Montag, 9. September 2019
Venedig-Podcast mit Jenny Jecke

© La Biennale di Venezia 2019
Altes klingonisches Sprichwort: Kein Filmfestival ist wirklich zuende, bis man nicht eine Wollmilchcast-Bonusfolge dazu aufgenommen hat. Venedig 2019 im Rückblick.

Negative Space war zum Abschluss des atemberaubend schönen Filmfestivals von Venedig beim sehr geschätzten Wollmilchcast zu Gast. Mit Jenny Jecke sprach ich vor der Preisverleihung am Samstagnachmittag über Festivalchef Alberto Barbera, Netflix, Aperol Spritz sowie die Film-Highlights "The Painted Bird", "Martin Eden", "An Officer and a Spy", "No. 7 Cherry Lane", "Ad Astra" - und nur ein ganz klein bisschen und spoilerfrei über den "Joker". Ihr könnt euch den 85-minütigen Podcast auf der unten verlinkten Seite von The Gaffer anhören und/oder runterladen.

Link: - Hier Podcast anhören

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Samstag, 7. September 2019
Goldener Löwe für Phillips' „Joker“

© La Biennale di Venezia - Foto ASAC

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Der ultimative Kritikerspiegel von Venedig

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Freitag, 6. September 2019
Negative-Space-Preise Venedig 2019
Der Werner-Hochbaum-Preis für den besten Film geht an:
  • „The Painted Bird“ (Václav Marhoul)

© La Biennale di Venezia 2019
Der Ulrike-Ottinger-Preis für das Gesamtkunstwerk geht an:
  • „About Endlessness“ (Roy Andersson)

© La Biennale di Venezia 2019
Der Richard-Fleischer-Preis für neue Perspektiven auf das Weltkino geht an:
  • Yonfan („No. 7 Cherry Lane“)

© La Biennale di Venezia 2019
Der Eberhard-Schroeder-Preis für die beste Regie geht an:
  • Roman Polanski („An Officer and a Spy“)

© La Biennale di Venezia 2019
Der Amy-Nicholson-Preis für Kickass Cinema geht an:
  • „Joker“ (Todd Phillips)

© Nico Tavernise
Der Ludivine-Sagnier-Preis für die beste Darstellerin geht ex aequo an:
  • Marta Nieto („Madre“)
    & Laura Dern („Marriage Story“)

© La Biennale di Venezia 2019

© La Biennale di Venezia 2019
Der Rod-Taylor-Preis für den besten Darsteller geht ex aequo an:
  • Joaquin Phoenix („Joker“)
    & Petr Kotlár („The Painted Bird“)

© Nico Tavernise

© La Biennale de Venezia – Foto ASAC
Der Brigitte-Lahaie-Preis für Sinnlichkeit geht an:
  • „Mondo sexy“ (Mario Sesti)

© La Biennale de Venezia 2019
Zehn Mostra-Lieblingsfilme 2019 (alphabetisch):

ABOUT ENDLESSNESS (Roy Andersson)
BEWARE OF CHILDREN (Dag Johan Haugerud)
GLORIA MUNDI (Robert Guédiguian)
JOKER (Todd Phillips)
MADRE (Rodrigo Sorogoyen)
MARRIAGE STORY (Noah Baumbach)
AN OFFICER AND A SPY (Roman Polanski)
ONLY THE ANIMALS (Dominik Moll)
NO. 7 CHERRY LANE (Yonfan)
THE PAINTED BIRD (Václav Marhoul)

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Dienstag, 3. September 2019
Einen Goldenen Löwen für den „bemalten Vogel“

Kommt nie an: Petr Kotlar | © Václav Marhoul – Silver Screen
Klug programmiert: Nachdem der Hollywoodzirkus um die Oscars weiter nach Toronto zieht, präsentiert Venedig-Chef Alberto Barbera der Presse den schwarzweißen Fast-Dreistünder „The Painted Bird“. Er ist einer der besten Filme der Konkurrenz – und harter Tobak.

„The Painted Bird“ von Václav Marhoul ist wie Homers Odyssee, hätte sie Hieronymus Bosch auf die Leinwand gemalt. In so klaren wie verstörenden Schwarzweißbildern erzählt die tschechische Produktion Horrorvisionen um einen jüdischen Jungen während des Zweiten Weltkrieges in einem unbestimmten osteuropäischen Land, der zu überleben versucht. Seine Eltern verstecken ihn vor ihrer Deportation bei einer alten Bäuerin auf dem Land; die verstirbt aber plötzlich. Fortan taumelt der Namenlose von Dorf zu Dorf und erfährt die Gräueltaten des Krieges im Hinterland.

Zu einem der fortgeschrittendsten, aber nie gedrehten Filmprojekten Stanle Kubricks gehörte Louis Begleys Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“. Die Geschichte und Motive ähneln der literarische Vorlage um „The Painted Bird“. Aber nach Steven Spielbergs Herangehensweise an den Holocaust mit „Schindlers Liste“ in den 1990er-Jahren ließ nicht nur Kubrick sein Projekt fallen – auch ein Regisseur wie Billy Wilder gab seine Ideen auf. „Ich dachte, beim Holocaust sei es um die Ermordung von sechs Millionen Juden gegangen – und nicht um die Rettung ein paar hundert“, merkte Kubrick spitzfindig an. Die Zeit scheint reif zu sein für einen so schwer zu ertragenden Film wie „The Painted Bird“, auch wenn der Holocaust nicht im Zentrum der Erzählung steht – er im Hinterkopf aber stets präsent bleibt.

Die literarische Vorlage von „The Painted Bird“ ist berüchtigt: In den 1960er-Jahren wurde sie als eines der authentischsten Zeugnisse zum Thema Holocaust und Umgang mit Juden im Zweiten Weltkrieg gefeiert. In den 1980er-Jahren kam heraus, dass der Autor sich diverse der Geschichten bei polnischen Autoren zusammengeklaut hatte. Die filmische Erzählung um den Jungen in „The Painted Bird“ ist also eine Form von komprimiertem Leid. Einmal zeigt Harvey Keitel als katholischer Priester dem Kind in der Kirche ein Bild Jesu auf dem Kreuzweg und sagt, dass der Junge auf einer ähnlichen Reise sei. Der Protagonist ist ein Stellvertreter für alle namenlosen Kinder, denen keine faire Chance im Leben geschenkt wurde.
Wie Leone ohne Oper
Die Reise bringt den Jungen zu einer Wassermühle, in der der eifersüchtige Udo Kier dem schönen Müllersgehilfen beide Augen mit einem Löffel ausdrückt. Der Junge wird in einen Sack gepackt und verdroschen, in den Boden eingegraben und von Raben attackiert. Fast muten einige Episoden wie sehr düstere alptraumhafte Märchen an. Gleichzeitig zeigen sie Menschen auf allen Seiten, die der Krieg auf ihre Instinkte reduziert hat – sei es bei den noch wie im Mittelalter lebenden Bauern, den Heilerinnen und Vogelfängern oder bei den sowjetischen oder deutschen Soldaten. Auch der Protagonist kann in dieser Welt nicht unschuldig bleiben.

Marhoul inszeniert das Ganze wie ein Sergio-Leone-Epos ohne die Opernelemente. Das Knarzen und Quietschen der Eröffnungssequenz von „Spiel mir das Lied vom Tod“ macht dagegen den Stil des gesamten Soundtracks der tschechischen Produktion aus. Einzelne Wassertropfen, die aus der nassen Kleidung auf die kochend heiße Herdplatte fallen, das Fiepen der Ratten, die sich in einem Bunker verstecken, das Abrupfen des vertrockneten Maises, der einen noch einen Tag weiterleben lässt. Spricht der Junge anfangs noch, lernt er doch sehr schnell, dass jede falsche Wort, ja, jede bereits auffällige Geste oder Handlung zu seinem Tod führen kann. So ist „The Painted Bird“ nahezu ein Stummfilm, der mich aber auch gerade deshalb von der ersten bis zur letzten der 169 Minuten gefesselt hat. Die Bildsprache ist so stark, dass sie den Film trägt. Vor allem auch die unzähligen Großaufnahmen dieser interessanten, hässlichen und schönen Charaktergesichter sind unvergesslich.

Das ist wohl eines von zwei, drei Werken, die am Ende dieses Venedig-Festivals bleiben werden. „The Painted Bird“ ist eine knüppelharte Herausforderung. Es ist aber angesichts der heutigen politischen Verhältnisse eine Herausforderung, die jeder Mensch mit Verstand eingehen sollte, um die Verhältnisse von damals nie wieder aufkommen zu lassen. Ich wünsche der Produktion den Goldenen Löwen.

Links: - Joker am Lido, - Baumbachs Marriage Story

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Sonntag, 1. September 2019
Venedig-Geheimtipp „Madre“

Hauptdarstellerin Marta Nieto | © Malvalanda / Caballo Films / Arcadia
Bei all dem „Joker“-Trubel und Polanski-Bashing sollte nicht vergessen werden, dass in der Nebenreihe Orizzonti mit „Madre“ einer der schönsten und aufwühlendsten Filme des Venedig-Festivals gelaufen ist.

Das Handy klingelt. Da ist der 6-jährige Sohn dran. Der weiß nicht, wo er ist. Hat sich im Urlaub verirrt. Wo sein Vater steckt, weiß er auch nicht. Nur, dass er an einem Strand ist, sein Telefon noch einen Akku-Balken hat und am Horizont ein fremder Mann erscheint, der langsam auf ihn zukommt. Das alles muss Elena (Marta Nieta) am anderen Ende der Leitung mit anhören. Sie ist die Mutter des Kleinen. Das gerade Beschriebene ist die Eröffnungssequenz von Rodrigo Sorogoyens Film „Madre“ – gedreht in einer langen atemlosen Einstellung. Der Madrilene feierte mit dem Film bei anhaltenden Standing-Ovations seine Weltpremiere in der Orizzonti-Reihe. Es ist einer der mir liebsten Filme dieses Venedig-Jahrgangs.

„Madre“ macht nach dem furiosen Beginn einen zeitlichen Schnitt. Nach und nach erfahren wir, was dieser Vorfall mit der Familie angestellt hat. Sorogoyen konzentriert sich dabei ganz auf Elena, die offenbar ein neues Leben begonnen hat. Den Vater gibt es nicht mehr, sie ist umgezogen, lebt jetzt in der Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien und arbeitet in einer kleinen Strandbar. Eines Tages trifft sie am Meer einen 16-Jährigen, der ihrem damalig verschwundenen Kind zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie lernen sich kennen – für ihn wird es das Abenteuer seines Lebens, für sie endlich eine Möglichkeit den alten Dämonen zu begegnen, die sie seit Jahren verdrängt.

Es ist vor allem die Machart, die „Madre“ so aus dem Filmangebot herausstechen lässt. Optisch ist es einfach ein wunderschöner Film. Viel ist mit Steadycam-Kameras gefilmt, die immer in Bewegung sind. Die Bilder haben eine dynamische Rundheit. Manchmal beginnt die Kamera auf einer Massenszene am Strand, zoomt immer weiter ins Bild, bis die Protagonistin Elena isoliert sichtbar wird. Die Kamerafahrten verstärken häufig die Emotionen der Handlung. Die paradiesische Urlaubsatmosphäre bildet den größtmöglichen Gegensatz zu Elenas innerem Zustand.
Das emotionale Band zum Zuschauer
Die harte Eröffnungssequenz legt den emotionalen Kern. Als Zuschauer will man verstehen, was dieses Unglück mit Elena angestellt hat. Mit jeder Szene offenbart das der Film langsam, aber stetig durch ihre Taten. Sie hat sich eine neue Identität und ein neues Leben gegeben, das sie aber nur halbherzig annimmt. Die Treffen mit dem 16-jährigen Jungen sind ambiguin geschildert. Worauf das Ganze hinauslaufen soll, weiß keiner der beiden. Nur, dass sie bald nicht mehr ohne einander können, wird klar. Das führt zu Konflikten mit der Familie des Jungen, weil sie nicht nachvollziehen können, was eine bildschöne Mitdreißigerin mit ihrem Kind will. Zumal sie im Feriendorf nur als die Verrückte bekannt ist. Zudem hat Elena einen aktuellen Partner, der von der Situation auch völlig überfordert ist.

Als Eltern das eigene Kind zu verlieren, gehört zu den härtesten Prüfungen, die das Leben aufbieten kann. Gerade, wenn ein Elternteil dafür so offensichtlich verantwortlich gemacht werden kann. Deshalb fühlt man als Zuschauer extrem für Elena, wünscht ihr, dass sie einen Ausweg aus dem Trauma findet. Gleichzeitig ist auch klar, dass eine Affäre mit einem ähnlich ausschauenden Bubi sie auch nicht weiterbringen wird, es aber zumindest ein erster Schritt aus der Lethargie wäre. Aber man ist bereit, mit ihr den Weg zu gehen, soweit sie gehen will und was sie auch entscheidet. Es ist diese innige Verbindung zum Zuschauer, die „Madre“ als Film so emotional befriedigend und auffühlend macht – gerade auch dank Marta Nieta sublimem Schauspiel. Es ist ein wirklich toll erzähltes Melodrama, dessen laue Sommernächte einem noch lange nachhängen.

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Sonntag, 1. September 2019
Instant-Klassiker „Joker“ auf dem Lido

Phoenix unzufrieden mit dem Gotham-Nahverkehr | © Warner Brothers
Am Samstag ist Todd Phillips' „Joker“ wie eine Bombe im Venedig-Wettbewerb eingeschlagen. Jurypräsidentin Lucrecia Martel wird dafür keinen Goldenen Löwen springen lassen – obwohl das nicht ungerechtfertigt wäre.

Todd Phillips' „Joker“ ist next level shit. Er erzählt die Vorgeschichte einer der ikonischsten Figuren der Kinogeschichte noch einmal – aber dieses Mal richtig: Logisch in die bisherigen biografischen Schlaglichter der Figur eingewoben, aber mit viel mehr Fleisch und Emotionen, so dass es ganz neu und frisch wirkt. Psychologisierungen von Superschurken enden oft in Entzauberungen. Eigentlich gewinnen Figuren wie Michael Myers oder Blofeld nichts hinzu, wenn man ihnen zum Beispiel eine schwere Kindheit anheftet. Phillips hat es aber auf magischeweise geschafft, die Biografie des Jokers auszufüllen, ohne die Figur dadurch zu banalisieren. Das Böse erwächst aus den Menschen selbst. Sie tragen es immer als Teil mit sich. Dass das Konzept aufgeht, mag an einem unfassbar dichten und perfekt konstruierten Drehbuch und der mitreißend hypnotischen Inszenierung liegen. Es ist natürlich aber auch der Verdienst von Hauptdarsteller Joaquin Phoenix.

Nach Jack Nicholson in Tim Burtons „Batman“ dachte man schon, dass niemand mehr diese diabolische und gleichzeitig charmant-witzige Figur anrühren sollte. Das Gleiche galt dann für Heath Ledger, der mit seinem verschwitzten und fletschenden Anarcho-Dandy in „The Dark Knight“ Nicholson fast ein wenig alt aussehen ließ. Legendär sind seine wechselnden Hintergrundgeschichten, die er den Menschen als Motivation hinhält, warum er zum Joker wurde. Phoenix wiederum hat sich den geschminkten Punk völlig neu erschlossen. Er wirft sich voll und ganz in die Rolle. Ja, er hat dafür viele Kilos abgenommen. Aber das ist es nicht. Phoenix hatte sich gerade in den vergangenen Jahren viel zu sehr auf sein Äußeres verlassen, ließ teils seine Bärte die Arbeit machen. Aber in „Joker“ scheint jeder seiner Muskel, jede Regung genau richtig eingesetzt, um den Lebenswahnsinn und den Weltekel der Figur sowie ihren Wandel wie ein Seismograph nachzuzeichnen. Und Phoenix tanzt bei blassem Mondschein mit dieser teuflischen Figur – er schwebt geradezu.
Mit neuen Augen gesehen
Ein großer Teil meines Spaßes war es, mit so wenig Vorwissen wie möglich mir Jokers Geschichte erzählen zu lassen. Diesen Spaß will ich keinem Zuschauer nehmen. Nach diesem Film wird man aber die Figur mit völlig anderen Augen sehen. Damit meine ich nicht mit mehr Empathie für die Verbrechen und das Chaos, das der Joker in Gotham City verursacht. Aber Phillips hat aus Burtons Comic-Joker und Nolans Weltschmerz-Punk eine emotional viel tiefere Figur werden lassen, die nicht nur handelt, weil sie einfach die Welt brennen sehen will. Das wird auch das Zusammenspiel mit Bruce Wayne interessanter machen – wenn bei den Fortsetzungen denn Leute wie Phillips und seine Co-Drehbuchschreiber Scott Silver beteiligt sind.

Das turbokapitalistische Hollywood besteht heutzutage so viel aus dem Aufwärmen von bereits Gesehenem, vom Setzen auf Nostalgie und dem Glaube daran, dass der Zuschauer sowieso einfach nur immer wieder das Gleiche sehen will, dass „Joker“ wie ein Schock wirkt. Da hat sich wirklich jemand getraut, neue Geschichten um eine bekannte Figur herum zu erzählen. Man wünschte sich, viel mehr Filmemacher würden das tun. Es kommt nur eben superselten vor, dass jemand so viele gewinnbringende Ideen hat, um eine vermeintlich bekannte Geschichte in seinen Details fortzuschreiben.

Klar, sind Phillips' Vorbilder wie „Taxi Driver“ oder „King of Comedy“ von Scorsese unübersehbar. Aber sein „Joker“ ist im auf Fortsetzungen angelegten Comic-Universum ironischerweise etwas ganz Einzigartiges geworden, teils auch, weil er das Wissen der Cineasten um die Klassiker gegen sie verwendet. „Joker“ ist ein intensives, aufzehrendes Charakterportrait, das gleichzeitig Hollywood-Popcornkino ist, weil hier das Drehbuch, die Schauspieler und die Emotionen die Spezialeffekte und Action-Set-Pieces sind. Endlich knüpft Phillips an die Genialität seines Debütfilms, der Dokumentation „Hated: G.G. Allin and the Murder Junkies“ über einen der anarchischsten Punks unser Zeit an. Mit dem Joker hat er nach langem Suchen eine ebenbürtige Figur gefunden.

Links: - Baumbachs Marriage Story, - Kore-edas Verité

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Freitag, 30. August 2019
Venedig-Fundstück des Tages #1

Du hast Mafia, ich hab' Polizei

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Freitag, 30. August 2019
Mit „Marriage Story“ befreit sich Baumbach endgültig vom Woody-Allen-Epigonen-Image

Scarlett Johansson und Adam Driver mit Stöpsel | © Netflix
Will man einem Paar zwei Stunden bei der Scheidung zusehen? Unendlich gerne, wenn es so erzählt wird wie in Noah Baumbachs „Marriage Story“.

Der Einfluss von Woody Allen auf das Werk des New Yorker Regisseurs Noah Baumbach ist unübersehbar. Mit seinem Netflix-Film „Marriage Story“ wagt sich Baumbach auch noch zusätzlich an Allens Lieblingsregisseur Ingmar Bergman – insbesondere an „Szenen einer Ehe“, der sogar namentlich im Film referenziert wird. Baumbach war immer dann am besten, wenn sich seine neurotischen Künstlerfiguren von Allen lösten und die eigene Biografie stärker durchschimmerte. Klar, erinnert der klassische Score an „Manhattan“. Ein Dialogfilm über ein Pärchen in New York kann nicht nicht an Woody Allen erinnern. Aber Baumbach emanzipiert sich hier ein weiteres Stück und findet immer mehr den eigenen Ton.

Nun steht die Beziehung zur Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig bei Baumbach in der Realität nicht so auf der Kippe, wie die Beziehung zwischen Adam Driver und Scarlett Johansson andeutet. Tatsächlich haben sie gerade ihr erstes gemeinsames Kind bekommen. Aber in Driver, der einen talentierten New Yorker Theaterregisseur spielt und Johansson, die als Schauspielerin davon träumt, selbst einmal Regie zu führen, sind die Parallelen zum echten Leben greifbar.

„Marriage Story“ braucht etwas, um in Fahrt zu kommen. Er nimmt sich bei mehr als zwei Stunden Laufzeit zurecht seinen Raum. Zuerst erscheinen die Konflikte des immer noch jungen Paares marginal. Umso länger der Zuschauer aber Johanssons Figur und ihren Gedanken folgt, fragt man sich, wie sie in der Beziehung so lange bis hier hin durchgehalten hat. Baumbach widmet sich beiden Perspektiven ausgiebig. Zuerst mehr der Frau, später dem Mann. Es sind vor allem die Kleinigkeiten, die sich zu großen Problemen auswachsen. In einer Welt, in der sich jeder selbst verwirklichen will, bleibt das Gegenüber schon mittelfristig immer auf der Strecke. Das angekratzte Miteinander gerade auch mit ihrem kleinen Jungen zeigt der Film trotz der Konflikte vielleicht auch deshalb geradezu zärtlich.
Was es für einen großartigen Film nur braucht
Billy Wilder sagte mal, dass der Filmemacher dem Zuschauer nur drei erinnerungswürdige Momente schenken müsste, damit der Eindruck eines tollen Films zurückbleibt. „Marriage Story“ hat diese drei Momente. Er hat eine tolle, eigensinnige Atmosphäre, die vor allem auch über die Nebenfiguren hinzukommt. Die Geschichte nimmt weiter an Fahrt auf, wenn die Scheidungsanwälte in Spiel kommen. Eine davon ist Laura Dern. Und sie spielt ihre perfekt gestylte, die weiblichen Gesten und Reize liebende Anwältin mit solch einer Lust und Verve, dass sie dafür eigentlich für einen Oscar als besten Nebendarstellerin in Betracht gezogen werden müsste. Ray Liotta und Alan Alda stehen ihr nicht in Vielem nach. Auch ganz toll ist Johanssons Filmschwester Merritt Wever und Film-Mama Julie Hagerty.

Es ist aber vor allem das letzte Drittel, wenn Emotionen explodieren, Reden auf die Jungfrau Maria gehalten werden und eine Staatsbeamtin Adam Driver zuhause besucht, wo „Marriage Story“ den Zuschauer emotional auszahlt. Dieser bittersüße Film ist leicht und schwer zugleich erzählt. Ich mochte bereits Baumbachs ähnlich gelagerten Netflix-Film „The Meyerowitz Stories“ ziemlich gerne. Das hier ist eine Liga drüber.

Baumbachs „Marriage Story“ läuft am 6. November in ausgewählten amerikanischen Kinos an. Dann ist er weltweit ab dem 6. Dezember auf Netflix zu sehen.

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Auf dem Lido lesen Filmkritiker CIAK

Die Postille CIAK dominiert die ersten zwei Mostra-Tage
Zum Leben eines Cineasten oder Filmjournalisten gehören auf Festivals die täglichen Zeitungen der Trade Papers. Venedig hat aber auch eine brauchbare Hauspostille zu bieten.

Am Donnerstag ist dann auch die erste Ausgabe Variety für die Presse eingetroffen. Deutlich mehr Aufmerksamkeit zieht aber bei mir das zweisprachige Festivalblatt CIAK, das beim Filmfestival von Venedig immer an wartende Journalisten ausgegeben wird und täglich frisch überall ausliegt. Soweit ich das aus dem Impressum herauslesen kann, ist das ein offizielles Festivalprodukt. Was mich natürlich immer am meisten interessiert, ist der Kritikerspiegel. Auch der ist hier doppelt besetzt. Im internationalen Kritikerspiegel tummelt sich zum Beispiel die Positif-Koryphäe Michel Ciment, die immer ein guter Gradmesser ist, was es im Wettbewerb zu sehen gilt. Aber auch Tobias Kniebe von der Süddeutschen Zeitung ist dabei.

Im italienischen Kritikerspiegel sind die Publikationen Repubblica, Il Corriere Della Sera, Il Folgio, La Nuava Venezia, Il Messagero, Il Gazzetino, Il Fatto Quotidiano, La Stampa und Il Giornale aufgeführt. Der wohlwollend aufgenommene Kore-edas Eröffnungsfilm erhält dort einen Notenschnitt von 3,3. Fünf Sterne sind die Höchstwertung. Giuseppe, mit dem ich mich heute morgen in der Schlange zu Baumbachs „Marriage Story“ unterhalten habe, konnte mir keinen Geheimtipp geben. Er überlegte noch, ob er heute neben dem gesetzten Wettbewerb den italienischen Film „Sole“ in der Orizzonti-Reihe schauen sollte. Er habe das schon Positives gehört. Aber überzeugt klang er nicht. In seinem Programmheft stand noch ein dickes Fragezeichen neben dem Film.

Das Magazin CIAK müssen nicht-englischsprachige Kritiker von hinten zu lesen beginnen. Es gibt ein Interview mit der saudischen Regisseurin Haifaa al-Mansour, die ihren Film „The Perfect Candidate“ im Wettbewerb präsentiert. Venedig-Chef Alberto Barbera erklärt nochmal schnell, warum Pedro Almodóvar gerade jetzt einen Ehrenlöwen für sein Lebenswerk auf dem Lido erhält. Außerdem findet sich ein geradezu geniales, in Comicform gezeichnetes Poster des koreanischen Meisterwerks „Burning“ zum italienischen Kinostart im Heft. Beim kurzen Blick in Variety fällt auf, dass deren Team jetzt erst mit dem Arbeiten beginnt. Immerhin findet sich ein Interview mit der Australierin Shannon Murphy zu ihrem Wettbewerbsfilm „Babyteeth“ in Ausgabe eins. Und schönerweise ist wieder Owen Gleiberman als Chefkritiker vor Ort.

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