Sonntag, 7. August 2011
Buchtipp des Jahres: "Schriften zum Kino"
Unter dem allgemeinen Filmfan sind Namen deutscher Filmkritiker nicht sonderlich weit verbreitet. Man kennt Roger Ebert, hat vielleicht von Pauline Kael schon mal gelesen. Als richtiger Kritiker-Experte glaubt sich bereits der ausweisen zu können, der gar Siegfried Kracauer und Lotte Eisner kennt. Ein gewaltiger Trugschluss. Denn das sind gerade mal die kleinsten gemeinsamen Nenner, auf die sich die Fachwelt bereits vor Jahrzehnten verständigt hat. Wer behauptet, deutsche Kritiker zu kennen, muss Karsten Witte lieben. Die Tragik ist, dass fast Niemand Witte kennt. Filmwissenschaftsstudenten können etwas mit seinem Namen anfangen. Er hat eines der Standardwerke über die Komödie im Dritten Reich, "Lachende Erben", geschrieben. Man findet ihn an prominenter Stelle in der "Geschichte des deutschen Films" wieder. Und trotzdem habe ich das Gefühl, Witte fehle unter den Cineasten die breite Basis an Verehrern.

Ein Schicksal, das nicht wenige deutsche Kritiker-Koryphäen mit ihm teilen. Wo bleiben die Hans Schifferle-, Eric Rentschler- und Tim Bergfelder-Schreine? Wann wird der erste Michael Althen-Preis gestiftet? Karsten Witte war vor allem in den 1970er und 1980er-Jahren in der Frankfurter Rundschau eine Kapazität auf dem Gebiet der Filmkritik. Seine größte Stärke war wohl, dass er die Vorzüge eines Tageskritikers mit denen eines Filmwissenschaftlers und eines nicht unbedeutenden Literaten vereinen konnte. Sein größte Schwäche war die eines jeden deutschen Kritikers der letzten Jahrzehnte: er war kein Lautsprecher und Showman. Bunter Krawall und massentaugliche Konfrontation waren nicht seine Sache. Dafür waren seine Texte zu Peter Pewas oder Helmut Käutner - auch nicht gerade Regienamen, mit denen man zahlreiche Leser hinter dem Ofen vorlocken konnte - von einer unvergleichlichen epischen und sublimen Qualität.

Im Vorwerk 8-Verlag erschien dieses Jahr eine große Aufsatzsammlung Wittes (502 S.). Und sie ist sehr lesenswert geworden. Bis dato war Witte für mich nur ein Spezialist für das Dritte Reich gewesen. Nach einem kleinen Hinweis in der letzten epd-Film-Ausgabe auf dieses Werk ist er zum bedeutenden Allrounder aufgestiegen. Er schreibt über den Neuen Deutschen Film wie über Hollywood. Er schwärmt von Marcel Ophüls' "Hotel Terminus" genauso wie vom westafrikanischen Kino. Es ist wohl das beste Filmbuch, das ich dieses Jahr bislang gelesen habe.

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habe das erste dritte durch und bin begeistert von diesem karsten witte (eine schande, dass er nicht bekannter ist/war)!!
Na ja, vielleicht liegt es auch nur an meinem blinden Fleck für deutsche Filme. ;-)
Schön zu lesen wie er sich für Pewas einsetzt und seine Begeisterung für Wolfgang Staudle meine ich auch erkannt zu haben. Alexander Kluge und auch der junge Werner Herzog kommen nicht immer so gut weg. .....meines erachtens.

PS: Ist Siegfried Kracauer eigentlich auch so lesenswert?

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Durch dich angeregt habe ich auch wieder gestöbert: Wer weiß schon, dass Wolfgang Staudte für die kongeniale deutsche Synchro von "Uhrwerk Orange" verantwortlich ist. Das sind auch einfach sehr schöne und kluge Dinge, die Witte über das Kino allgemein sagt, etwa wenn er "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" bespricht und dabei mit dem allzu negativen Stempel 'Literaturverfilmungen' abrechnet. Auch ganz wertvoll der kleinere mittlere Teil über Filmkritik. Da wird es noch viel zu entdecken geben.

Ich finde, Kracauer ist kein so großer Genuss beim Lesen. Aber er ist natürlich der Klassiker schlechthin. "Von Caligari zu Hitler" ist vor allem als zeitnahe Informationsquelle unschlagbar. Da haben dann die verehrten Herren Gregor und Patalas für ihre Filmbibel fleißig abgeschrieben. Und die zahlreichen Epigonen, die ihnen folgen sollten. Und dann ist Kracauer der Vorreiter der subtextuellen Kritik gewesen. In Theodore Roszaks Kultbuch "Flicker" gibt es dazu eine herrlich verquere, spaßbringende Leseweise. Außerdem hat Pauline Kael ganz herrliche Repliken auf Kracauer geschrieben, die man ohne das Original zu kennen, gar nicht verstehen würde. Also von mir thumbs up.

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