Dienstag, 12. Mai 2009
Herr Wolfgang Höbel, wie haben sie das gemacht?
Im aktuellen Spiegel soll Wolfgang Höbels giftig geschriebener Artikel „Bibbern in der Wagenburg“ auf das kommende Cannes-Filmfestival einstimmen. Natürlich Pustekuchen. Es ist sein gutes Recht – wenn nicht gar seine Pflicht – auf die Missstände und Fehlentwicklungen in der Filmbranche hinzuweisen, gerade wenn es sich dabei um das prestigeträchtigste Filmfestival der Welt handelt. Aber manche Aussagen sind mir doch übel aufgestoßen, so dass ich nicht umhinkomme, beim Anblick dieser Zeilen an eine beleidigte Leberwurst zu denken, die lieber Werbung für ein Cannes-Buch und eine Ausgabe des Filmmagazins „Schnitt“ macht, als ordentlich den Einpeitscher für den sicherlich spannenden Wettbewerb zu spielen. Und der Filmtitel „Inglourious Basterds“ ist auch noch falsch geschrieben …

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Die Aufreger:

I „So mühen sich die Cineasten in Cannes um den Anschein von Frische – jahrzehntelang hat man dort das Animationsgenre als künstlerisch minderwertig abgesnobbt, bis „Shrek“ 2001 in den Wettbewerb durfte.“ (S. 148)

Ich finde die Aussage extrem unfair. Animationsfilme wurden von allen Seiten eher stiefmütterlich behandelt, bis Pixar am Horizont erschien, diese unglaubliche qualitative und finanzielle Konstanz an den Tag legte, so dass letztlich sogar eine eigene Oscarkategorie geschaffen wurde. Aber wenn man sich für einen Moment auf Höbels Spiel einlassen will, muss folgendes erwähnt werden: Bereits 1941 gewann „Dumbo“ einen Preis in Cannes. 1953 erhielt Walt Disney den Spezialpreis der Jury. Der gleiche Preis ging 1973 an den Zeichentrickfilm „Der fantastische Planet“. 1974 lief „The Nine Lives of Fritz the Cat“ im Wettbewerb. Nicht schlecht für so einen versnobten Haufen. Dagegen lässt sich schnell konstatieren, dass alle Kritiker und Veranwortliche nicht besonders gut wegkommen, wenn es um die künstlerische Anerkennung von gezeichneten oder animierten Trickfilmen geht. Beweis in einem Satz: Der beste aller Trickfilmregisseure, Hayao Miyazaki, gewann erst ganz am Ende seiner ruhmreichen Karriere einen großen nicht-asiatischen Filmpreis auf der Berlinale 2001. Übrigens tauchte der Name Hayao Miyazaki das erste Mal in einem Spiegel-Artikel 1997 auf, der nebenbei gesagt nicht den Hauch eines Versuchs unternahm, die Qualitäten dieses einzigartigen Filmautors zu beleuchten, sondern ihn ausschließlich als Stichwortgeber für die Zustandsbeschreibung der damaligen japanischen Unterhaltungsindustrie missbrauchte. 2001 besprach dann auch der Spiegel innerhalb ganzer drei Sätze das Meisterwerk „Prinzessin Mononoke“ (Alle Achtung!). Und erst Spiegel Online widmete dem Film im gleichen Jahr eine längere Kritik. Wer im Steinhaus sitzt, sollte nicht mit Glasbausteinen schmeißen!

II „Klar werden auch heute noch Autorenfilme gedreht, und sicher eifern ein paar junge Regisseure auch den alten Meistern nach – nur interessiert das kaum noch jemanden.“ (S. 149)

III „Die Zeiten, in denen Filme wie die von Francois Truffaut, Martin Scorsese, Wim Wenders oder Lars von Trier von neugierigen jungen Menschen als avantgardistische Botschaften begriffen und bis ins letzte Detail analysiert wurden, sind vorbei, wohl für immer. Das Autorenkino ist heute ein Nischenprogramm. Es hat als Leitkultur ausgedient.“ (S. 149)

IV „Regelmäßig verschwindet ein Großteil von ihnen fast vollständig in der Versenkung, wenn das Festival vorbei ist. Viele sind nie im regulären Kino zu sehen, sondern allenfalls auf DVD. Natürlich gab es immer schon künstlerisch wertvolle Filme, die das große Publikum verschmähte, darunter Cannes-Sieger wie Luis Bunuels „Viridiana“, Andrzej Wajdas „Der Mann aus Eisen“ oder Abbas Kiarostamis „Der Geschmack der Kirsche“. Aber es gab eben auch Martin Scorsese „Taxi Driver“, Volker Schlöndorffs „Die Blechtrommel“ und Tarantinos „Pulp Fiction“.“ (S. 149)

Die Leitkulturtragfähigkeit aktueller Autorenfilme zu messen, scheint mir unmöglich zu sein, da ist schwer gegen Höbels subjektives Empfinden zu argumentieren. Die einzigen harten Fakten die er dafür aufbringt, seine Beweisführung, dass Autorenfilme früher einmal wichtiger waren und ernster genommen wurden, sind die Zuschauererfolge „Taxi Driver“, „Die Blechtrommel“ und „Pulp Fiction“. Erst einmal ist es dabei bezeichnend, dass er Filme von Mitte und Ende der 1970er-Jahre sowie den Vorzeigeerfolg aus den 1990er-Jahren ausgewählt hat. Von welchem Zeitraum spricht er da überhaupt: Von 1946 bis 1999? Von den Siebziger Jahren plus Tarantino? Wenn er denn auch von den Siebzigern gesprochen hat, sei auf folgendes hingewiesen: 1972 gewann in Cannes der Film „Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies“. Herr Höbel, wieviele Zuschauer hatte denn damals dieser Film? Oder wie wäre es mit „The Hireling“ von 1973? Kennen Sie noch den Regisseur Alan Bridge? Wie war es 1975 mit dem 177 minütigen algerischen Film „Chronicle of the Year of the Fire“, der die Goldene Palme gewann? War das die Zeit, von der Sie sprachen? Als zum Beispiel „Der Holzschuhbaum“ 1978 alle Mitkonkurrenten ausstach und überraschend Sieger wurde?

Sicherlich war „Taxi Driver“ damals ein großer künstlerischer Erfolg, ist einer der besten Filme aller Zeiten, keine Filmliste kommt ohne ihn aus. Aber wissen Sie, wieviele Dollar er damals am amerikanischen Box-Office eingespielt hat? Richtig, laut der imdb nur ganze 21 Mio. Dollar. Ich weiß, die Inflation. Trotzdem! Wissen Sie denn auch, dass 2002 Roman Polanskis „Der Pianist“ in Cannes gewann, ein Film, der um die Welt ging, begeisterte, mehrfach oscarausgezeichnet wurde und insgesamt über 120 Mio. Dollar einspielte? War Ihnen das noch bewusst? Oder dass der Gewinner von 2004, „Fahrenheit 9/11“, weit über 200 Mio. Dollar weltweit einspielte? Eine Dokumentation – unglaublich, oder?

Und wissen Sie, dass die Sissi-Filme mit Romy Schneider im Cannes-Wettbewerb liefen? Ich wusste das nicht. Dank Ihnen habe ich das herausgefunden. Und dass die ersten fünf Minuten eines jeden Wettbewerbfilms auf der Festival-Website gezeigt werden, das wusste ich auch noch nicht. Vielen Dank!

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