Sonntag, 10. Februar 2019
Berlinale-Film „Chained“: Wenn Liebe ein Gefängnis wird
schwanenmeister, 21:03h
Der israelische Film „Chained“ ist ein Volltreffer in der Panorama-Sektion. Bei der Geschichte um einen Tel Aviver Polizisten, der die Familie mit seiner Liebe und Moral zu zerquetschen droht, verschwimmen die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilm.
Die Gewalt bin ich: Rashi (Eran Naim) | © Berlinale 2019
Rashi (Eran Naim) will sein Leben so kontrollieren, wie er seine Fälle im Dienst kontrolliert. Als Tel Aviver Polizist hat er mehr als 15 Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel. Dem bulligen Hünen macht im Einsatz niemand mehr etwas vor. Er riecht förmlich, wenn Menschen ihm gegenüber nicht die Wahrheit sagen. Etwas rabiat sind aber seine Methoden: Türen werden auf Verdacht aufgebrochen, und potenzielle Drogendealer müssen schon mal ihre Unterhosen runterziehen, um zu beweisen, dass sie nicht doch etwas versteckt haben. In letzterem Fall stellen sich die Jugendlichen als Kinder eines hohen Beamten im Geheimdienstapparat heraus. Die Unterwäschen-Inspektion hat ein juristisches Nachspiel. Rashi wird verhört und erst einmal suspendiert. Das schürt Konflikte zu Hause, weil der unterforderte Gesetzeshüter seinen so strengen wie liebevollen Blick nun auf seine 13-jährige Tochter Yasmin (Stav Patay) konzentriert.
Der 45-jährige Regisseur Yaron Shani, der in Tel Aviv studierte und im Jahr 2010 mit seinem Gangsterstreifen „Ajami“ für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde, wendet sich in seiner neuen Arbeit vom traditionellen Erzählkino ab. Dass Zuschauer im Kino auf Emotionen reagieren müssen, die Schauspieler künstlich generieren, findet er falsch. In „Chained“ mischt er deswegen Laien mit Schauspielern. Ein grobes Handlungsgerüst gab er ihnen vor. Aber er ließ während der Dreharbeiten große Freiräume zur Improvisation. Shani, so erzählt er am Sonntagabend bei der Weltpremiere im Panorama der Berlinale, ist stolz auf den Ansatz. Mit Ausnahme des Schlusses seien alle Szenen jeweils der erste Aufnahmeversuch gewesen. So stellt Shani eine Wahrhaftigkeit auf der Leinwand her, die ihres Gleichen sucht. Die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm verschwimmen.
Polizeiliche Talente sind Gift für FamilieIm hebräischen Original heißt der Film „Eynayim Sheli“ (Meine Augen). Der Polizist Rashi hat seine Augen im Privatleben zu weit und zu intensiv aufgerissen. Jedes Treffen seiner Tochter mit Freunden betrachtet er misstrauisch. Aus Fürsorge will er sie so lange wie möglich von Drogen, Sex und Gewalt fern halten. Das macht ihn zu einem übervorsichtigen Vater, der seinem Kind die Luft zum Atmen nimmt. Auch seine Ehefrau Avigail (Stav Almagor) spürt den Druck. Gemeinsam versuchen sie aktuell, ein zweites Kind zu bekommen. Aber sie erleidet eine Fehlgeburt. So führsorgend und aufmerksam Rashi auch ist – seine polizeilichen Talente sind Gift für die Familie.
Rashi ist ein rechtschaffender Mann. Er ruiniert seiner Tochter aber auch ein Fotoshooting, weil er zu viel Angst vor aufreizenden Posen und zu knappen Kleidern hat. Aus einem Park schleppt er sie in sein Auto, als er sie mit Hilfe eines Polizistenkollegen über ihr Handy ortet und beim Alkoholtrinken erwischt. Wer liebt, muss auch Freiräume zugestehen. Er muss seiner Tochter vor allem mehr vertrauen. Seine Übervorsichtigkeit, die Dominanz und der Beschützerinstinkt treiben auch die Beziehung mit seiner Frau in eine Krise. Seine Emotionen entwickeln sich für ihn zu einem Gefängnis. Er begreift nicht, dass er zwar keine körperliche Gewalt auf seine Familie ausübt. Aber umso stärker ist seine psychische und verbale Gewalt aus Liebe.
Frau Avigail und Tochter Yasmin | © Berlinale 2019
Aus dem Leben gegriffenDiese Abwärtsspirale ist in den langen sowie intensiven Dialog- und Konfliktszenen teils eine echte Herausforderung für den Zuschauer. Aber selten fühlt sich Kino so unmittelbar und wahrhaftig an. Das hängt auch damit zusammen, dass die Schauspieler stärker ihre eigene Biografie in die Figuren einbrachten. Eran Naim, der Rashi spielt, war zum Beispiel selbst Polizist. „Chained“ ist nicht seine Geschichte. Viele Elemente der Handlung sind ihm aber im eigenen Leben begegnet.
Die Produktionsgeschichte von „Chained“ klingt abenteuerlich und aufopferungsvoll. Bereits drei Jahre sei es her, dass sie den Film abgedreht haben, erzählt Regisseur Shani. Eine einzige Produktion war geplant. Aber der freie Entfaltungsrahmen für die Schauspieler sprengte alle Zeitgrenzen, so dass das Projekt auf drei Spielfilme angewachsen ist. Der erste Teil der Trilogie, „Stripped“, feierte seine Weltpremiere auf dem Venedig-Festival. Der abschließende Teil „Reborn“ hat noch keinen festen Start. Die Produzenten, worunter auch der Kultursender Arte und das Kleine Fernsehspiel des ZDF sind, bezeichnete Shani aufgrund der Ausdauer und des Vertrauens in das Projekt als „auf eine positive Weise verrückt“. Zu hoffen bleibt, dass zwischen den nächsten Projekten Shanis nicht wieder fast zehn Jahre vergehen müssen.
Weitere Kinotermine auf der Berlinale: 9. Februar um 19.30 Uhr im International, 10. Februar um 14.30 Uhr im Cine Star 3, 11. Februar um 14 Uhr im Cubix 9, 14. Februar um 19.30 Uhr im International, 17. Februar um 21.30 Uhr im Zoo-Palast 1.
Regisseur Shani (r.) und seine Hauptdarsteller in Berlin
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