Montag, 10. Juni 2019
Sight & Sound-Herausgeber Nick James hört auf
Mit Nick James' Rücktritt als Sight & Sound-Chef verlässt einer der prägenden britischen Filmkritiker die große Bühne. Seine unterkühlt liebevolle Art, über Filme zu schreiben, werde ich vermissen. Ein Rückblick von Michael Müller

Er war das Gesicht des britischen Filmmagazins Sight & Sound: Der Filmkritiker und Herausgeber Nick James hört nach 23 Jahren bei einer der wichtigsten englischsprachigen Filmzeitschriften auf. Er selbst sagt, es sei seine eigene Entscheidung gewesen, die auch dadurch fiel, dass er sich zukünftig einer breiteren Form des Schreibens widmen will. Ob er damit Romane oder filmwissenschaftliche Werke meint, ließ er vorerst offen.

James wurde nicht nur von seinen internationalen Kollegen sehr geachtet. Die Wertschätzung reichte bis in die Führungsetagen der Filmfestivals. Erst 2016 saß er noch gemeinsam mit Meryl Streep, Lars Eidinger und Alba Rohrwacher in der Berlinale-Jury. Eine Ehre, die Filmkritikern selten zuteil wird. Auch bei seinem jetzigen traurig stimmenden Sight & Sound-Abschied betonte er, wie stark doch der aktuelle Cannes-Jahrgang gewesen sei.
Schmerzlicher Verlust einer coolen Koryphäe
Der Brite pflegte eine unterkühlte Form der Cinephilie, die aber gerade für Festivalbeobachter ein Segen war. Amerikanische Filmkritiker tendieren im Vergleich dazu, auch in den schlechtesten Filmen noch positive Eigenschaften zu entdecken. Bei James wusste man immer, woran man war. Wenn er einen Film nicht nur erwähnte, sondern lobte, konnte man sicher sein, dass das für ihn einer der stärksten Filme des Jahrgangs war. Bei meinem einjährigen Abo der Sight & Sound gab es nur einen Pflichtartikel, den ich immer las: Nick James' Editorial. Sein leicht verständlicher, ruhiger Schreibstil in Verbindung mit seinem ungebremsten Interesse an neuen weltweiten Entwicklungen und Filmtrends machte seine Texte unwiderstehlich.

Ende der 1980er-Jahre begann James, der davor als Rocksänger unterwegs war, für das Magazin City Limits über Film zu schreiben, wo er bald zum Leiter des Filmressorts aufstieg. Seit 1997 ist er Redakteur bei Sight & Sound. Seine Artikel zu Film, Kunst und Literatur erschienen unter anderem im Guardian, Observer und Independent. „Heat“, sein Buch über den gleichnamigen Film von Michael Mann wurde 2002 veröffentlicht. 2010 wurde er vom französischen Kulturministerium mit dem Titel Chevalier de L’ordre des arts et des lettres ausgezeichnet. Seit 2012 kuratiert er die zweimal jährlich stattfindende Filmreihe „Deep Focus“ des British Film Institute beim BFI Southbank.

James, der vergangenes Jahr „Roma“, „The Favourite“, „Burning“, „Cold War“ und „Shirkers“ in der Top Five hatte, will Sight & Sound als freier Mitarbeiter erhalten bleiben. Die Arbeit als Herausgeber beim britischen Filmmagazin hatte er immer als „größten Job auf der Erde“ beschrieben. Zu den zahlreichen Twitter-Reaktionen auf seine Entscheidung schrieb er: „Ich versuche mich jetzt zusammenzureißen. Das ist mehr Liebe, als ein Engländer ertragen kann. Ich danke euch für eure großzügigen Reaktionen. Ich fühle mich heute wertgeschätzt.“

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