Sonntag, 28. August 2011
Fantasy Filmfest-Ticker: 28. August
schwanenmeister, 16:28h
"Kill List" (Ben Wheatley) ★★★★★
Du willst das düstere britische Meisterwerk "Kill List" noch sehen? Dann lies bloß nicht weiter! Verschließe sofort deine Ohren, wenn jemand aus deinem Umfeld davon schwärmen sollte, verschließe deine Augen, wenn Kritiken oder Trailer auftauchen! Du würdest dir ansonsten eine der erinnerungswürdigsten Filmerfahrungen des Kinojahres versauen. Umso weniger du weißt, umso besser. Ich wusste praktisch nichts - und wurde förmlich weggeblasen. "Kill List" war der Geheimtipp des South By Southwest-Festival, das sich neben Sundance immer mehr zur elementaren Frühjahrs-Startrampe von Genreperlen entwickelt. Die Horrorexperten Scott Weinberg, Drew McWeeny und Alan Jones waren begeistert, die IFC Midnight-Schiene hatte wieder mal zugeschlagen, und die britische Zensurbehörde spielte verrückt - mehr brauchte es für mich nicht.
"Kill List" ist ein abartiger Genrebastard, der immer genau dann seine Richtung zu ändern scheint, wenn man ihn gerade verstanden zu haben glaubt. Der Film beginnt als klassisches Kitchen Sink-Drama, wie es Mike Leigh und Ken Loach in Großbritannien zu einer Marke und zu einem Makel gemacht haben. Ein arbeitsloser Mann, der seiner Frau und seinem jungen Sohn auf der Tasche liegt, weil er nichts mit sich anzufangen weiß. Soweit es die stark im lokalen Dialekt gesprochenen Dialogfetzen zulassen, muss er früher wohl Soldat gewesen sein, der auf eine neue Anstellung wartet. Einmal brät er sich einen von der Katze erlegten Hasen, den er wegen des Ekels der Ehefrau nur allein im Garten verzehren darf. Ein anderes Mal stößt ihn sein Sohnemann beim Rasieren an. Er schneidet sich und fühlt sich dabei erinnert. Bei einem Abendessen mit Freunden eskaliert dann die Situation. Die Emotionen schlagen hoch. Der Freund schreitet ein. Er hat einen neuen, mysteriösen Job an der Angel. Und so kippt "Kill List" das erste Mal in eine völlig andere Richtung. Aus dem Familiendrama wird ein waschechter britischer Gangsterfilm. Und jeder, der sich in der Gangsterfilm-Geschichte etwas auskennt, weiß, dass die Engländer in den 1970er-Jahren die besten gemacht haben. Gelegentlich scheint das heute noch in neueren Produktionen wie "Gangster No. 1" oder "Sexy Beast" durch. Schlimm wurde es immer, wenn die Briten nicht an die eigene Historie, sondern an Quentin Tarantino anknüpfen wollten (Guy Ritchie, Matthew Vaughn). Aber was "Kill List" dann auffährt, erinnert nicht nur an die Klassiker "Get Carter", "Callan", "Sitting Target" oder "The Squeeze", sondern findet seine eigene Stimme. Es wird sehr existenzialistisch und düster - als ob die Gangster mit Knarre und Hammer die eigenen inneren Dämonen jagen würden. Darin steckt bereits die nächste Genrewendung, wenn der Gangsterfilm zum Selbstjustiz-Thriller morpht. Den intensiven, süchtig machenden Darstellern Neil Maskell und Mike Smiley ist es zu verdanken, dass daraus zu keinem Moment eine blasse Kopie von "Reservoir Dogs" oder "Pulp Fiction" wird, was innerhalb der Grenzen dieser Genres einer wahren Kunst gleichkommt. Wenn, dann erinnern Wheatleys Gangster eher an die deprimierende Brutalität und Hilflosigkeit eines Richard Burton in "Villain". Aber das Blatt wendet sich noch einmal - übrigens wieder in Richtung eines Subgenre, das die Briten in den 1970er-Jahren beherrschten und antrieben. Und als die Kirchenglocken zum Schluss läuteten, war ich jedenfalls total am Ende. Womit hatte ich solch einen cinephilen Wunsch- bzw. Alptraum verdient?
"Urban Explorer" (Andy Fetscher) ★★★★
Eigentlich müsste ich den Münchner Regisseur Andy Fetscher in den höchsten Tönen loben. Machte er es doch im selben Festival einem Tim Fehlbaum vor, wie man trotz ausgelutschter Genrevorgabe einen eigenständigen Horrorfilm zaubert, der nicht ständig an zu nahe oder zu große Vorbilder erinnert. Fetscher ist ein neuartiger Berlin-Film geglückt, der uns die totgefilmte Hauptstadt aus doppelt anregender Perspektive anders kennenlernen lässt: zum einen aus den Augen von ausländischen, kosmopolitischen Backpackern, die auf ihrer ach so hippen Europareise eine besondere Art von Kick suchen; zum anderen aus dem Inneren der Erde, da die Abenteuerlustigen eine Tour durch die unterirdischen Gänge, Bunker und Abwasserkanäle der Stadt gebucht haben. So wirft Regisseur Fetscher gleich noch mal einen ganz anderen, in Partylaune doch mehr oder weniger verdrängten Blick auf Berlin. Und was das für ein Blick ist: ein aufgeregter, positiv nervöser, aufregender, immer interessierter, in allen Belangen auf internationaler Klasse mitspielender Psychoblick. Aber würde ich nur das loben, würde ich deutlich die wahre Stärke und den heimlichen Hauptdarsteller und Helden der Geschichte unterschlagen. Er heißt Klaus Stiglmeier, ist seit Mitte der 1980er-Jahre im Geschäft und meistens nur das verrückte Gesicht hinten rechts oder der Spaßvogel vorne links gewesen. Man kennt ihn vielleicht aus der bayerischen Comedy-Sendung "Kanal Fatal", hat ihn bestimmt schon mal irgendwo mitspielen gesehen. Aber es sollte 26 Jahre dauern, bis er nach Siggi Götz' "Die Einsteiger" wieder eine tragende Rolle in einem Horrorfilm spielen konnte. Und bei Gott, genießt er dieses Comeback. Klaus Stiglmeier ist mindestens der Dieter Laser ("The Human Centipede") des diesjährigen Fantasy Filmfest. Tatsächlich hat er sich hier aber mit hingebungsvoller Akribie eine eigene Kategorie geschaffen, an der sich deutsche Charakterdarsteller in absoluten Wahnsinnsrollen in den nächsten Jahrzehnten abarbeiten dürften. Auszuformulieren, was Stiglmeiers Auftritt so groß macht, würde die Luft aus dem Film lassen. Und so schweige ich, tease nur und zitiere FrightFest-Maestro Alan Jones: "THE DESCENT meets CREEP in a nightmare as epic as the stunning subterranean locations."
Du willst das düstere britische Meisterwerk "Kill List" noch sehen? Dann lies bloß nicht weiter! Verschließe sofort deine Ohren, wenn jemand aus deinem Umfeld davon schwärmen sollte, verschließe deine Augen, wenn Kritiken oder Trailer auftauchen! Du würdest dir ansonsten eine der erinnerungswürdigsten Filmerfahrungen des Kinojahres versauen. Umso weniger du weißt, umso besser. Ich wusste praktisch nichts - und wurde förmlich weggeblasen. "Kill List" war der Geheimtipp des South By Southwest-Festival, das sich neben Sundance immer mehr zur elementaren Frühjahrs-Startrampe von Genreperlen entwickelt. Die Horrorexperten Scott Weinberg, Drew McWeeny und Alan Jones waren begeistert, die IFC Midnight-Schiene hatte wieder mal zugeschlagen, und die britische Zensurbehörde spielte verrückt - mehr brauchte es für mich nicht.
"Kill List" ist ein abartiger Genrebastard, der immer genau dann seine Richtung zu ändern scheint, wenn man ihn gerade verstanden zu haben glaubt. Der Film beginnt als klassisches Kitchen Sink-Drama, wie es Mike Leigh und Ken Loach in Großbritannien zu einer Marke und zu einem Makel gemacht haben. Ein arbeitsloser Mann, der seiner Frau und seinem jungen Sohn auf der Tasche liegt, weil er nichts mit sich anzufangen weiß. Soweit es die stark im lokalen Dialekt gesprochenen Dialogfetzen zulassen, muss er früher wohl Soldat gewesen sein, der auf eine neue Anstellung wartet. Einmal brät er sich einen von der Katze erlegten Hasen, den er wegen des Ekels der Ehefrau nur allein im Garten verzehren darf. Ein anderes Mal stößt ihn sein Sohnemann beim Rasieren an. Er schneidet sich und fühlt sich dabei erinnert. Bei einem Abendessen mit Freunden eskaliert dann die Situation. Die Emotionen schlagen hoch. Der Freund schreitet ein. Er hat einen neuen, mysteriösen Job an der Angel. Und so kippt "Kill List" das erste Mal in eine völlig andere Richtung. Aus dem Familiendrama wird ein waschechter britischer Gangsterfilm. Und jeder, der sich in der Gangsterfilm-Geschichte etwas auskennt, weiß, dass die Engländer in den 1970er-Jahren die besten gemacht haben. Gelegentlich scheint das heute noch in neueren Produktionen wie "Gangster No. 1" oder "Sexy Beast" durch. Schlimm wurde es immer, wenn die Briten nicht an die eigene Historie, sondern an Quentin Tarantino anknüpfen wollten (Guy Ritchie, Matthew Vaughn). Aber was "Kill List" dann auffährt, erinnert nicht nur an die Klassiker "Get Carter", "Callan", "Sitting Target" oder "The Squeeze", sondern findet seine eigene Stimme. Es wird sehr existenzialistisch und düster - als ob die Gangster mit Knarre und Hammer die eigenen inneren Dämonen jagen würden. Darin steckt bereits die nächste Genrewendung, wenn der Gangsterfilm zum Selbstjustiz-Thriller morpht. Den intensiven, süchtig machenden Darstellern Neil Maskell und Mike Smiley ist es zu verdanken, dass daraus zu keinem Moment eine blasse Kopie von "Reservoir Dogs" oder "Pulp Fiction" wird, was innerhalb der Grenzen dieser Genres einer wahren Kunst gleichkommt. Wenn, dann erinnern Wheatleys Gangster eher an die deprimierende Brutalität und Hilflosigkeit eines Richard Burton in "Villain". Aber das Blatt wendet sich noch einmal - übrigens wieder in Richtung eines Subgenre, das die Briten in den 1970er-Jahren beherrschten und antrieben. Und als die Kirchenglocken zum Schluss läuteten, war ich jedenfalls total am Ende. Womit hatte ich solch einen cinephilen Wunsch- bzw. Alptraum verdient?
"Urban Explorer" (Andy Fetscher) ★★★★
Eigentlich müsste ich den Münchner Regisseur Andy Fetscher in den höchsten Tönen loben. Machte er es doch im selben Festival einem Tim Fehlbaum vor, wie man trotz ausgelutschter Genrevorgabe einen eigenständigen Horrorfilm zaubert, der nicht ständig an zu nahe oder zu große Vorbilder erinnert. Fetscher ist ein neuartiger Berlin-Film geglückt, der uns die totgefilmte Hauptstadt aus doppelt anregender Perspektive anders kennenlernen lässt: zum einen aus den Augen von ausländischen, kosmopolitischen Backpackern, die auf ihrer ach so hippen Europareise eine besondere Art von Kick suchen; zum anderen aus dem Inneren der Erde, da die Abenteuerlustigen eine Tour durch die unterirdischen Gänge, Bunker und Abwasserkanäle der Stadt gebucht haben. So wirft Regisseur Fetscher gleich noch mal einen ganz anderen, in Partylaune doch mehr oder weniger verdrängten Blick auf Berlin. Und was das für ein Blick ist: ein aufgeregter, positiv nervöser, aufregender, immer interessierter, in allen Belangen auf internationaler Klasse mitspielender Psychoblick. Aber würde ich nur das loben, würde ich deutlich die wahre Stärke und den heimlichen Hauptdarsteller und Helden der Geschichte unterschlagen. Er heißt Klaus Stiglmeier, ist seit Mitte der 1980er-Jahre im Geschäft und meistens nur das verrückte Gesicht hinten rechts oder der Spaßvogel vorne links gewesen. Man kennt ihn vielleicht aus der bayerischen Comedy-Sendung "Kanal Fatal", hat ihn bestimmt schon mal irgendwo mitspielen gesehen. Aber es sollte 26 Jahre dauern, bis er nach Siggi Götz' "Die Einsteiger" wieder eine tragende Rolle in einem Horrorfilm spielen konnte. Und bei Gott, genießt er dieses Comeback. Klaus Stiglmeier ist mindestens der Dieter Laser ("The Human Centipede") des diesjährigen Fantasy Filmfest. Tatsächlich hat er sich hier aber mit hingebungsvoller Akribie eine eigene Kategorie geschaffen, an der sich deutsche Charakterdarsteller in absoluten Wahnsinnsrollen in den nächsten Jahrzehnten abarbeiten dürften. Auszuformulieren, was Stiglmeiers Auftritt so groß macht, würde die Luft aus dem Film lassen. Und so schweige ich, tease nur und zitiere FrightFest-Maestro Alan Jones: "THE DESCENT meets CREEP in a nightmare as epic as the stunning subterranean locations."
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dertobi75,
Donnerstag, 1. September 2011, 14:05
Kill List
Mein Problem an Kill List war der von Dir schon angesprochene lokale Dialekt, der es für mich um einiges schwerer gemacht hat, den Film zu verstehen. Das hat für mich den Film leider ziemlich kaputt gemacht, ...
Was hatte die Freundin von Jay mit der ganzen Sache zu tun? Konnte man das ansatzweise aus irgendwelchen Dialogen herausbekommen?!
Urban Explorer habe ich gegen den Mainstream in diesem Jahr "getauscht" ;)
Was hatte die Freundin von Jay mit der ganzen Sache zu tun? Konnte man das ansatzweise aus irgendwelchen Dialogen herausbekommen?!
Urban Explorer habe ich gegen den Mainstream in diesem Jahr "getauscht" ;)
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schwanenmeister,
Samstag, 3. September 2011, 02:30
Hi Tobi,
wieso? Dann hättest du doch gleich einen guten Grund, dieses Meisterwerk ein zweites Mal mit Untertiteln oder Synchro zu schauen. ;) Du meinst die ehemalige schwedische Elitesoldatin? In meiner bisherigen oberflächlichen Lesart - ohne subtextuell an die Sache heranzugehen - war sie einfach nur ein leidliches Opfer auf dem Weg, ein neues Mitglied in den Kreis dieser okkulten Sekte einzuführen.
wieso? Dann hättest du doch gleich einen guten Grund, dieses Meisterwerk ein zweites Mal mit Untertiteln oder Synchro zu schauen. ;) Du meinst die ehemalige schwedische Elitesoldatin? In meiner bisherigen oberflächlichen Lesart - ohne subtextuell an die Sache heranzugehen - war sie einfach nur ein leidliches Opfer auf dem Weg, ein neues Mitglied in den Kreis dieser okkulten Sekte einzuführen.
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