Donnerstag, 26. Dezember 2019
Chatrians erste Berlinale: Was laufen könnte

Qurbanis "Berlin Alexanderplatz" | © Beta Cinema
Mit Spannung wird der erste Berlinale-Wettbewerb des neuen künstlerischen Leiters Carlo Chatrian erwartet. Negative Space listet potenzielle Kandidaten.

Am 20. Februar startet die 70. Berlinale. Der neue künstlerische Direktor Carlo Chatrian wird das Programm des Wettbewerbs am 29. Januar auf einen Schlag präsentieren. Sein langjähriger Vorgänger Dieter Kosslick hätte zum jetzigen Zeitpunkt bereits die ersten Wettbewerbstitel veröffentlicht gehabt. Alles wird im neuen Jahr ein bisschen anders. Also höchste Zeit darüber zu spekulieren, welche Filme es in die wichtigste Reihe der Berliner Festspiele schaffen.

Welche deutsche Filmemacher und Stimmen will Chatrian pushen? Wie viele Slots gibt er den einheimischen Produktionen? Darauf wird genau geachtet werden. Wenn sein Vorgänger Kosslick etwas bei der Auswahl besonders gut konnte, dann den verschiedenen Strömungen der deutschen Filmszene Platz und Rampenlicht einzuräumen. Ein sehr heißer Wettbewerbskandidat bei Chatrian ist auf jeden Fall Christian Petzold. Aktuell feiern die US-Kritiker ihn auf ihren Top-Ten-Listen noch für seinen letzten Film "Transit", da startet am 26. März bereits der neue Film "Undine" in den deutschen Kinos.
Welches deutsche Kino profitiert
Das Werk mit Paula Beer und Franz Rogowski in den Hauptrollen sollte für den Wettbewerb gesetzt sein. Chancen haben auch Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz" und Anne Zohra Berracheds "Die Frau des Piloten". Alle drei Regisseure sind eng mit dem Festival verbunden und haben durch Wettbewerbsslots ihre Karriere vorantreiben können. Es ist natürlich die Frage, welches deutsches Kino Chatrian in seiner ersten Berlinale unterstützen will. Petzold ist ein internationaler Arthouse-Star. Da wäre es töricht, nicht zuzugreifen. Zumal Chatrian reichlich Geschmack besitzt. Aber ob er auch etwas mit Oskar Roehler und seinem Fassbinder-Film "Enfant terrible" oder mit Dietrich Brüggemanns "Nö" oder Stefan Ruzowitzkys "Narziss und Goldmund" anfangen kann, wird sich herausstellen. Auch eine interessante Frage: Hat Chatrian den meisterlichen Debütfilm "Der Bunker" von Nikias Chryssos gesehen und somit seinen Fokus auf dessen neuen Film "A Pure Place"? Hoffentlich.

Große Hollywood-Regisseure werden den Wettbewerb wahrscheinlich nicht beehren. Einziger Kandidat aus dieser Gewichtsklasse ist Wes Anderson, der die Berlinale zu seinem Lieblings-Festival auserkoren hat und damit in der Vergangenheit sehr gut gefahren ist. Sein Film "The French Dispatch" befindet sich in der Postproduktion. Die französische Thematik und Stars wie Timothée Chalamet, Saoirse Ronan und Léa Seydoux deuten eher auf eine Präsenz an der Croisette hin. Sowohl "Isle of Dogs" als auch "The Grand Budapest Hotel" waren in Berlin die Eröffnungsfilme. Interessant ist, dass Chloé Zhaos neuer Film "Nomadland" mit Frances McDormand und David Strathairn nicht im Line-up von Sundance aufgetaucht ist. Aber auch den hätte Cannes-Chef Thierry Frémaux bestimmt gerne in seinem Programm.
Programmtechnische Verschiebungen
Josephine Decker, die im Forum der Berlinale groß wurde und jetzt einen Film für Apple drehen darf, könnte ein erster Fall sein, woran der Unterschied zu Chatrians Vorgänger Kosslick sichtbar werden könnte. Deckers neuer Film "Shirley" mit Elisabeth Moss und Logan Lerman läuft Ende Januar in Sundance. Kosslick verzichtete bis auf ganz seltene Ausnahmen in diesen Fällen darauf, den Film im Wettbewerb der Berlinale zu zeigen. Chatrian könnte das ändern. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er Luca Guadagninos "Call Me By Your Name" im Jahr 2017 nicht in der Nebenreihe Panorama belassen, sondern dem Film die ganz große Bühne bereitet. Der Umgang mit Sundance-Filmen von der neuen Leitung wird spannend zu beobachten sein.

Ganz oben auf Chatrians Wunschliste steht bestimmt Mia Hansen-Løves Film "Bergman Island". Die Filmemacherin startete zwar in Cannes durch. Aber in der deutschen Hauptstadt triumphierte sie mit "Alles was kommt". In einem Interview ließ sie durchscheinen, dass sie noch nicht wisse, ob sie die Postproduktion rechtzeitig für Berlin abschließen könne. Aber dieser Wettbewerbsslot hätte beinahe alles: Eine aufregende Regisseurin, ein heiß erwarteter Film, bekannte Schauspielnamen wie Tim Roth, Mia Wasikowska und Vicky Krieps.

Auteurs, die regelmäßig ihre Filme auf die Berlinale unter Kosslick gebracht haben, präsentieren wieder neue Werke: François Ozons "Eté 84“, Ildikó Enyedis "The Story of My Wife", den Maren Ade koproduziert hat, Sally Potters "The Roads Not Taken" und Radu Judes "Uppercase Print". Auch ein interessanter Fall: Der britische Regisseur Francis Lee begeisterte 2017 mit "God's Own Country" eine viel zu kleine Kritikergruppe in einer Nebenreihe. Mit seinem neuen Film "Ammonite" könnte er jetzt den Sprung in den Wettbewerb schaffen.
Gerüchte um asiatische Filmemacher
Schon als Festivalchef in Locarno besaß Chatrian einen guten Draht nach Asien. Regisseure wie Wang Bing oder Hong Sangsoo gewannen den Goldenen Leoparden. Jetzt gibt es erste Gerüchte, dass der künstlerische Leiter der Berlinale seine Fühler nach Tsai Ming-liang, Ann Hui und Zhang Yimou ausgestreckt haben soll. Gerade letzterer chinesischer Regisseur wurde im Februar noch aus dem Berlinale-Wettbewerb wegen "technischer Schwierigkeiten" mit seinem Film "One Second" zum Bedauern der Kritikerschaft abgezogen. Das wäre auf jeden Fall eine spannende Geschichte, wenn Yimous neuer Film "Jian Ru Pan Shi" aus seiner Heimat verschickt werden dürfte.

Und wenn man sich schon etwas für die 70. Berlinale wünsche dürfte, wie wären dann Marco Dutra & Caetano Gotardo mit "Todos os mortos", Ulrich Seidls "Böse Spiele", Cristi Puius "Malmkrog" und Rachel Langs "Mon légionnaire". Vermutlich wird es bei Chatrians erstem Berlinale-Wettbewerb viele hochgezogene Augenbrauen ob der unbekannten Regienamen geben. Aber auch dafür ist er geholt worden: Um neue Stimmen im Weltkino zu finden und aufzubauen. Seine letzte große Sensation in Locarno war der mehr als 13-stündige argentinische Film "La flor". Der Rekord für Berlinale-Kritiker lag bisher bei mehr als acht Stunden des Lav-Diaz-Films "A Lullaby to the Sorrowful Mystery". Mal sehen, ob Chatrian das in seiner Ära nochmal toppen will. Diaz gewann unter Chatrians Leitung jedenfalls den Goldenen Leoparden mit dem Film "Mula".

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