Dienstag, 17. Mai 2011
Cannes-Ticker: 17. Mai
"Code Blue" (Urszula Antoniak) ****½

Genre-Biene Todd Brown (Twitch Film) hat den Film "Code Blue" aufgetan, der sich wie ein Companion-Piece zu dem schönen Berlinale-Geheimtipp "Brownian Movement" liest: "It is a shocking picture - often appalling so - delivered in a deliberately cold style." Aufmerksam wurde Brown auf den Film durch eine Zettel-Warnung, die Zuschauer auf die Gefährlichkeit mancher härteren Szenen aufmerksam machte. Auch zwei kurze Ausschnitte machen neugierig. Außerdem spielt der immer blank ziehende Lars Eidinger mit. Scheint ein kleines Genre zu werden: Niederländische Filme über sexuell experimentierfreudige Frauen, in denen deutsche Schauspielhoffnungen eine tragende Rolle spielen. "Code Blue" könnte eine der Perlen des diesjährigen Directors' Fortnight-Programms sein und damit der offizielle Nachfolger des tollen mexikanischen Kannibalenfilms "We Are What We Are" werden. Der Trailer unterstreicht diese Vermutung. Dan Fainaru (Screen Daily) hat mehr Inhalt, der "Code Blue" doch sehr nach Michael Hanekes "Klavierspielerin" klingen lässt: "It is difficult to imagine what kind of audience would willingly submit itself to this kind of cheerless punishment, unfolding on screen at an incredibly slow pace and unflinchingly turning its screws just a little bit more with every passing minute."

"L'Apollonide" (Bertrand Bonello) ****

In leicht abgewandelter Form: Sagte nicht mal jemand, dass Cinema nur dafür erfunden wurde, um zu zeigen, wie wunderschöne Frauen gefährliche Dinge tun: der "L'Apollonide"-Trailer aus dem offiziellen Wettbewerb. Der Tipp geht auf die Eskalierenden Träume zurück. Michael Sennhauser (SRF) schwärmt in den blumigsten Farben vom barocken Edelpuff: "Das ist ein monumentaler Film, der dem Roman 'The Crimson Petal and the White' von Michel Faber in recherchierten Fakten und realistischen Schilderungen in nichts nachsteht." Die Filmkritikerin Marie Sauvion (Le Parisien) fordert sogar die Goldene Palme. Stephanie Zacharek (Movieline) war zumindest für sieben Achtel des Films davon überzeugt, etwas Großem beizuwohnen: "Reminded me how painful it is to be tossed out of a picture just when you thought you were secure in its embrace." Der Film polarisiert. Unter unzähligen Tiefstwertungen findet sich bei IOnCinema auch die Filmkritikerin Isabelle Regnier (Le Monde), die die Höchstwertung zückt. Und der Film wird immer interessanter, umso mehr man liest: Peter Bradshaw (Guardian) findet ihn sogar moralisch verwerflich. Der so unentschlossene wie gefesselte Guy Lodge (InContention) zitiert: "Before the opening credits have begun rolling, Bonello treats us to a line of dialogue even Joe Eszterhas might redlined in a first draft: 'I feel your sperm rise up in me and flow out of my eyes in thick, white tears.'" Und tolles Karina Longworth-Comeback: "Visually ravishing, troublingly seductive, alternately risible and irresistible, L'APOLLONIDE may be the ultimate guilty pleasure."

Role Models: Wie man innerhalb von nicht einmal sechs Minuten eine wundervolle kleine Cannes-Show machen kann, zeigen Peter Bradshaw und Lisa Nesselson der Moderatorin Eve Jackson bei France 24. Wer braucht schon Drogen, wenn er "The Tree of Life" hat?

Sterne zählen: Im Screen Daily-Kritikerchart leuchtet es immer heller. Die Experten geizen nicht mehr mit Höchstwertungen. Mein Liebling Michel Ciment zückt vier Sterne für "The Tree of Life", was auch Dennis Lim so sieht. Nick James ist bisher dagegen noch ohne einen echten Lieblingsfilm im Wettbewerb. Und Jan Schulz-Ojala pusht "The Artist".

Lustlos: Obwohl die altehrwürdigen, eingefleischten Cannes-Auteurs mitunter die besten Kritiken bekommen, was zeitweise wie eine reine Selbstverständlichkeit wirkt, zeige ich wenig Interesse. Das hängt vor allem mit der Tatsache zusammen, dass ich erst einmal eine große Filmografie aufzuholen hätte, bevor ich das neueste Werk richtig einordnen könnte. Die Dardenne-Brüder und ihr "The Kid with a Bike" sowie Aki Kaurismäkis "Le Havre" werden in Watte gepackt und auf Schultern getragen. Und wahrscheinlich wird es Ceylan und von Trier nicht anders ergehen. Mich könnten sie aktuell aber nicht weniger angehen.

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