Dienstag, 7. September 2010
Venedig-Ticker: 7. September
Merke: Um 15.30 Uhr soll der Sergio Corbucci-Panel losgehen. Der Countdown für den gar nicht so sonderlich gewagten filmhistorischen Eingriff läuft. Bin gespannt, wie sehr das Ganze in den kommenden Monaten ausstrahlen wird.

Mein Liebling unter den absoluten Klassikern der deutschen Filmkritik, Michael Althen, taut auf und gerät ins Schwärmen. So ist die FAZ geschmückt von dem inzwischen berüchtigten Bild der Deneuve im rot-gelben Trainingsanzug. Dazu Althens Lob für "Potiche", "Post mortem", "Meek's Cutoff" und "Detective Dee". Vom Tsui Hark-Film schwärmt er in den höchsten Tönen, nämlich, dass das einer der tollsten Abenteuerfilme seit "Indiana Jones" sei.

James Mottram hat die eigenartige Joaquin Phoenix-Mockumentary "I'm Still Here" gesehen. Der bärtige Mumblecore-Auftritt bei David Letterman yadayadayada, wir erinnern uns alle. Jedenfalls schreibt Mottram dann etwas sehr Interessantes über eben jenen Casey Affleck-Film: "Funny, tragic, moving and just jaw-dropping at times, it’s arguably one of the films of the festival so far. Indeed, even if Phoenix’s career is over, Affleck’s has only just begun." Die immer noch daseiende Anne Thompson hat die Hintergründe. Im Biennale-Channel von YouTube kann man doch einige Interviewschnipsel der Pressekonferenz absahnen.

Nicht ganz uninteressant für die Goldene Löwen-Vergabe am Samstag: Jan Schulz-Ojala berichtet vom Überraschungsfilm, dem chinesischen "The Ditch", der von einem kommunistischen Umerziehungslager an der Grenze zur Mongolei handelt. "Man muss sich das etwa so vorstellen, als hätte ein Deutscher nach fünfzig Jahren den ersten Film über Auschwitz gedreht – und die ideologischen Nachfahren Hitlers wären noch immer am Ruder", schreibt der Tagesspiegel-Kritiker und findet, dass nach dieser gewaltigen Detonation von einem Film alle anderen Wettbewerbsbeiträge nur verlieren können. Wirklich toller Text. Der Originaltitel lautet "Le fossé", der Regisseur heißt Wang Bing, den Weltvertrieb hält die französische Firma Wild Bunch.

Kritiker-Enfant terrible Rüdiger Suchsland lästert, wie es nun mal seine Art ist, wieder ausgiebig und anhaltend über seine Kollegen. Ich lese dieses regelmäßige Waschen der schmutzigen Wäsche in der Öffentlichkeit dann immer mit wohlwollendem Abscheu und angeekelter Faszination. Und ein weiteres Geständnis: Wer wissen will, woran amerikanische Highbrow-Kritiker von der Ostküste wirklich denken, wenn sie osteuropäische Filme auf Festivals anschauen, der lese Stephanie Zacharek. Stichwort The Shmenges!

Björn Becher twittert, Tsui Harks Abenteuerspektakel "Detective Dee" (7,6 Pkt.) würde überraschend den internationalen Pressespiegel (wahrscheinlich Screen Daily) anführen. Es folgen "La passione" und "Post mortem" (jeweils 7,5 Pkt.) vor "The Ditch" (7,4 Pkt.). Sein Favorit "Meek's Cutoff" würde mit einem Punkteschnitt von 6,0 abgeschlagen zurückliegen.

Gekauft: Der "Attenberg"-Trailer ist bei Twitch Film online gegangen. "Dogtooth" ist immer noch mein Lieblingsfilm des Jahres. "Attenberg" sieht auch sehr stark aus. David Jenkins twittert: "Another dark, Greek missive from the DOGTOOTH kennel. Less conceptually surefooted, but still eccentric fun." Wirtschaftskrisen sind eben sehr gut für die Filmkultur.

Fundstücke: Bin durch den italienischen Blog ZorroBiennale auf eine Filmreihe des Senders Rai Movie aufmerksam geworden, die sich schlicht "Visioni Tarantiniane" nennt. Darin programmiert der Jurypräsident Tarantino pro Festivaltag ein einheimisches Midnight Movie. Die Liste ist von erlesenem Geschmack:
TEPEPA
MILANO KALIBER 9
DIE FARBEN DER NACHT
DREI VATERUNSER FÜR VIER HALUNKEN
SUSPIRIA
DIE ZUM TEUFEL GEHEN
DJANGO
DER KILLER VON WIEN
DER BERSERKER
MINNESOTA CLAY
DAS GEHEIMNIS DES GELBEN GRABES
Spaghetti Western, Polizeifilme, Gialli und sogar ein Macaroni Combat Movie. "Tepepa" und "Das Geheimnis des gelben Grabes" kenne ich noch nicht, hatte ich aber zugegebenermaßen schon länger auf dem Zettel. Somit ist das ein freundlicher Anstoß, auch diese endlich einmal aufzuholen.

Trommelwirbel: Es gibt die allererste Höchstwertung des Time Out London-Filmkritikers David Jenkins, und sie geht an einen echten Dino des Kunstkinos, nämlich Jan Svankmajers "Surviving Life": Fünf Sterne & "That rare beast: a movie about dreams that's surreal, perspicacious and dramatically involving all at once."

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