Mittwoch, 27. Mai 2009
Filmbuch-Tipp: "Hollywood in Cannes"
Hollywood in Cannes: Die Geschichte einer Hassliebe, 1939-2008 (Christian Jungen)

Der Schweizer Autor Christian Jungen ist promovierter Filmwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Filmmarketing. Das bedeutet, er schreibt unter anderem für die Aargauer Zeitung, hockt in Kritikerjurys von Locarno und erhält alljährlich in Cannes ein oranges oder blaues Pressebadge. Das wiederum heißt, er müsse eigentlich gar nicht erst antreten. Denn Kritikerpäpste bekämen weiße Badges, und die bedeutendsten Schweizer, die bei der NZZ oder dem SF arbeiten, rosa Ausweise mit Punkt. Darauf folgen die ganz rosanen für die Tageszeitungen, dann erst die blauen und orangen. Eine äußerst sympathische und ehrliche Selbsteinschätzung, die Christian Jungen nicht davon abgehalten hat, ein ganz wundervoll faktenreiches Buch über die Filmfestspiele von Cannes zu schreiben.

Diesen April im geschätzten Marburger Schüren-Verlag erschienen, der auch die Heimat von Georg Seeßlens viel gelesenen Genre-Bibeln darstellt, wies mich aber erst der miesepetrige bis apokalyptische Wolfgang Höbel-Artikel im Spiegel, "Bibbern in der Wagenburg", darauf hin, als das Werk in einer Fußnote lobend erwähnt wurde. Das waren gleich zwei Überraschungen auf einmal: Höbel fand doch tatsächlich etwas gut, was mit dem nahenden Filmfestival im Zusammenhang stand. Und scheinbar gab es ein brauchbares Filmbuch über Cannes, wovon ich noch nie gehört hatte.
Unfreiwillige Geburtshelfer Mussolini und Goebbels
In sechs Kapiteln untersucht Jungen die titelgebende Hassliebe vom wichtigsten Filmfestival der Welt und dem Träumeproduzenten Nummer eins. Angefangen damit, dass Mussolini und Goebbels die unfreiwilligen Geburtshelfer des französisischen Festivals waren, über ein skandalträchtiges Foto von Robert Mitchum samt Busenwunder, das um die Welt ging, gibt es eine Menge Wissenswertes zu entdecken. Dabei behandeln die einzelnen Kapitel neben den verschiedenen Epochen immer zeitspezifische Themenkomplexe wie das Starsystem, die Autorentheorie, New Hollywood oder High-Concept-Blockbuster. Jungen hat dafür nicht nur fleißig Sekundärliteratur gewälzt, sondern ebenso akribisch die wichtigsten Branchenblätter untersucht und einige der damals einflussreichen Persönlichkeiten interviewt.

Jungens Kunst besteht darin, eine Dissertation in Buchform geschrieben zu haben, der die wahnsinnig schmale Gratwanderung zwischen geschwätziger Erinnerung berühmter Kritiker und furztrockener hochwissenschaftlicher Abhandlung gelingt. Er vereint das Beste aus beiden Welten: Das hohe Unterhaltungslevel durch den Bezug zu den Stars, Regisseuren und Filmklassikern; ein dichtes Netz aus Anekdoten, dem so genannten Insiderwissen, was er elegant zu verknüpfen weiß mit einer scharfsinnigen sowie verständlichen Analyse der wirtschaftlichen Hintergründe, die gleichzeitig noch mal auf pointierte Weise die Filmgeschichte aus einem neuen, spannenden Blickwinkel, nämlich dem des Filmmarketings, durchspielt. Und dies unter der Prämisse, das fruchtbare Verhältnis zwischen dem Cannes-Filmfestival und Hollywood zu untersuchen, ist wirklich anregend. Mein einziger Kritikpunkt wäre die Behandlung von Originalzitaten: Wer nicht fließend italienisch und französisch spricht, ist zumindest für einige Sätze immer mal wieder aufgeschmissen, weil nicht übersetzt wurde, was gerade angesichts des ansonsten wertvollen Fußnotenapparats etwas schade ist.

Links:

- Kenneth Turan im Treatment-Interview mit Elvis Mitchell über sein Buch "Sundance to Sarajevo: Film Festivals and the World They Made"

- Claudia Lenssen spricht im Deutschlandradio Kultur über "Hollywood in Cannes".

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