Montag, 29. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „A Quiet Passion“ (Terence Davies)
schwanenmeister, 23:23h
Einem Dinosaurier gleich stampft der berüchtigte Oscar-Blogger Jeffrey Wells heute durch die politisch korrekte Hipster-Online-Welt. Was der streitsüchtige, machohafte Wells mit seinem Blog Hollywood Elsewhere aus der Steinzeit jedoch mit rüber gerettet hat, ist sein immer noch funktionierender Riecher für frühe Oscar-Kandidaten. Einmal Jeffrey Wells sein, dachte ich mir bei Terence Davies‘ Kostümdrama „A Quiet Passion“. Der Zoo-Palast war wegen Benjamin Netanjahus Staatsbesuch weiträumig abgesperrt. Und als ich mich an den Absperrgittern wieder Richtung U-Bahn-Station orientierte, war mir auch schon klar, dass es nicht einen einzigen, sondern ein paar Kandidaten gäbe, die einen frühen Oscar-Buzz verdienten.
Tochter (Cynthia Nixon) & Vater (Keith Carradine) © Hurricane Films
Davies‘ Film lief nur in der Special-Nebenreihe der Berlinale. Aber die Qualität für den Wettbewerb hätte das Emily Dickinson-Biopic locker gehabt. Terence Davies ist eben ein gut gehütetes Insider-Geheimnis unter Cineasten, hauptsächlich unter britischen Kritikern. Deswegen werden wohl auch nicht Keith Carradine (Emilys Vater), Jennifer Ehle (Emilys Schwester) und Catherine Bailey (die Familienfreundin) in die engere Auswahl mit einbezogen werden, wenn im Dezember wieder ernsthaft für die Academy gefahndet wird. Und doch hätten es alle drei mehr als verdient. Auch Cynthia Nixon, dem Zuschauer eher bekannt als die rotblonde Miranda aus „Sex and the City“, die der amerikanischen Schriftstellerin Emily Dickinson in den Erwachsenenjahren Gesicht und Ausdruck gibt, wäre eine Überlegung wert. So wandlungsfähig und komplex ist ihre Darstellung der Dickinson, so klug wie scharfzüngig, so rebellisch wie verletzlich.
Kammerspielartige Screwball-ComedyMir kann man wirklich keinen Hang zu Kostümfilmen, Jane Austen oder englischer Lyrik nachsagen. Umso begeisterter war ich davon, wie mich Davies trotz dieser vermeintlicher Reizformeln einfing. Bei ihm verwandelt sich Sprache in Gefühle und umgekehrt. „A Quiet Passion“ besteht hauptsächlich aus kammerspielartigen Screwball-Comedy-Momenten, die in Licht schwimmen. Darin haben die Schauspieler so viel Platz und Vertrauen, dass sie allesamt glänzen können.
Der Film erzählt Emily Dickinsons Lebensgeschichte. Als amerikanische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts lässt sie ihre aufgestaute Energie und Kraft in die Poesie fließen. Denn in der Realität wird Frauen das Recht auf Selbstverwirklichung von der Gesellschaft versagt. Dickinson erlangte erst nach ihrem Tod Berühmtheit und Anerkennung und stieg zu einer der bedeutendsten Lyrikerinnen der englischen Sprache auf. In ihrer Zeit kann sie nur wenig veröffentlichen und wird noch weniger von der Literaturkritik geschätzt. Selbst ihr Verleger schreibt einige Zeit nach der Zusammenarbeit einen so fiesen Verriss, dass dagegen Folterwerkzeuge eher harmlos erscheinen.
Sie bezeichnet sich selbst als ein von Gott verstoßener Mensch. Wegen ihrer Zweifel holt sie ihre Familie aus dem protestantischen Mädcheninternat. Sie kniet auch nicht, wie es üblich ist, vor dem Pastor im Familienkreis und verliebt sich heimlich in einen Prediger, der mit einer Quäkerin verbandelt ist. Ihre Schwester Vinnie (Jennifer Ehle) weiß das Verhältnis zwischen Emily und Gott aber besser einzuordnen. Durch ihre poetische Gabe sei sie als Mensch ihm so nah wie sonst kein anderer Mensch.
Der Preis der GenialitätDer Regisseur Davies schildert diese Beziehung vor allem über die süchtig machende Sprache und Formulierungskunst der Emily Dickinson und streift damit einen weiteren interessanten Aspekt ihrer Persönlichkeit. Genies sind im richtigen Leben auf Dauer fast immer nur schwer erträgliche Menschen. Emilys Sinne sind zu fein gestimmt, ihr Vokabular schärfer als das ihrer Umgebung, ihre Haltung zwangsläufig gnadenloser. Jedes Wortgefecht muss gewonnen, jeder letzte Punkt gesetzt werden. Auch wenn sie das immer weiter in die Isolation treibt. Verehrer werden bald nur noch am unteren Treppenende empfangen, um ihnen den rechten Platz gleich zu Anfang zuzuweisen.
„A Quiet Passion“ besitzt eine magische Morph-Szene, in der die Familie Porträt sitzt. Vater Edward (Keith Carradine) ist auch so ein Dinosaurier aus vergangenen Zeiten, dessen Liebe gegenüber seiner Familie immer noch den harten Mantel des Patriarchen überlagert. Er ringt sich unter körperlichen Schmerzen die Ahnung eines Lächelns für das Bild ab. Und während er auf seinem Stuhl sitzt, altert er im Schnellverfahren. Die ergrauten Schläfen, die eingefallenen Wangen.
Was für ein genialer Einfall. Vor allem, wenn die Jung-Schauspieler der Hauptrollen zu ihren späteren Schauspiel-Ichs morphen. Warum ist das noch niemandem früher eingefallen? Es ist ein schmerzlicher, sehr organischer Zeitraffer, der sofort Orientierung stiftet. Und gerade hinsichtlich des Abspanns, wenn wir den Übergang von Cynthia Nixon zur echten Emily Dickinson sehen, schließt sich auf atemberaubende Weise ein dramaturgischer Bogen.
Das ist keinesfalls ein perfekter Film. Und er ist so angenehm düster und verdammt nah an der Realität dran – Krankheiten und Tod bestimmen Emilys Familienleben in der zweiten Hälfte des Films –, dass ihm wohl kaum ein großer Publikumserfolg beschieden sein wird. Mehr als verdient hätte ihn aber dieses sublim erzählte und gespielte Biopic.
Links: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Agonie"
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