen vierzig Jahren gerade mal fünf Langspielfilme gedreht hat, erste Szenen.

Eine genaue Handlung ist noch nicht auszumachen. Aber wer das Werk von Andersson kennt, weiß, dass seine Geschichten nie einfach zu beschreiben sind. Es geht offenbar auch um den Zweiten Weltkrieg. Es gibt ein Paar, das über der zerbombten Stadt Köln fliegt. Die Rolle des Adolf Hitlers spielt in den Episoden der Schauspieler Magnus Wallgren. Eine große Massenszene zeigt Tausende Kriegsgefangene. Die deutsche Essential Filmproduktion ist neben Anderssons eigenen Firma und der französischen Firma Société Parisienne de Production an der Finanzierung beteiligt. Nachdem „Songs from the Second Floor“ in Cannes lief und der Tauben-Film den Goldenen Löwen von Venedig gewann, hätte es eine gewisse innere Logik, wenn „About Endlessness“ auf der Berlinale aufschlagen würde.

Link: - Sight & Sound

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Dienstag, 20. November 2018
Teaser zu Denis Côtés Berlinale-2019-Kandidat „Ghost Town Anthology“

© Maison 4:3

Der potenzielle Berlinale-Wettbewerbskandidat „Ghost Town Anthology“ von Denis Côté hat einen ersten Teaser-Trailer.

Der Kanadier Denis Côté ist ein alter Bekannter der Berlinale. Sein neuer Film „Ghost Town Anthology“, der einen frostigen Hitchcock-Vibe hat, spielt in dem 215-Seelen-Dorf Irénée-les-Neiges. Es geht um einen Autounfall, der die Dorfmenschen dauerhaft verändert und Fremde in die Gegend bringt, deren Motive unklar sind. Côtés Dokumentation „Bestiaire“ lief 2012 in Berlin. 2013 schaffte er es mit dem schön rauen „Vic + Flo Saw a Bear“ sogar in den Wettbewerb. Sein letzter Film, die Muskelmänner-Dokumentation „A Skin So Soft“, lief in Locarno. Ein genaues Startdatum gibt es für „Ghost Town Anthology“ noch nicht. Da das Werk aber 2019 herauskommt, ist eine Weltpremiere auf der Berlinale, die vom 7. bis 17. Februar stattfindet, nicht unwahrscheinlich. Die Produktionsfirma Maison 4:3 ist in Montreal ansässig.

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Samstag, 3. November 2018
Dieter Kosslick: „Kein Netflix-Film im Berlinale-Wettbewerb“

Foto: Harald Krichel, Wikipedia (CC BY-SA 4.0)
Kein bisschen amtsmüde: Der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick mag zwar 2019 in sein letztes Jahr gehen. Aber gerade bei gesellschaftspolitischen Themen brennt er im Interview nach wie vor lichterloh. Das Thema Netflix sieht er ambivalent.

Die kommende Berlinale wird thematisch von der Positionierung gegenüber dem Streaming-Riesen Netflix überlagert sein. Da ist sich der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick im frisch veröffentlichten Pop-Talk-Interview mit Moderator Nabil Atassi sicher. Dabei schließt Kosslick aus, dass es einen Netflix-Film im Wettbewerb geben wird: „Wir haben Richtlinien, dass das nicht geht. Die Filme müssen vorher ins Kino, bevor sie gestreamt werden oder ins Fernsehen kommen können.“ Aber es sei eine große Diskussion, die vor ungefähr einem Jahr begonnen habe. „Diese Diskussion wird ihren Höhepunkt auf jeden Fall auf der Berlinale erleben. Da geht es dann um Sein oder Nichtsein, Stream oder nicht Stream.“

Klar ist aber auch, dass diese Diskussion den 70-Jährigen, der im Februar sein letztes Berliner Filmfestival leiten wird, emotional nicht sonderlich umtreibt. Darauf angesprochen, ob ihn politische Themen wie Migration, Turbo-Kapitalismus und menschliche Ausbeutung mehr bewegen als Netflix, sagte er: „Das kann man so sagen. Die Netflix-Debatte ist eine Debatte, die in der Filmgeschichte eine kurze Debatte sein wird. Entweder werden die Filme im Kino gezeigt oder sie werden nicht gezeigt. Oder, was meine Vermutung ist: Netflix wird sie selbst im Kino zeigen. Man macht das, womit man mehr Geld verdienen kann. Das ist keine ideologische, sondern eine Geld-Frage.“ Der Kapitalismus sei immer gleich geblieben. Deswegen gebe es heute auch diese Verwerfungen in der Gesellschaft. Kultur wiederum müsse darauf aufmerksam machen, wenn etwas nicht stimme.
Kosslick kritisiert den Papst
Bei der Frage nach den politischen Themen der kommenden Berlinale war Kosslick mit Herzblut dabei und schilderte als Schwerpunkt rechtsradikale Bewegungen in Deutschland, Italien, der Tschechei und der Slowakei. Er kritisierte den Papst, der Frauen bei Schwangerschaftsabbruch „Auftragsmord“ vorwerfe. „Das sagt er ausgerechnet in einer Situation, in der aufgedeckt wurde, dass in allen Ländern Tausende von Kindern missbraucht wurden. Was sind das für Organisationen?“, fragte Kosslick rhetorisch. Das könne man nicht durchgehen lassen. Darauf werde die Berlinale aufmerksam machen. Die Aussage Kosslicks könnte als Verweis auf François Ozons neuen Film „By the Grace of God“ gewertet werden, der am 20. Februar in die französischen Kinos kommt. Das Werk, das von Missbrauchsopfern eines katholischen Priesters in Lyon erzählt, tauchte bereits in der Negative Space-Vorschau für Berlin auf.

Einen Eröffnungsfilm konnte Kosslick zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht präsentieren. Die Abstimmung dafür werde sich in den kommenden ein, zwei Monaten abspielen. Aber natürlich habe er einen passenden Kandidaten im Auge. Angesichts der vielen Ansprüche an den Eröffnungsfilm sei das eben nur nicht so einfach. Darauf angesprochen, ob er nach der Berlinale in das politische Feld wechseln wolle, sagte Kosslick: „Vielleicht sollte ich mich bewerben, Bürgermeister von Berlin zu werden. Vielleicht mache ich das auch. Aber erstmal mache ich eine Pause und denke darüber nach. Es ist nicht das erste, was mir in den Kopf kommt.“ Kosslick war ab 1979 vier Jahre lang Büroleiter des Hamburger Bürgermeisters Hans-Ulrich Klose.

Im Pop-Talk-Interview spricht Kosslick auch pointiert und ein bisschen wehmütig darüber, wie er mit dem offenen Brief der 79 Regisseure umgegangen ist, der eine Erneuerung der Berlinale gefordert hatte. Spiegel Online hatte den Brief am 24. November 2017 veröffentlicht und zugespitzt. Wenige Tage danach distanzierten sich bereits die ersten Unterzeichner, weil sie bei keiner Anti-Kosslick-Kampagne mitmachen wollten. Es wäre aber nicht zu viel behauptet, dass diese Aktion den Anstoß dafür gab, warum letztlich jemand wie Locarno-Direktor Carlo Chatrian ab 2020 die Berlinale künstlerisch leiten wird.

Links: - Podcast zur Berlinale-Zukunft | - Chatrians deutscher Geschmack | - Was 2019 auf der Berlinale laufen könnte

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Sonntag, 28. Oktober 2018
Frémaux: Ich verstehe die Oscar-Obsession der Presse nicht

Ab 16. November im Netz: „Ballad of Buster Scruggs“ | © Netflix
Der Cannes-Direktor Thierry Frémaux hat die Presse für ihre „Besessenheit von dieser einer Nacht im März“ kritisiert. Für 2019 hat er aber selbst Hoffnungen, wieder Netflix-Filme zeigen zu können.

Der Direktor des Filmfestivals von Cannes, Thierry Frémaux, hat sich zu der Konkurrenzlage mit dem erstarkten Venedig-Festival geäußert. In Rom sagte er laut des Branchenblatts Screen Daily bei einem Podiumsgespräch des dortigen Filmfests: „Ich verstehe diese Obsession mit amerikanischen Filmen nicht. Mein Freund Barbera hatte nicht den Koreeda-Film, keine koreanischen, ägyptischen oder libanesischen Filme im Wettbewerb.“ Seiner Meinung nach müsse ein Festival das Kino der ganzen Welt zeigen. „Dennoch hatten wir Spike Lees und John Cameron Mitchells Film“, führte Frémaux weiter aus.

Der diesjährige Wettbewerb von Cannes wurde als erfrischender Neuanfang von den Filmkritikern vor Ort gewertet. Gleichzeitig fehlte aber ein wenig der Hollywood-Glamour und die internationale Strahlkraft. Das hatte auch mit den Streitigkeiten mit dem Streaming-Riesen Netflix zu tun. Weil der in Cannes keine Wettbewerbs-Slots für seine Filme versprochen bekam, wanderte der spätere Gewinner des Goldenen Löwen, „Roma“ von Alfonso Cuaron, nach Venedig. Dazu gab es für Frémauxs Konkurrenten Alberto Barbera oben drauf den neuen Coen-Western „The Ballad of Buster Scruggs“, den Paul-Greengrass-Film „22 July“ und den jahrzehntelang nicht fertig gestellten Orson-Welles-Film „The Other Side of the Wind“. Neben „Roma“ feierten auch andere Oscar-Frontrunner wie „A Star Is Born“, „First Man“ und „The Favourite“ ihre Weltpremieren am Lido.
Frémaux hofft auf Scorseses Netflix-Film
„Venedig spielt sein Spiel und sie haben das Recht, Netflix-Filme zu zeigen, wenn sie Cannes nicht nimmt. Sie haben auch das Recht die Oscar-Karte zu spielen, weil die Presse mehr besessen von einer Nacht im März als von den sechs Monaten zwischen Juli und Oktober ist.“ Der Vorstand von Cannes, indem auch einige der wichtigsten französischen Kinobetreiber sitzen, hatte Frémaux in diesem Jahr untersagt, Netflix-Filme in den Wettbewerb einzuladen. Im Jahr 2017 hatte er sich noch über die Vorgaben hinweggesetzt und die Filme „Okja“ und „The Meyerowitz Stories“ in seiner wichtigsten Reihe präsentiert. Das hatte ihn fast seinen Job gekostet.

„Ich bin weder für noch gegen Netflix”, sagte der Cannes-Direktor. „Meine Aufgabe ist es, den aktuellen Stand des Kinos in einer Zeit zu zeigen, in der Martin Scorsese einen Film herausbringt, der von Netflix produziert wurde.“ Nach der Sperre des Vorstands in diesem Jahr scheint es aber Bewegung oder zumindest eine neue Diskussion zu geben. „Ich würde gerne jeden Film zeigen können, den ich mag. Ich konnte 2018 nicht jeden Film einladen. Wir werden sehen, wie das 2019 ist.“ Scorseses Netflix-Gangsterepos „The Irishman“ mit Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci und Harvey Keitel befindet sich gerade in der Postproduktion. Es ist der erste Film des amerikanischen Regisseurs seit „Silence“ aus dem Jahr 2016.

Frémaux äußerte sich auch zu der umstrittenen Entscheidung, Galapremieren und Pressevorführungen in Cannes parallel stattfinden zu lassen. „Ein französischer Film wurde bei seiner Premiere sehr gut angenommen, während die Reaktionen der Presse nicht sonderlich gut waren. Wir und die potenziellen Käufer waren glücklich über diese unterschiedlichen Meinungen, welche den Film bei der Gala-Premiere sahen und ihn trotz der lauwarmen Presse-Reaktionen einkauften.“

Link: - Was 2019 auf der Berlinale laufen könnte

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Montag, 15. Oktober 2018
Was 2019 alles auf der Berlinale laufen könnte

Harmony Korines „The Beach Bum“ | © Neon

Wer kommt zu Kosslicks Berlinale-Abschiedsgala? Terrence Malick, Harmony Korine und François Ozon klingen passend. In der deutschen Filmszene hat der Festivaldirektor sogar freie Auswahl.

Die 69. Berliner Filmfestspiele vom 7. bis 17. Februar 2019 werden eine besondere Berlinale. Es sind die vorerst letzten roten Teppiche für den Festivaldirektor Dieter Kosslick, dessen Autobiografie „Schön auf dem Teppich bleiben“ passenderweise auf den kommenden Januar verschoben wurde. Emsig wird an seinem letzten Programm gewerkelt, von dem noch nichts nach außen gedrungen ist. Sein Nachfolger Carlo Chatrian schaut Kosslick dabei über die Schulter und kann eventuell auch bereits Insidertipps weiterreichen. Namen, Produktionsschmieden und Kinostarts geben jedenfalls schon Hinweise, was eventuell laufen könnte.

Das potenzielle Schwergewicht ist der neue Terrence-Malick-Film „Radegund“ über den österreichischen Bauer Franz Jägerstätter, der aus Gewissensgründen seinen Wehrmachtsdienst im Zweiten Weltkrieg verweigerte. Erwartet wurde Malick bereits in Cannes und Venedig. Jetzt scheint das Werk des Heidegger-Übersetzers, der "Radegund“ unter Mitwirkung des Filmstudios Babelsberg auf Deutsch gedreht hat, aber fertig zu sein. Der Cast ist erlesen und würde bereits für das Blitzlichtgewitter des ersten Wochenendes ausreichen: August Diehl, der Belgier Matthias Schoenaerts, Bruno Ganz, Jürgen Prochnow, Franz Rogowski, Alexander Fehling und Shootingstar Max Mauff.
„The Beach Bum“ als Weltpremiere?
Beinahe für Venedig fertig war Harmony Korines neuer Film „The Beach Bum“. Festivaldirektor Alberto Barbera schwärmte in höchsten Tönen von Matthew McConaugheys Performance, die er oscarwürdig nannte. Mit einem Kinostart am 22. März ist Korine prädestiniert für den Doppelschlag Sundance im Januar und Berlinale im Februar. Wobei es von Kosslick natürlich ein Coup wäre, wenn er „The Beach Bum“ exklusiv im Wettbewerb als Weltpremiere zeigen könnte. Zumindest hat Korine eine große Affinität zu Werner Herzog. Aber wenn er eine Geschichte mit einem Filmfestival hat, dann ist das der Lido.

Zwei andere international bedeutende Namen sind aufgrund der Kinostarttermine nicht unwahrscheinlich: Jordan Peeles Film „Us“ mit Lupita Nyong’o startet am 14. März. Noch wahrscheinlicher ist François Ozons Werk „Alexandre“, der am 20. Februar in Frankreich in die Kinos kommt. Es soll um sexuellen Missbrauch und die Katholische Kirche gehen. Die Berlinale und Ozon pflegen eine fruchtbare Beziehung. Viele seiner Filme zeigte er schon am Potsdamer Platz.

Eine große Überraschung wäre es, wenn Tim Burtons Disney-Realverfilmung von „Dumbo“ nach Berlin käme. Der weltweite Kinostart am 4. April würde das anbieten. Nur haben die immens erfolgreichen Realfilme von Disney einen solchen Slot nicht nötig. Es wäre eine Geste Burtons für Kosslick. Zwei weitere internationale Wild Cards wären Pablo Larrains „Ema“ und Julie Delpys „My Zoe“ mit Gemma Arterton und Daniel Brühl.
Von Schipper bis Lamberto Bava
Was deutsche Produktionen angeht, wird Kosslick aus dem Vollen schöpfen können: Angefangen bei Sebastian Schippers „Roads“ bis Jan Ole Gersters neuer Zusammenarbeit mit Tom Schilling („Lara“). Bekommt Fatih Akin die Heinz-Strunk-Verfilmung „Der goldene Handschuh“ bis Februar fertig oder spekuliert er auf Cannes? Ein sehr heißer Kandidat ist indes Burhan Qurbanis Version von „Berlin Alexanderplatz“ mit Albrecht Schuch und Jella Haase, die am 11. April in den deutschen Kinos startet.

Weitere deutsche Namen, die aber auch auf anderen Festivals wie Locarno aufschlagen könnten, wären: Angela Schanelec („Ich war zuhause, aber ...“), Nikias Chryssos („A Pure Place“), Anne Zohra Berrached („Geliebt“), Marco Kreutzpaintner („Der Fall Collini“) und Christian Schwochow („Deutschstunde“). Zwei weitere internationale Joker wären Jessica Hausners neuer Film „Little Joe“ und Jayro Bustamantes „Temblores“. Negative Space wünscht sich auf jeden Fall den neuen Lamberto-Bava-Horror „Twins“ mit Lars Eidinger und Gerard Depardieu.

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Donnerstag, 11. Oktober 2018
Eckhart-Schmidt-Hommage in Frankfurt am Main

„Das Wunder“ mit Dagmar Lassander, Raimund Harmstorf & Sibylle Rauch

Zu seinem Geburtstag bekommt der deutsche Genre-Regisseur Eckhart Schmidt eine Hommage spendiert, die acht seiner Filme nach Frankfurt am Main bringt.

Der deutsche Genrespezialist und Kultfilmer Eckhart Schmidt wird am 31. Oktober schon 80 Jahre alt. Das wäre eine gute Gelegenheit, Olaf Möllers und Hans Schifferles Schmidt-Buch „Ritual und Romantik“ hervorzuholen. Zu seinen Ehren zeigt das Filmkollektiv Frankfurt aber auch zusammen mit dem deutschen Filminstitut einige Wochen nach seinem Geburtstag acht seiner Werke. Darunter befinden sich Klassiker sowie auch seltene Perlen. Das Programm ist mit zusätzlichen Vorfilmen garniert.

Am 24. November laufen im Studierendenhaus in Frankfurt am Main „Atlantis“ (14 Uhr), „Das Gold der Liebe“ (16 Uhr), „Der Fan“ (20.15 Uhr) und „Loft“ (22.30 Uhr). Am 25. November zeigt das Filmkollektiv „Das Wunder“ von 1985 mit Dagmar Lassander, Raimund Harmstorf und Sibylle Rauch um 12.30 Uhr. Der Film hat eine wunderbar italienisch-sleazige Atmosphäre. Darauf folgt um 15 Uhr „E.T.A Hoffmanns Der Sandmann“ und um 17.30 Uhr „24/7 Sunset Boulevard“. Zum Abschluss gibt es im Deutschen Filmmuseum um 20.15 Uhr Schmidts neuen Film „Mein schönster Sommer“ aus seiner italienischen Trilogie.

Im Jahr 1968 startete Eckhart Schmidt zu Zeiten der Report- und Lederhosenfilme mit Werken wie „Atlantis“, „Erotik auf der Schulbank“ und „Männer sind zum Lieben da“ durch. Er gehörte als Filmkritiker in den 1960er-Jahren zur Gegenbewegung des Neuen Deutschen Films, die wieder echte Genrefilme machen wollte. Einer seiner größten Zuschauererfolge und ein Kultfilm war der meisterhafte Slasher „Der Fan“ mit Désirée Nosbusch. Als Regisseur erfand er sich in jedem Jahrzehnt neu. Sehr empfehlenswert ist zum Beispiel auch sein Direct-to-DVD-Serienkillerfilm „Hollywood Fling“ aus dem Jahr 2011.

Links: - Italienische Trilogie, - Hollywood Fling

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Dienstag, 9. Oktober 2018
Oscars: 87 Werke konkurrieren in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film"

Trolle bei den Oscars: Ali Abbasis "Border" | © Neon

Mittlerweile ist die Vorschlagsliste der einzelnen Länder zum besten fremdsprachigen Film bei den Oscars ebenbürtig mit der eigentlichen amerikanischen Top-Ten-Liste. Der Film "Roma" ist Frontrunner. Daumen gedrückt werden für Schweden, Südkorea und Israel.

Insgesamt wurden für die Oscar-Kategorie "bester fremdsprachiger Film" 87 Werke eingereicht. Großer Favorit auf eine der fünf begehrten Nominierungen ist der eigentlich außer Konkurrenz mitspielende Film "Roma" für Mexiko. Alfonso Cuarón dürfte mit seinem Gewinner des Goldenen Löwen von Venedig sicher gesetzt sein. Da lautet eher die Frage, wie viele Nominierungen darüber hinaus "Roma" bekommen kann.

Zu den weitere Favoriten zählt "Cold War" von Paweł Pawlikowski, der Polen im Oscarrennen vertreten wird. Das Werk wurde im Mai auf dem Festival von Cannes für den besten Regisseur ausgezeichnet. "Shoplifters" von Hirokazu Kore-eda konnte die Goldene Palme gewinnen und ist in seiner Heimat Japan ein riesiger Publikumserfolg geworden.
Daumendrücken für "Burning" und "Border"
Negative Space drückt die Daumen für die wahnsinnig tolle Haruki-Murakami-Verfilmung "Burning" aus Südkorea, das schwedische Genre-Wunder "Border" und den israelischen Beitrag "The Cakemaker". Letzterer Film ist eine halbe deutsche Produktion, weil das Werk von Ofir Raul Graizer seine Liebesgeschichte in Berlin beginnen lässt und der Hauptdarsteller Tim Kalkhof heißt.

Ein Geheimfavorit könnte Ruth Beckermanns Dokumenation "Waldheims Walzer" sein, die sich mit der braunen Vergangenheit und Gegenwart Österreichs auseinandersetzt. Das Werk feierte im Februar auf der Berlinale seine Weltpremiere. "Girl" aus Belgien über einen Transgender-Menschen könnte auch ein Dark Horse sein.

Außenseiter-Chancen haben ebenso Kambodscha ("Graves without a Name") und Kolumbien ("Birds of Passage"). Auch in der Verlosung sind aus Ungarn "Sunset", aus der Türkei "The Wild Pear Tree" und aus Rumänien "I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians". Deutschland wird von Florian Henckel von Donnersmarcks Film "Werk ohne Autor" vertreten. Hier ist die Liste mit allen eingereichten Filmen zu finden. Die Oscars 2019 finden am 24. Februar statt.

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Nemes, Hansen-Løve und "Glaubensberg" auf den Hofer Filmtagen

Wieder ein One-Shot? László Nemes' "Sunset" | © Playtime

Der langjährige Leiter der Hofer Filmtage, Heinz Badewitz, ist 2016 überraschend verstorben. Aber das Festival für den deutschen Filmnachwuchs glänzt unter der neuen Leitung von Thorsten Schaumann auch mit internationalen Produktionen.

Vom 23. bis 28. Oktober finden die 52. Hofer Filmtage statt. Jetzt ist das internationale Programm mit 20 Filmen aus 15 Ländern bekannt gegeben worden. Zu den Highlights gehört László Nemes' Film "Sunset", der in Venedig seine Weltpremiere feierte. Das neue Werk des Regisseurs, der vor einigen Jahren mit "Son of Saul" für Furore sorgte, spielt im Budapest des Jahres 1913. Mit Spannung wird auch Thomas Imbachs Werk "Glaubensberg" über ein Geschwisterpaar erwartet, das in Locarno gefeiert wurde.

Zu empfehlen ist auf jeden Fall auch Mikhaël Hers' Film "Amanda", der den Blog Negative Space schon in der Orrizonte-Reihe von Venedig begeisterte. Spannend werden sicherlich ebenso die neuen Arbeiten von Mia Hansen-Løve ("Maya") und Marielle Heller ("Can You Ever Forgive Me") sein. Das vollständige Programm gibt es hier.

Die Retrospektive ist dieses Jahr dem französischen Altmeister Barbet Schroeder gewidmet. Eröffnet werden die Filmtage mit "Glück ist was für Weicheier" von Anca Miruna Lăzărescu. In der deutschen Reihe starten bekannte Regienamen wie der "4 Blocks"-Star Kida Kodr Ramadan ("Kanun"), Veit Helmer ("Vom Lokführer, der die Liebe suchte") und die Schauspielerin Katharina Wackernagel ("Wenn Fliegen träumen"). Hier gibt es alle deutschen Beiträge.

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Sonntag, 7. Oktober 2018
Das Filmfest Hamburg 2018 – Von feurigen Schwestern und überforderten Männern
© Universal Pictures International | Twentieth Century Fox of Germany | Indie Sales
Das Filmfest Hamburg hat mit Werken wie „First Man“, „Roma“ und „The Favourite“ wieder frischeste Oscar-Ware geboten. Als Gesellschaftsspiegel offenbarte die Filmauswahl aber auch den sich verschiebenden Geschlechter-Fokus. Ein Rückblick von Michael Müller.

Das Jahrtausende währende Zeitalter des Mannes geht langsam, aber stetig zuende. Diesen Eindruck kann man auch gewinnen, wenn man auf dem diesjährigen Filmfest in Hamburg vom 27. September bis 6. Oktober unterwegs war. Die gesellschaftliche Wachablösung durch die Frau wird hier in all ihren Facetten dokumentiert, bestaunt, zelebriert und manchmal sogar ein wenig betrauert. Auch wenn lange noch nicht Regie-Quoten von 50 Prozent erreicht sind, erzählen erfreulicherweise viele der von der Hansestadt eingeladenen Filme von dem, was Frauen bewegt. Männer sind im Programm meist Stichwortgeber, Statisten, Lustobjekte, antiquiert oder von ihren Aufgaben als neuer Typus Mann überfordert. Oder sie kommen in den Filmen gleich gar nicht mehr vor. Manchmal wird der machohafte Mann als Relikt einer vergangenen Zeit noch ausgestellt, wobei dieser Blick zumindest in einer Dokumentation eine wehmütige Seite hat.

Der alternde Sigmund Freud (Bruno Ganz) sagt über die Frauen in dem etwas reißbrettartigen, aber durchaus unterhaltsamen Film „Der Trafikant“, sie seien wie Zigarren: „Wenn man zu stark an ihnen zieht, entziehen sie sich dem Genuss.“ Der Film spielt in Wien zur Zeit des Anschlusses von Österreich durch Nazi-Deutschland. Der Trafikant Otto Trsnjek (Johannes Kirsch) verkauft in einem kleinen Eckladen hauptsächlich Zigarren und Tageszeitungen des gesamten politischen Spektrums. Für besondere Kunden greift er aber auch unter die Ladentheke, um „zärtliche Magazine“ in neutraler Verpackung anzubieten. Der Besitzer versteht sein Geschäft als Tempel des Genusses, der Lust und des Lasters, in dem Diskretion das oberste Gebot ist. Er sagt: „Wenn eine Zigarre schlecht ist, schmeckt sie nach Pferdemist. Wenn sie sehr gut ist, schmeckt sie wie die ganze Welt.“

Tatsächlich ist das Interessanteste am „Trafikanten“ weder der historische Hintergrund noch die Ladengepflogenheiten oder der pubertierende Dorfjunge Franz (Simon Morzé), der im Geschäft zu arbeiten beginnt und dabei den berühmten Psychologen Freud trifft – und sich in Liebesdingen beraten lässt. Es ist die böhmische Figur der Anezka (Emma Drogunova). Bekannt ist dieses Klischee einer Frau aus deutschen Filmklassikern wie „Ich denke oft an Piroschka“: ein ständig sexuell verfügbares Mädchen, das keinerlei Gegenleistung erwartet. Anezka mag zwar mit böhmischen Dialekt sprechen und den Dorfjungen „Burschi“ nennen. Aber diese Frau, die in eine tristen Hinterhofwohnung mit ihrer vielköpfigen Familie überlebt, nimmt sich genau das, was sie will. Sie weiß, wie das Schweinesystem funktioniert und was sie einbringen und opfern muss, um nicht in der Gosse zu landen oder zu verhungern.

Anezka (Emma Drogunova) weiß, was sie will | © Tobis Film GmbH
Abends tanzt sie im Nachtklub „Schwarzer Kater“ für die Winnetou-Leseratten als halbnackte Indianerin einen Fächertanz. Zwischendrin vernascht sie Franz mit dem schönen „Popperl“, der sein Monatsgehalt für sie im Biergarten und auf dem Rummel raushaut. Während der Junge ihr wie ein Hündchen hinterherläuft und sich dabei eher mittelgute Beziehungsratschläge bei Professor Freud abholt, arbeitet Anezka bereits wieder an einer besseren Zukunft für sich und ihre Familie. Etwas schade ist, dass ihrer Figur letztlich noch eine unsympathisch opportunistische Volte angeheftet wird. Aber ihr unbändiges Spiel trägt auf jeden Fall den Film, der immer etwas besser inszeniert und mit Original-Sets ausgestattet ist, als man sich das bei solch einer Produktion erwartet.
Gekonnter Griff in die Erdnussschale
Der argentinische Popstar Martina (Antonella Costa) besitzt eine etwas ins Stocken geratene Karriere. Hinzukommen seit längerem Probleme, sexuell erregt zu werden. In dem Film „Dry Martina“ reist deshalb die Titelheldin wegen fehlender Feuchtigkeit nach Chile. Dort macht sie sich auf die Suche nach dem wuschelhaarigen, braunäugigen One Night Stand, der in ihr längst vergessen geglaubte Gefühle wieder geweckt hat. Darum herum zimmert das Werk einen unmotivierten und umständlich erzählten Plot um neue Familienverbindungen zwischen Argentinien und Chile.

Ein weiblicher Fan von Martina (Dindi Jane) behauptet, ihre Schwester zu sein. Aber auch dieser Erzählfaden löst sich in Wohlgefallen auf. Eigentlich geht es in dieser lateinamerikanischen Mainstreamkomödie um die Lust der Frau. Es geht um ihren gelangweilten zielsicheren Handgriff in die Erdnussschale, wenn der Sex zu monoton abläuft. Und es geht um schwarze Fuck Buddys, die natürlich Hip Hop hören und Drogen verticken. „Dry Martina“ zeigt, dass eine spannende Thematik und zwei tolle Hauptdarstellerinnen nicht automatisch einen guten Film ausmachen.

Wie ein Dachs (Olivia Colman) | © Twentieth Century Fox of Germany
Die größte und spaßigste Frauenschau auf dem Festival, das im kommenden Jahr laut des Senators für Kultur und Medien, Carsten Brosda, eine „substantielle Erhöhung des Budgets“ erhalten soll, war Yorgos Lanthimos’ Werk „The Favourite“. Am Hofe der englischen Königin Anne (Pflicht-Oscarnominierung für Olivia Colman) des frühen 18. Jahrhunderts gibt es einen Wettstreit um die Gunst der Herrscherin. Lady Sarah (Rachel Weisz) ist der eigentliche Liebling der Königin. Die Position macht ihr aber in einen herrlich genussvoll inszenierten Intrigenspiel die Hofdame Abigail (Emma Stone) streitig. Etwas schade ist, dass das der erste Lanthimos-Film ist – das Drehbuch schrieben Deborah Davies und Tony McNamara –, der auf die surreal überspitzt weitergedachten Szenarien und wilden Ideen eines typischen Lanthimos verzichtet.

Dafür macht es viel Spaß, den drei Frauen beim sexuellen Machtspiel zuzuschauen. Männer wie der Oppositionsführer Harley (Nicholas Hoult) sind nur noch Bauern in einem Schachspiel, die es so elegant wie möglich zum eigenen Vorteil zu bewegen gilt. Oder sie dienen als Möglichkeit, den politischen Stand und die strategische Position mit einer Heirat zu verbessern. Dabei geht Lanthimos mit Kubrick'schen Fischaugen und Swift'scher Spitzfindigkeit der Frage nach, welches die wahre Liebe ist: Die Person, die einem immer nur das sagt, was man hören will oder der Mensch, der einen auch darauf hinweist, wenn man sich wie ein Dachs geschminkt hat.
Männer, Frauen & Kettensägen
Auch in dem Hollywood-Horrorfilm „Halloween“ geht es weniger um den Serienkiller Michael Myers, den Rob Zombie in seiner Version vor einigen Jahren küchenpsychologisch mit einer schwierigen Kindheit erklären wollte. David Gordon Green („Prince Avalanche“, „Pineapple Express“) legt den Fokus auf die Biografie von Laurie Strode (Jamie Lee Curtis). Die inzwischen ergraute Großmutter lebt immer noch in Angst vor Myers' Rückkehr in einem hochgerüsteten Sicherheitshaus. Ihre Tochter trainierte sie schon in jüngsten Jahren zur Selbstverteidigung. Das brachte ihr zwei Scheidungen und eine zerrüttete Beziehung mit dem Kind ein. Aber wie wir schon seit Carol J. Clovers Filmbuch-Klassiker „Men, Women & Chain Saws“ wissen, handelt es sich beim Boogeyman eigentlich um eine Verkörperung der weiblichen Defloration-Angst. Man wünscht Curtis einfach die Wiederbegnung mit ihrem Schatten, zumal John Carpenter aufregende neue Score-Elemente in den klassischen Synthesizer-Soundtrack eingebaut hat.

In zwei voneinander getrennten Filmen erzählt das sehenswerte kanadisch-israelische Dokumentationsprojekt „In the Desert“ vom Leben arabischer und jüdischer Bauern am selben Berg im Westjordanland. Das rückständige Rollenverständnis von Frau und Mann in der arabischen Familie steht im starken Kontrast zu sonstigen Schilderungen auf dem Filmfestival. Hier putzen, kochen, pflanzen, backen und ackern noch die Erst- und Zweitfrau des Patriarchen, bis sie vor Erschöpfung umfallen. Während sich das Familienoberhaupt im Zelt Tee und Baklava reichen lässt und zur Arbeit nach Israel reist.

Im Alltag dieser Araber spielt der Staat Israel oder Premierminister Benjamin Netanjahu eine extrem untergeordnete Rolle, obwohl die Ernte in einem Gebiet angebaut wird, wo israelische Militärübungen stattfinden. Es geht in der Familie vor allem um Konfliktthemen wie die Entscheidung, in diese Einöde gezogen zu sein, besseres Wohnen, Fernsehempfang, den Neid zwischen den unterschiedlichen Familienzweigen und die richtige Methode, ein Schaf zu melken und Käse in einem Tiermagen herzustellen. Das ist angenehm wertfrei von den Kameras eingefangen und manchmal so nah an seinen Protagonisten dran, dass es wehtut und peinlich berührt.

„Schönstes Paar“: Luise Heyer & Maximilian Brückner | © One Two Films
Die neu ins Leben gerufene deutsche Reihe Große Freiheit sorgte zum Start auf dem Filmfest für keine Schlagzeilen. Dafür war die Auswahl mit nur sechs Filmen zu bescheiden; es gab keine Weltpremiere im Aufgebot; stattdessen zum Beispiel Filme aus dem Januar in Rotterdam wie „Ella & Nell“. In diesem Roadtrip sind Männer ganz abwesend. Zwei ehemalige Schulfreundinnen machen einen gemeinsamen Waldausflug. Die Bilder sind lyrisch, die Dialoge improvisiert. Wer noch nicht Kelly Reichardts „Old Joy“ gesehen hat, wird das auch originell finden. Nur, dass hier die Themen deutschlandtypisch um Esoterik und Kücheneinrichtungen kreisen.
Rape & Revenge in Berlin Mitte
Gewinner der neuen Sektion war Sven Taddickens Film „Das schönste Paar“, der seine Weltpremiere in Toronto gefeiert hatte. Es ist ein ziemlich involvierendes Rape & Revenge Movie mit einem Berlin-Mitte-Lehrerpärchen, bei dem das eigentliche Rachemotiv scheinbar wegtherapiert wurde. Aber die Decke der menschlichen Sozialisation ist eben nicht sonderlich dick. Während die vergewaltigte Liv (Luise Heyer) nach der Therapie eine Art Frieden mit der Situation geschlossen hat, zeigt Taddicken ihren Freund Malte (Maximilian Brückner), der an den heutigen Normen der Versöhnung und des Ausgleichs zu zerbrechen droht, als der Peiniger wieder auftaucht. „Du hättest Eier zeigen können, wenn du es einfach vergessen hättest“, lautet Livs Vorwurf an den nach Rache dürstenden Malte.

Die extrem sehenswerte Dokumentation „M“ ist nach seinem Protagonisten Menachem Lang benannt. Der wurde in seiner ultra-orthodoxen Gemeinde in Bnei Brak bei Tel Aviv als Kind und Jugendlicher von verschiedenen Rabbinern sexuell missbraucht. Frauen sind in dieser Reise in die düstere Vergangenheit weitgehend als Protagonisten abwesend. Es gibt die französische Regisseurin des Films, Yolande Zauberman, die sich immer mal wieder lakonisch in den Off-Kommentar einschaltet. Aber eigentlich ist das eine Männerangelegenheit, bei der Menachem in die Nachbarschaft und auf den Friedhof zurückkehrt, wo er vergewaltigt wurde. Es dauert nicht lange bis sich in der Nacht dort weitere Opfer und Täter einfinden. In den bewusst unscharfen Bildern spiegeln sich die puren Emotionen und eine Dringlichkeit, diese Geschichte erzählen zu müssen. Der Titel ist auch als Reminiszenz an den Weimarer Tonfilm-Klassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ gedacht, wo es ebenso um einen Kinderschänder geht.

Der französische Film „Little Tickles“ beschäftigt sich auch mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs. Die eigentlich unerträglichen Übergriffe gegenüber der achtjährigen Odette durch einen Freund der Eltern werden erzählerisch aufgebrochen: Denn die Geschichte schildert die erwachsene Odette ihrer Therapeutin, die zusammen die Erinnerungen kommentieren, auseinandernehmen und stoppen, wenn es gar nicht mehr auszuhalten ist. Das kreative und mutige Konzept trägt „Little Tickles“, der aber in seiner subjektiven Schuldzuweisung gegenüber Odettes Mutter jegliche Differenziertheit vermissen lässt.

„Roma“: Auf den Spuren von Fellini | © Netflix
In Alfonso Cuaróns schwarzweißem Oscarkandidaten „Roma“, den das Filmfest dank Netflix auf der großen Leinwand zeigen durfte, sind die Männer im Mexiko der 1970er-Jahre die Nebenfiguren: Das indigene Hausmädchen wird von ihrem Lover noch in der Kinovorstellung des französischen Komödienklassikers „Drei Bruchpiloten in Paris“ verlassen, als er davon hört, dass sie schwanger ist. Das Familenoberhaupt der gut situierten Familie wiederum, um deren Alltag sich das Dienstmädchen kümmert, zelebriert seine tägliche Ankunft mit dem Auto wie ein König. Dabei läuft er letzlich über Hundescheiße und stößt in der zu engen Garage mit dem Außenspiegel an. Die eigene Wahrnehmung und die Realität passen schon in der damaligen Filmrealität nicht so recht zusammen.

Das Filmfest Hamburg bot viele weibliche Coming-of-Age-Geschichten. Die besten zwei immer wieder gespielten Songs hatte wohl der unebene kanadische Salinger-Epigone „Genesis“. Die beste Songszene bot der chilenische Film „Too Late to Die Young“: Die Protagonistin singt leidenschaftlich mit ihrer Ziehharmonika auf der Bühne der im Wald zurückgezogen lebenden Kommune den Song „Eternal Flame“. Darüber geblendet sind Bilder von ihrer Motorradfahrt mit dem älteren Lover, der ihre Liebe nicht so erwidert, wie sie sich das vorgestellt hat. Die spanisch- und portugiesischsprachige Sektion Vitrina gehörte wegen ihres Mutes zum Experimentieren zu den attraktivsten Reihen in Hamburg. Sektionsleiter Roger Alan Kozer war bei einer seiner Einleitungen euphorisiert, dass er sogar Cuarón an die Elbe lotsen konnte. Er trauerte nur etwas der verpassten Chance nach, nicht den neuen Film von Carlos Reygadas („Our Time“) bekommen zu haben, obwohl er persönlich mit dem Mexikaner befreundet ist.
Körper werden zu Landschaften
In dem expliziten und wilden chilenischen Roadtrip „Die feurigen Schwestern“, der eines der am meisten nachwirkenden Werke des Filmfests war, haben Frauen sich eine ideale Welt ohne Männer geschaffen. Das andere Geschlecht kommt nur noch als Aggressor vor, aus dessen gewalttätigen Fängen die Frauen befreit werden müssen. Akzeptiert sind in diesem Liebesreigen Transgender-Menschen. Dildos in jeglicher Ausprägung erinnern an das männliche Geschlecht, das in dieser Utopie nicht mehr gebraucht wird. Die nackten Körper der Frauen werden hier zu epischen Landschaften, die ihren leidenschaftlichen Befreiungskampf widerspiegeln. In einem halb legalen Trailer wurde diese Reise der Lust mit dem Deborah-Thema der Claudia Cardinale aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ angekündigt. Es sind Outlaws der Liebe, die gegen gesellschaftliche Traditionen mit Körpereinsatz in einer Kirche, in Hotelzimmern und in einer Finca rebellieren, wo scheinbar alle chilenischen It-Girls der LGBT-Community zusammengekommen sind – und sich an alternativen Lebensweisen ausprobieren.

„Dogman“ Marcello Fonte | © Alamode Filmdistribution
Männer waren in den Kinos des Hamburger Filmfests vor allem überfordert: Besonders der alleinerziehende oder geschiedene Patchwork-Daddy stand im Fokus. In Erinnerung bleiben werden der koreanische Dichter, der in Hong Sangsoos Film „Hotel by the River“ auf Einladung des Besitzers kostenlos im Hotel Heimat eingecheckt hat. In schwarzweißen Schneebildern und mit dem üblichen feuchten Umtrunk in Gesellschaft seiner beiden erwachsenen Söhne erzählt der Film von der Kluft zwischen Mann und Frau – und wie der Graben in einer Ehe gleich noch viel größer wird. Der Vater, der getrennt von seiner Frau lebt, weiß seinen Kindern auch nicht mehr mitzugeben, als zwei hastig zusammen gesuchte Stofftiere, die so gar keine Ähnlichkeit mit ihren menschlichen Äquivalenten haben.
Dunkle Seite des Herzens
Besser ist die Beziehung in Garrones Film „Dogman“ zwischen dem Hundesitter Marcello (Darstellerpreis in Cannes: Marcello Fonte) und seiner kleinen Tochter, die sich nichts sehnlicher wünscht, als einmal nicht in Italien Urlaub zu machen. Angesichts der Tatsache, dass den Hundemann das Schicksal weder mit Aussehen noch Verstand reich gesegnet hat, ist die Fürsorge und Liebe aber vorbildlich, die er seinem Kind angedeihen lässt. Aber der geschiedene Marcello hat auch eine dunklere Seite in seinem Herzen, die nach einem aufregenderen und besseren Leben giert, was ihm in der Beziehung mit einem ultrabrutalen Gangster zum Verhängnis wird.

Den wahrscheinlich doch beste, weil mitreißendste Film über einen alleinerziehenden Vater haben die Israelis gedreht: „Geula“ feierte seine Weltpremiere in Karlovy Vary und gewann den Publikumspreis in Jerusalem. Der Film erzählt von Menachem (Moshe Folkenflik), dessen Tochter zum Überleben eine experimentelle und teure Chemotherapie braucht. Der ultra-orthodoxe Jude war früher Sänger in einer Rockband. Um an das Geld für die Behandlung zu kommen, trommelt er die alte Gang wieder zusammen, um auf Hochzeiten abzuliefern. Ganz simpel, aber einfühlsam und zärtlich schildern die Filmemacher Joseph Madmony und Boaz Yehonatan Yakov den moralischen Konflikt, wie ein strengreligiöser Witwer wieder zurück ins Leben drängt – sei es auf der kleinen Bühne oder auf dem Beziehungsmarkt.

„Nice Girls Don't Stay for Breakfast“ | © Little Bear Inc.
Der vielleicht prächtigste Hamburger Filmtempel, das Passage-Kino, war am Tag der Deutschen Einheit ein würdiger Ort für die Festivalpremiere der Dokumentation „Nice Girls Don’t Stay for Breakfast“. Das Interview-Dokument über den Hollywoodschauspieler Robert Mitchum zeigt ihn als Relikt einer vergangenen Zeit. Der berühmte Modefotograf Bruce Weber hatte ihn bereits in den 1990er-Jahren mit der Unterstützung von Supermodels interviewt. Dann verstarb aber Mitchum und Weber verließ die Lust, das Material zu veröffentlichen. Es ist ein beeindruckendes, locker-leichtes und sehr unterhaltsames Zeitdokument, das er mit selbst eingesungenen Songs des Hollywood-Beau garniert hat.

Mitchum wurde berühmt und von Cineasten vergöttert, weil er scheinbar mühelos der Schauspieler mit nur einem Gesichtsausdruck war, der aber in jeder Situation passte. Tatsächlich war seine unterkühlte und minimalistische Art zu spielen dann das Vorbild für die nächsten Generationen von Schauspielern, von denen Regisseur Weber auch einige vor die Kamera bekommen hat: Clint Eastwood schweigt, Johnny Depp öffnet sich, Benicio del Toro schwärmt und Danny Trejo stellt heraus, wie sich Mitchum für die Haftbedingungen in amerikanischen Gefängnissen eingesetzt hat. Noch schönere Geschichten erzählen Frauen wie Polly Bergen („Ein Köder für die Bestie“) vor der Kamera, die eine ganz andere, geheime Seite Mitchums offenbaren.
Jungssachen machen
Diese Erlebnisse stehen im Kontrast zu der machohaften Persona, die Mitchum auch vor Webers Kamera aufrecht erhält und mit sexistischen Sprüchen unterstreicht, die heute Karrieren beenden würden. Man kann sich aber auch durch die zahlreichen wunderschönen Szenen aus Mitchums Filmen des Eindrucks nicht erwehren, dass „Nice Girls Don’t Stay for Breakfast“ nicht nur eine Hommage sein sollte, sondern auch einen wehmütigen Abgesang auf einen antiquierten Typus Mann anstimmt, der aus der Welt verschwindet.

Der Weltraumpilot Neil Armstrong (Ryan Gosling) in Damien Chazelles neuem Film „First Man“ ist auch ein aus der Zeit gefallener Typus Mann: Er ist ein großer Schweiger und Profi, der Taten sprechen lässt. Hollywoodlegenden wie Raoul Walsh und Howark Hawks hätte dieser Protagonist gefallen. Er ist ein Mann, der nicht über den Tod seiner kleinen Tochter sprechen kann. Das vermeintlich letzte Gespräch mit seinen Söhnen will er am liebsten als unpersönliche Pressekonferenz gestalten, bevor er zum Mond aufbricht. Einmal bezeichnet seine Ehefrau Janet (Claire Foy) das Raketenprogramm der NASA aus Angst, ihren Mann zu verlieren, als gigantisches Kinderspiel von nicht erwachsen werden wollenden Jungen. Aber was für ein rauschhaftes, bombastisches und cineastisches Kinderspiel hat Chazelle daraus inszeniert. Das ist Kino. Das ist ein Kinderspiel, bei dem die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur die sowjetische Gegenseite im Blick hatten. Die Mondlandung sowie der Film „First Man“ sind Stoffe, aus denen die Träume der zukünftigen Generation gewoben werden.

Links: - Negative-Space-Preise 2018, - Filmfest-Podcast 2017

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