Montag, 29. April 2019
Tarantino findet cineastische Heimat für den Herbst seines Lebens
Fast unbemerkt von der Außenwelt ist der Regisseur Quentin Tarantino unter die cineastischen Essayisten gegangen. Mit seinen kleinen feinen Texten bereichert er das Programm seines eigenen Kinos. Von Michael Müller

Es ist schon ein großes Glück, in einer Zeit zu leben, in der Carlo Chatrian die künstlerische Leitung der Berlinale übernimmt. Noch ein Stück weit größer ist das Glück, dass der amerikanische Regisseur Quentin Tarantino trotz der Postproduktion seines neuen Films „Once Upon a Time in Hollywood“ jeden Monat einen Essay zum Programm seines New Beverly Cinema in Los Angeles beisteuert.

Ein wenig war das schon mal der Fall, als er zwischen seinen Projekten „Jackie Brown“ und „Kill Bill“ eine Auszeit nahm und einmal im Jahr in Austin, Texas das sogenannte QT-Festival abhielt. Von den Gott sei Dank dokumentierten Einleitungen und Programmierungen zehre ich bis heute bei meiner eigenen Filmauswahl. Aber jetzt wiedermal durch seine Filmtexte einen scheinbar direkten Draht in das Gehirn des Über-Cineasten zu haben, gehört zu den ganz großen Freuden des Jahres.
Utopie vom Regisseur, der Filmhistoriker wird
Tarantino kündigte ja an, nur noch zwei Spielfilme als Regisseur herausbringen zu wollen, um dann ein Mann der Buchstaben zu werden und subtextuelle Filmkritik-Bücher zu schreiben. „Once Upon a Time in Hollywood“ entstand aus solch einem abgebrochenen Buchprojekt, als er sich intensiv mit dem Filmjahr 1970 auseinandersetzte. Der Kalifornier ist ein Meister der Ankündigung. Zu jedem seiner Filme gibt es angeblich geplante Spinoffs und Weiterführungen, die nie oder nur auf kleinster Flamme umgesetzt wurden. Es wäre sowieso eine singuläre Erscheinung in der Filmwelt, die eigentlich nur Filmkritiker kennt, die Regisseure wurden. Andersherum ist das meines Wissens noch nicht vorgekommen. Obwohl andere amerikanische Regisseure wie Martin Scorsese, John Landis oder Joe Dante jeder Zeit die Fähigkeiten dazu gehabt hätten.

Eher vorstellbar ist ein Zukunftsmodell mit den Essays im New Beverly Cinema. Anfang April schrieb Tarantino einen ausufernden Beitrag zu Don Siegels Gefängnisfilm „Escape from Alcatraz“. Ein Film, von dem er gar kein so großer Fan war und es heute immer noch nicht wirklich ist. Aber der Text gab einen Vorgeschmack auf die Fähigkeiten eines dauerhaften Filmkritikers Tarantino: Ein unendlich großes Filmwissen gepart mit einer Fixierung auf seinen eigenen Götter-Kanon, der im kleinsten Nebensatz in Empfehlungen oder Querverweisen durchscheint. Einen süchtig machenden Sound von einer so kompetenten, starken Stimme, von der ich mir gerne die ganze Filmgeschichte erzählen lassen würde.
Ein Glanzstück: der „Yakuza“-Essay
Noch wertvoller fand ich Tarantinos Essay Ende April über Sydney Pollacks Film „The Yakuza“ mit Robert Mitchum. Der Text ist viel kürzer, schlanker, konzentrierter und eleganter geraten. Bei Don Siegel schrieb er schnell gar nicht mehr über den Film, sondern über all das, was er schon immer mal gerne sagen wollte. Bei seiner „Yakuza“-Kritik lernt man in jedem Absatz eine Kostbarkeit. Der Film wird besser, wenn man den Text vorher oder nachher liest. Der Essay hat Hintergrund, aber nicht zu viel. Er hat Seitenblicke, die aber nicht abschweifen, sondern den eigentlichen Film ergänzen. Er bietet andere Filmempfehlungen am Wegesrand an. Es ist aber keine endlose Liste, sonder es sind zwei, drei ausgewählte Treffer. Und der Text konzentriert sich exzellent auf die Stärken der Verfilmung, lässt aber die Schwächen nicht unter den Tisch fallen.

Es mag sein, wenn Tarantino die Deadline von Cannes hält, ab Mai in den Festivaltrubel abtaucht und seine Weltreise mit „Once Upon a Time in Hollywood“ beginnt, dass die Essays erst einmal wieder zurückstehen müssen. Aber ich denke, dass er in dieser Form eine erste echte Anlaufstelle für seine Cinephilie gefunden hat. Eventuell werden aus diesen Texten, die er wahrscheinlich haufenweise in der Schreibtischschublade oder auf alten Disketten auf Halde hat, doch noch tolle Bücher. Das muss aber gar nicht sein. Der Rhythmus und die Länge seiner jetzigen Texte passen perfekt in meinen cineastischen Alltag. Und die Vermutung liegt nahe, dass er mit der Filmkritikerin Kim Morgan, die inzwischen exklusiv für das New Beverly schreibt, eine gute Lektorin gewonnen hat. Muss er halt hoffen, dass Morgans gemeinsames Filmprojekt mit Guillermo del Toro, „Nightmare Alley“, kein riesiger Kinoerfolg wird. ;)

Links: - Escape from Alcatraz, - The Yakuza, - 1970

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