Dienstag, 19. Juli 2016
Das beste Filmmagazin SigiGötz-Entertainment veröffentlicht Ausgabe #28

© SigiGötz-Entertainment
Weder eine drohende Abmahnung, noch ein Auftragsstau in der Druckerei konnte Ausgabe Nummer 28 aufhalten. Was ist darin zu finden? Die Autorenliste ist erlesen, die Themen sind vielfältig:

- Ein Sixties-Sittenbild über die Zusammenarbeit von Johann Mario Simmel und Robert Siodmak (Christoph Huber)

- Eine Analyse des Porträtfilms THAT MAN: PETER BERLIN (Rainer Knepperges)

- Ein Bericht über das mehrteilige Komödienprojekt des Berliner Zeughauskinos mit dem Titel "Lachende Erben" (Viktor Rotthaler)

- Eine Spurensuche in Bochum, dem Zentrum des deutschen psychotronischen Films (Ulrich Mannes)

- Fünfzehn neue Glamour-People, aufgeteilt in ein Girls-Tentett und ein Boys-Quintett (Hans Schifferle)

- Dazwischen ein Mini-Porträt von Hannelore Auer und ein Nachruf auf Margit Geissler (Stefan Ertl)

- Ein weiterer Nachruf auf dem Kameramann Atze Glanert (Sadi Kantürk)

- Ferner ein Gedenkblatt zu Henry van Lyck und unsere Wall of Compassion.

Link: - Neue SGE bestellen, - SGE-Blog, - SGE-Empfehlung

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Montag, 4. Juli 2016
Blue Angel Cafe: New-Beverly-Programm im Juli 2016

Screenshot "Vier Fäuste für ein Halleluja"-Trailer
Der Name der monatlichen Kolumne „Blue Angel Cafe“ geht auf das gleichnamige Joe-D’Amato-Meisterwerk aus dem Jahr 1989 zurück. Der Filmkritiker Lukas Foerster beschrieb es auf dem 15. Hofbauer-Kongress Anfang des Jahres folgendermaßen: Wenn Douglas Sirk ein Remake von Josef von Sternbergs Klassiker „Der blaue Engel“ in New Orleans ohne Budget gedreht hätte, wäre das trotzdem nicht halb so großartig gelungen wie D’Amatos „Blue Angel Cafe“.
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In der Kolumne blicke ich auf das aktuelle Programm des New Beverly Cinema, das bekanntlich die Abspielstation von Quentin Tarantinos Wunsch- und Programmierungsträumen ist. Als Inhaber hat der US-Regisseur Hausrecht. Wenn der Ober-Cineast durch anderweitige Verpflichtungen abgelenkt ist, läuft das Programm auch schon mal auf Autopilot oder die Mitarbeiter schmuggeln diverse Double-Feature-Vorstellungen ein. Ich habe mich zu festen Kategorien entschlossen, nach denen ich das Monatsprogramm für mich aufschlüsseln will.


Thema: Das Thema des Monats ist das Fehlen einer würdigen Bud-Spencer-Retrospektive. Dafür war wohl leider keine Zeit mehr. Wohl auch, weil sich Tarantino schon in den Reisevorbereitungen für seinen Besuch auf dem Jerusalemer Filmfestival befindet, wo er für seinen Beitrag zum Weltkino ausgezeichnet wird. Ab dem 7. Juli wird er dann von der edlen Festivalleiterin Noa Regev hofiert werden, am zweiten Tag des Festivals gar Teil eines karriereumspannenden Interviews sein. Da mein aktueller Fokus stärker auf Israel liegt, werde ich das wiederum genauestens beobachten.

Hätte Tarantino programmiert, hätte er wahrscheinlich zu Ehren Bud Spencers den Italowestern „Vier für ein Ave Maria“ gezeigt, der schon unter seinen 50 Lieblingsfortsetzungen der Filmgeschichte zu finden war (nachzulesen in der legendären Video-Watchdog-Ausgabe #172). Er hätte sich wahrscheinlich von den ganz populären Entscheidungen gedrückt (wie der „Django Unchained“-Reminiszenz für „Die rechte und die linke Hand des Teufels“). Und weil ich ihn noch nicht gesehen habe und gerade jetzt große Lust auf ihn hätte, glaube ich, dass Tarantino Dario Argentos Giallo „Vier Fliegen auf grauem Samt“ gewählt hätte. Und weil es einer meiner liebsten Bud-Spencer- und Terence-Hill-Filme ist, mische ich noch „Gott vergibt, Django nie" unter, da mich der in meinen jungen Jahren extrem verstört hat. Der ist genau das richtige Gegenmittel, wenn man eigentlich vor hat, sein ganzes Leben nur Komödien-Western zu sehen und plötzlich merkt, dass es da noch eine ganz andere Welt gibt.

Entdeckungen: Ansonsten ist das ein eher dürftiges, urlaubsreifes Auto-Programm mit dicken Fingerabdrücken der Mitarbeiterschaft, das da das New Beverly im Juli aufgelegt hat. Entdeckungen sucht man mit der Lupe. Wenn man will, könnte man Interesse für den mir nicht bekannten Disney-Film „Dr. Syn, Alias the Scarecrow“ zeigen, der immerhin tolle Poster zu bieten hat. Der erscheint mir jedenfalls die deutlich spannendere Hälfte der Doppelvorstellung mit „Sleepy Hollow“ zu sein. Und wenn ich denn eine Women-in-Prison-Phase hätte, würden mich die beiden Filme „Im Keller des Grauens“ (1986) und „Revolte im Frauengefängnis“ (1974) begeistern. Aber ich schaue ja auch nicht "Orange Is the New Black".

Überraschungen: Da es in jedem Jahr vielleicht nur zwei, ja höchstens drei Hollywood-Blockbuster gibt, die dem ewigen Sommer-Werbezirkus einen guten Ruf verleihen, ist es doch lohnend zu erwähnen, dass Tarantino offenbar auch den tollen Sci-Fi-Actioner „Edge of Tomorrow“ schätzt.

QT-Klassiker: Von seinem Kumpel Til Schweiger zeigt Tarantino wiedermal „Knockin' on Heaven’s Door“. Dieses Mal läuft der in der teutonischen Doppelvorstellung mit „Das Leben der Anderen“. Was mich an diesem Monat aber insgesamt am meisten interessiert: Tarantino hat ja Regisseure, die quasi nur er schätzt und anbetet. Er hat sich da seinen eigenen kleinen Kanon aufgebaut. Gemeint sind Regisseure wie William Witney oder eben Andrew L. Stone. Von letzterem hatte er sogar mal die Komödie „Hi Diddle Diddle“ unter seinen zehn absoluten Lieblingsfilmen. Wer also mal mit Stone weitermachen will, dem seien die Screwball Comedy „The Bachelor’s Daughters“ (1946) und die Film noirs „Steel Trap“ und „Highway 301“ angeraten. Witney wie Stone sind mindestens eine Entdeckung wert. In Zeiten des Internets hat man heutzutage ja sogar die Möglichkeiten, diese größten Obskuritäten aufzutreiben.

Surf-Tipp: Das New Beverly hat sich optisch aufgehübscht. Macht schon was her, die neue Website, vor allem weil es jetzt auch eine News-Abteilung und ein Forum gibt.

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Dienstag, 31. Mai 2016
Blue Angel Cafe: New-Beverly-Programm im Juni 2016

Screenshot "Der Henker von London"
Der Name der monatlichen Kolumne „Blue Angel Cafe“ geht auf das gleichnamige Joe-D’Amato-Meisterwerk aus dem Jahr 1989 zurück. Der Filmkritiker Lukas Foerster beschrieb es auf dem 15. Hofbauer-Kongress Anfang des Jahres folgendermaßen: Wenn Douglas Sirk ein Remake von Josef von Sternbergs Klassiker „Der blaue Engel“ in New Orleans ohne Budget gedreht hätte, wäre das trotzdem nicht halb so großartig gelungen wie D’Amatos „Blue Angel Cafe“.
In der Kolumne blicke ich auf das aktuelle Programm des New Beverly Cinema, das bekanntlich die Abspielstation von Quentin Tarantinos Wunsch- und Programmierungsträumen ist. Als Inhaber hat der US-Regisseur Hausrecht. Wenn der Ober-Cineast durch anderweitige Verpflichtungen abgelenkt ist, läuft das Programm auch schon mal auf Autopilot oder die Mitarbeiter schmuggeln diverse Double-Feature-Vorstellungen ein. Ich habe mich zu festen Kategorien entschlossen, nach denen ich das Monatsprogramm für mich aufschlüsseln will.


Thema: Im Juni zelebriert Tarantino Musikgeschichte. Jede Woche läuft mindestens ein Konzertfilm. Santana, The Grateful Dead, Jimi Hendrix, The Who, Prince, James Brown, The Rolling Stones und Elvis Presley geben sich die Klinke in die Hand. Konzertfilme sind jetzt nicht wirklich meins, auch wenn ich zum Beispiel den gezeigten “Woodstock” kenne. Ich gebe sofort zu: Selbst wenn ich in Los Angeles wohnen würde, lockten mich diese Film nicht hinter dem Ofen vor.

Entdeckungen: Mein Krautploitation-Herz entflammte aber lichterloh, als ich in Quentin Tarantinos Monatsprogramm die Titel „The Mad Executioners“ und „The Monster of London City“ las. Dahinter verstecken sich nämlich zwei deutsche Edgar-Wallace-Krimis mit Hansjörg Felmy. Genauer genommen sind es zwei Bryan-Edgar-Wallace-Krimis.

Der raffinierte deutsche Filmproduzent Artur Brauner kaufte in den 1960er-Jahren kurzerhand einfach die Filmrechte an den Büchern des nur mild begabten Sohnes von Edgar Wallace auf. Er verpackte seine Filme in der Werbung, den Trailern und den ähnlichen Besetzungen und Inszenierungen so gut, dass er mit seinen Produktionen auf die Erfolgswelle der echten Edgar-Wallace Krimis aufspringen konnte. Teilweise konnten die Regisseure, die an den Ripoffs beteiligt waren, kreativer, visueller und experimenteller arbeiten (z. B. bei den Spaghetti Krimis von Argento, Lenzi, Franco oder Crispino). Was Tarantinos Auswahl besonders spannend macht: Berüchtigt ist zwar Quentins Kino-Zwischenruf bei der deutschen „Kill Bill“-Premiere, bei dem er den Edgar-Wallace-Regisseur Alfred Vohrer ein Genie nannte. Ansonsten ist aber weniger bekannt, welche Wallace-Krimis Tarantino gesehen hat und schätzt.

Was die Programmierung für mich auch stark aufwertet, ist, dass ich den Regisseur beider Krimis noch nie gehört habe. Er heißt Edwin Zbonek, ist Österreicher, leitete auch einige Zeit die Viennale in den 1970er-Jahren, aber seine Regiekarriere war doch recht kurz. Ich habe mir jetzt jedenfalls „Der Henker von London“ (1963) und „Das Ungeheuer von London-City“ (1964), die bestimmt back-to-back gedreht wurden, in mein Buch geschrieben. Auch, weil ich vor einiger Zeit dank Bastian Pastewka eine Paul-Temple-Hörspiel-Phase hatte und die Trailer beider Bryan-Edgar-Wallace-Krimis verdammt daran erinnern.

Überraschungen: Nicht so sehr überrascht, wenn auch freudig zur Kenntnis genommen habe ich die Doppelvorstellungen zu Sergio Corbucci und Robert Siodmak. Vom Italowestern-Meister zeigt Tarantino den Sandalenfilm „Duell der Titanen“ von 1961 mit Muckimann Steve Reeves und den Mantel- und Degenfilm „Der Mann mit der goldenen Klinge“ (1966). Im Robert Siodmak Noir laufen „Phantom Lady“ und „The Suspect“. Beiden stammen aus dem Kriegsjahr 1944. An ersteren habe ich verschwommene Erinnerungen dank meiner allerersten Film-noir-Phase. Auf beide Siodmak-Filme hätte ich jetzt große Lust, gerade wenn es sie irgendwo in guter Qualität zu sehen gäbe.
Bizarr ist Tarantinos Wahl bei seinem James-Coburn-Double-Feature. Er zeigt „Das Carey Komplott“, einen Blake-Edwards-Film aus dem Jahre 1972, der auf einem Michael-Crichton-Roman basiert (nie davon gehört) und den 1967er-Western „Waterhole #3“.

QT-Klassiker: Das New Beverly Cinema ehrt Alain Delon und Henry Verneuil mit der Doppelvorstellung „Lautlos wie die Nacht“ (1963) und „Der Clan der Sizilianer“. Ersterer wurde vor vielen Jahren auf Arte rauf und runter gespielt, zweiterer besitzt einen der schönsten Ennio-Morricone-Scores. Und mein Kinderherz hüpft höher, wenn ich die Matinee-Vorstellungen für den Juni sehe: Da laufen sage und schreibe die fantastische Tom-Hanks-Komödie „Big“, der Ghibli-Klassiker „Mein Nachbar Totoro“, „Die Braut des Prinzen“ und ein Snoopy-Cartoon auf Spielfilmlänge. Da können Eltern ihren Kinder für das ganze Leben eine Freude machen und sie gleich an einen erlesenen Filmgeschmack heranführen.

Links: - Edgar-Wallace-Krimis, - Alfred Vohrer, - New Beverly

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Dienstag, 10. Mai 2016
Cannes-Ticker 2016

Screenshot aus Bruno Dumonts "Slack Bay"-Trailer
Absteigend aufgelistet sind hier die Cannes-Filme 2016 aus allen Wettbewerben, die mich persönlich am meisten interessieren. Die eigene Vorfreude wie auch das Kritiker-Feedback vor Ort sorgen für die Abstufungen, die ich mit Sternen von fünf bis zwei kenntlich mache. Der Ticker wird mehrmals täglich upgedatet:

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Zuammenfassung: Das Festival startete furios: Die deutsche Komödie "Toni Erdmann" von Maren Ade sorgte für internationale Begeisterungsstürme und Punkterekorde in den Kritikerspiegeln. Dann kam aber nicht mehr viel. Alteingesessene Meister und Dauergäste in Cannes lieferten der Presse nach eher schwächere Werke ab. Das schafften sie mit solch einer Konstanz, dass man sich nach den ersten Tagen fragte, ob überhaupt noch Filme gezeigt würden. Da war schon eine Nachricht wie Carla Juris Besetzung in "Blade Runner 2" als perfekt passende Daryl-Hannah-Erbin aufregender als der Rest. Einzig der von mir verehrte Paul Verhoeven schaffte am letzten Programmtag ein echtes Comeback mit seinem Isabbele-Huppert-Film "Elle".
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Most-Wanted 2016:

01. Toni Erdmann - Maren Ade
02. Elle - Paul Verhoeven
03. Raw - Julia Ducournau
04. La mort de Louis XIV - Albert Serra
05. Personal Shopper - Olivier Assayas
06. Paterson - Jim Jarmusch
07. Staying Vertical - Alain Guiraudie
08. Slack Bay - Bruno Dumont
09. The Red Turtle - Michael Dudok de Wit
10. Neruda - Pablo Larraín

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★★★★★

"Toni Erdmann" (Maren Ade): "Was hoping this would be wonderful, but it exceeded expectations x1000. Simply, a great, great, great movie." (David Jenkins, Little White Lies) "Goddamn did I love this. Funny, pained father-daughter story about how you inevitably hurt the people you love. Also, pranks." (Alison Willmore, BuzzFeed) "Just everything: funny, touching, poignant. Impeccable narrative storytelling. The first masterpiece of #Cannes2016. [A]" (Jordan Cronk, Cinemascope) "I've never heard a louder Cannes ovation mid-film than Sandra Hüller deservedly just got for an enforced karaoke moment. What an actress." (Tim Robey, Daily Telegraph) "Tender, unpredictable father-daughter reunion comedy-drama. Delicious - after Loach, another vote for the Human Factor. Very funny, mischievous and... When did you last get a feel good moment in a German art movie? Sandra Huller singing Whitney..." (Jonathan Romney, Screen Daily) "Perfect timing, change of emotions, highly relatable to everybody and super German at the same time. Hüller is amazing." (Beatrice Behn, Kinozeit) "Schaut euch Toni Erdmann an, wenn er am 14.07.2016 in die deutschen Kinos kommt. Ende der Ansage." (Jenny Jecke, Moviepilot) "Unafraid to go big, equally unafraid to acknowledge that grand gestures aren't magical cure-alls. Whitney Schnuck! [82]" (Mike D'Angelo, TimeOut) "Tragikomisches Meisterstück." (Michael Sennhauser, SRF) "German comedy is slight, biting little miracle." (Peter Bradshaw, Guardian) "Lovely comedy-drama about a father-daughter relationship & much more. Great writing, acting; very funny." (Geoff Andrew, Sight & Sound) "TONI ERDMANN is heart-swelling, hysterically funny, wholly unique. The wait was worth it." (Guy Lodge, Variety) "So machte denn Donnerstag die Runde, Thierry Frémaux habe erzählt, ERDMANN sei einer seiner absoluten Lieblingstitel im diesjährigen Lineup." (Thomas Schultze, Blickpunkt:Film)

[Der Trailer sah grauenerregend aus. Aber ich liebe einfach beide bisherigen Maren-Ade-Filme so sehr. Besonders "Der Wald vor lauter Bäumen" halte ich für eine der besten Komödien aller Zeiten. Riesige Freude über das erdbebenartige Echo aus Cannes. Wenn das jemand verdient hat, dann Maren Ade!]

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★★★★½

"Elle" (Paul Verhoeven): "My 2016 Cannes coup de coeur is the last film in competition, Paul Verhoeven's ELLE, a psychological comedy about rape. Amazing." (Boyd van Hoeij, THR) "Has a premise some will find absolutely impassable, but Huppert's character is so very fantastic." (Alison Willmore, BuzzFeed) "Thought I had this pegged as a deliciously perverse ode to embracing one's true nature. Then the ending befuddled me." (Mike D'Angelo, TimeOut) "Eszterhas meets Chabrol in Paul Verhoeven's Elle: horribly incorrect, with glacial anti-clerical satire. An unexpected hit." (Peter Bradshaw, Guardian) "ELLE is a fullsize-verhoeven: moral ambiguity, cold irony, seamless direction. great fun." (Dominik Kamalzadeh, Standard) "Paul Verhoeven's Elle closes #Cannes2016 competition by whisking us down to hell. Delirious, provocative, pitch-black comedy. Huppert superb." (Xan Brooks, Guardian) "Was simultaneously crossing my legs & laughing during Verhoeven's perverse, black as ****, rape comedy gem (!?) ELLE." (Isabel Stevens, Sight & Sound) "Isabelle Huppert might be our best living actor, and ELLE might be Paul Verhoeven's best film. A dangerous wow." (Guy Lodge, Variety) "It's so good to have him back, and the film, a very unusual and provocative portrait of a rape victim, is so elegant, so finely attuned to emotional and sexual nuance." (Todd McCarthy, THR)

"Raw" (Julia Ducournau): "A cleverly written, impressive made and incredibly gory tale of one young woman’s awakening to the pleasures of the flesh – in all senses of the term." (Jordan Mintzer, THR) "Cannibalism meets freshman year self-discovery drama that's gross and great. Bold, bloody debut." (Alison Willmore, BuzzFeed) "A gory piece that is completely original, thrilling and, in a word, impressive." (Benedicte Prot, Cineuropa) "Best neo giallo in a long time." (Damon Wise, Empire) "Suspiria meets Ginger Snap in a muscular yet elegant campus cannibal horror from bright new talent Julia Ducournau." (Catherine Bray, Variety)

[Endlich wieder ein offenbar gelungener Vertreter der Nouvelle Vague Cruellement]

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★★★★

"La mort de Louis XIV" (Albert Serra): "Essentially a death-chamber piece." (Boyd van Hoeij, THR)

"Personal Shopper" (Olivier Assayas): "Cannes gets its first marmite sensation with Olivier Assayas’s uncategorisable – yet undeniably terrifying – drama about a fashion PA trying to exorcise herself of her dead twin." (Peter Bradshaw, Guardian) "Finally a Cannes film to get really excited about! We've all seen dozens of scary ghost movies. This, trust me, is QUITE DIFFERENT." (Jeffrey Wells, HE) "Assayas never plays the same game twice. Part spiderweb, part Chanel sheath, all silken shiver. Stewart kills again. [A-]" (Guy Lodge, Variety)

"Paterson" (Jim Jarmusch): "Jim Jarmusch’s small, perfectly formed Paterson is one of his best. Tender, funny, quite luminously lovely fable on life & art." (Geoff Andrew, Sight & Sound) "I loved Jim Jamusch's PATERSON, and chances are strong that you will, too." (Eric Kohn, indieWIRE) "Jim Jarmusch's PATERSON is a quiet beauty. A shoo-in for the Poem d'Or." (Justin Chang, L.A. Times) "Might be his most existential film, which is saying a lot. Lovely portrait of an artist's sustenance. [73]" (Mike D'Angelo, TimeOut) "A poem in 7 stanzas, repetitions, variations, internal rhymes, endlessly rich, dangerously charming. A-Ha!" (David Jenkins, Little White Lies) "Jarmusch's koan about a bus driver's routine, is a spellbinding lesson in aloneness, and might actually be perfect. I'm floating." (Tim Robey, Daily Telegraph) "PATERSON is droll and lovely: a cool bus driver, a New Jersey town, a book of limpid poem, a quietly moving way with gags. Tonally precise." (Nick James, Sight & Sound) "Jim Jarmusch’s new movie is a quiet delight: the story of a gentle, artistic man and his wife which celebrates small-town life and dreams without patronising." (Peter Bradshaw, Guardian)

"Staying Vertical" (Alain Guiraudie): "Es ist ein intellektueller Bastard, ein verwirrender, herausfordernder 'queerer' Grenzgänger, der gleichermaßen an Bruno Dumont wie an Francois Ozon denken lässt." (Josef Lederle, Filmdienst) "Er bringt seine Fiuren zum Schweben." (Michael Kienzl, Critic.de) "Guiraudie’s touch is sensitive and tender, and makes these moments delicate and beautiful." (David Acacia, ICS) "The Guiraudie of 'Stranger by the Lake' — the cool humanist craftsman — is scarcely in evidence in 'Staying Vertical,' a film that defies common sense in a way that audiences will not take kindly to." (Owen Gleiberman, Variety) "Lightly surrealistic “meditation on” (sorry @sallitt) freedom and responsibility. Singular, windswept. [77]" (Mike D'Angelo, TimeOut) "" gorgeous, unruly beast of a film. Far too wild to take big Cannes2016 prizes." (Xan Brooks, Guardian) "Description made this sound sentimental, but it's a feverishly bizarre movie about men without women that I dug." (Alison Willmore, BuzzFeed) " It's a cryptic tale of erotic longing rich with possible meanings." (Eric Kohn, indieWIRE) "It’s very, very good." (Sophie Monks Kaufman, Little White Lies)

"Slack Bay" (Bruno Dumont): Die Kritiker-Legende Michel Ciment gab im Screen-Daily-Kritikerspiegel die Höchstwertung. Ansonsten gab es ein sehr gemischstes Feedback. Warum sollten meine neuen Lieblinge Dumont und Guiraudie plötzlich auch von einer Mehrheit der Kritikaster geschätzt werden.

"The Red Turtle" (Michael Dudok de Wit): "Quiet a little masterpice." (Eric Kohn, indieWIRE) "Splash meets Cannibal Holocaust meets the Book of Genesis. A marval of artisan craft, but not really my thing." (David Jenkins, TimeOut)

"Neruda" (Pablo Larraín): "So Pablo Larrain has twice slayed in Quinzane with NO and NERUDA, and won big at Berlin with THE CLUB in between. Why no Competition slot?" (Guy Lodge, Variety)

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★★

"Sieranevada" (Cristi Puiu): "Macht Lust auf die nächsten zehn Tage." (Thomas Schultze, Blickpunkt:Film) "Great start with puiu's SIERANEVADA: a rich & desperately funny film about wrong beliefs, anger and a dinner that never starts." (Dominik Kamalzadeh, Standard) "Sieranevada ist durchaus gut genug für eine verdiente Palme. Oder den Jurypreis." (Michael Sennhauser, SRF) "A very long wake as a Romanian family tries and fails to eat dinner. Brilliant and funny." (John Bleasdale, CineVue)

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Donnerstag, 5. Mai 2016
Blue Angel Cafe: New-Beverly-Programm im Mai 2016

„Atemlos vor Angst“ © Paramount Pictures / Universal Pictures
Der Name der monatlichen Kolumne „Blue Angel Cafe“ geht auf das gleichnamige Joe-D’Amato-Meisterwerk aus dem Jahr 1989 zurück. Der Filmkritiker Lukas Foerster beschrieb es auf dem 15. Hofbauer-Kongress Anfang des Jahres folgendermaßen: Wenn Douglas Sirk ein Remake von Josef von Sternbergs Klassiker „Der blaue Engel“ in New Orleans ohne Budget gedreht hätte, wäre das trotzdem nicht halb so großartig gelungen wie D’Amatos „Blue Angel Cafe“.
In der Kolumne blicke ich auf das aktuelle Programm des New Beverly Cinema, das bekanntlich die Abspielstation von Quentin Tarantinos Wunsch- und Programmierungsträumen ist. Als Inhaber hat der US-Regisseur Hausrecht. Wenn der Ober-Cineast durch anderweitige Verpflichtungen abgelenkt ist, läuft das Programm auch schon mal auf Autopilot oder die Mitarbeiter schmuggeln diverse Double-Feature-Vorstellungen ein. Ich habe mich zu festen Kategorien entschlossen, nach denen ich das Monatsprogramm für mich aufschlüsseln will.


Thema: Im Mai feiert das New Beverly Cinema den Regisseur William Friedkin. Zehn seiner Filme werden zu sehen sein. Das Herzstück stellt sicherlich die 4-Track-Mag-Vorführung des Action-Monolithen „Atemlos vor Angst“ an vier aufeinander folgenden Tagen dar. Lust hätte ich sofort auf das Double Feature „Leben und Sterben in L.A.“ und „Anklage Massenmord“. Vor allem letzterer Film, der im Original „Rampage“ heißt und Michael Biehn in der Hauptrolle aufbietet, interessiert mich, weil ich ihn noch nicht kenne. Tarantino zeigt anerkannte Klassiker wie „The French Connection“, verkannte Klassiker wie „Cruising“ und recht aktuelle Ware wie „The Hunted“, „Bug“ und „Killer Joe“. Dazu passt, dass William Friedkin in ein paar Tagen auch die Masterclass in Cannes leitet, wo er Nachwuchsfilmemachern von seiner ewigen Frankreich-Liebe vorschwärmen wird. Eigentlich fehlt in Tarantinos Auswahl nur „Der Exorzist“, den das New Beverly Cinema aber erst vor einiger Zeit rauf und runter gespielt hat und deswegen ausspart. Lohnenswert ist sicherlich auch Friedkins Interview-Film, den er mit Fritz Lang in den 1970er-Jahren gedreht hat. Selten ist Fanliebe kälter beantwortet worden.

Entdeckungen: Tarantinos jugendliche Verehrung der italienischen Erotik-Ikone Laura Antonelli ist bekannt. Schon häufiger hatte er Antonelli-Filme im Programm. Luchino Viscontis allerletztes Werk „Die Unschuld“ sehe ich in diesem Zusammenhang allerdings zum ersten Mal. Der ist vorgemerkt. Auch interessieren mich besonders der Robert-Butler-Ski-Thriller „Schussfahrt in den Tod“ und das mir unbekannte Alistair-Maclean-Double-Feature „Caravan to Vaccares“ und „Fear Is the Key“. Für die ganz Mutigen wartet ein bizarres Bob-Hope-Doppelprogramm („Cancel My Reservation“, „The Cat and the Canary“) und Filme mit den Titeln „Tropical Heat Wave“ und „Panama Sal“. US-Filmhistoriker, vorgetreten!

Überraschungen: Mit 60 Jahren soll ja Schluss sein. Da hat sich Tarantino festgelegt. Weil man dann sein Mojo verschossen hätte. Man sehe es gerade an den Karrieren der richtig großen Regisseure. Immer wieder darauf angesprochen, welche Regisseure er da im Speziellen meine, antwortete Tarantino mit dem Namen Billy Wilder. Eine Unverschämtheit, wenn man dessen Spätwerk kennt. Und siehe da: Welche zwei Filme zeigt Tarantino im Mai-Programm? „Avanti, Avanti“ und „Fedora“. Beides Billy Wilder-Filme, die mich sehr für das Spätwerk des alternden Hollywood-Giganten einnehmen. „Avanti, Avanti“ ist in seiner blutvollen Lebensweisheit wahrscheinlich sogar das Schlüsselwerk zu Wilders Filmografie. Indirekt gibt Tarantino damit selbst zu, dass er eigentlich noch etwas länger drehen könnte. Es muss ja nicht runter bis zu „Buddy, Buddy“ gehen. Diese Erkenntnis gilt besonders für die aktuelle Phase, in der Tarantino den leichten „The Hateful Eight“-Backlash verarbeitet und seine Wunden leckt.

QT-Klassiker: In dieser Kategorie stehen die Filme, die Tarantino immer wieder auf die Agenda setzt, die er quasi mit aller Macht in den Filmkanon durchdrücken will. Kandidaten dafür sind die letzten Ausläufer des William-Witney-Craze aus dem vorherigen Monat. Immer noch laufen die Abenteuer-Episoden von „The Crimson Ghost“ vor den Hauptfilmen. QT-Klassiker wie „Amuck“, „The Blood Spattered Bride“, „Hollywood Man“ oder „Hot Summer in Barefoot County“ geben sich die Klinke in die Hand. Und es hat Stil, dass Tarantino in der Kinder-Matinee am Samstagnachmittag „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ zeigt. Genauso wie man mit einem „Nightmare on Elm Street“-Marathon nichts falsch machen kann. Und Prince wird mit „Purple Rain“ geehrt, weil er gemeinsam mit Elvis Presleys Film „Jailhouse Rock“ gezeigt wird.

Link: - New-Beverly-Programm

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Freitag, 4. März 2016
Tarantino feiert die Liebe, Mastroianni & Senta Berger

Screenshot New Beverly Cinema Homepage März 2016
Der Rauch ist verflogen, das Blut getrocknet und "The Hateful Eight" als spaßbringende Boxoffice-Enttäuschung erst einmal abgehakt. Quentin Tarantinos New Beverly Cinema lässt sich davon nicht beirren und zeigt weiterhin die interessanten Double Feature-Vorstellungen des Über-Cineasten. Kein Wunder - gehört dem Kalifornier doch das schnuckelige Kino in Los Angeles.

Nachdem zwei Monate hindurch Tarantinos eigene Filme bei der Programmierung im Mittelpunkt standen, ist jetzt wieder die kuratierende Meisterhand zu erkennen. Einen verstärkten Fokus legt das März-Programm des New Beverly auf Great Love Stories. Besonders angesprochen hat mich dabei das Double Feature mit dem Blake Edwards-Agentenfilm "Darling Lili" und dem italienischen Exploitationfilm "Fräulein Doktor".

"Darling Lili", eine Variante der Mata Hari-Agentin im Ersten Weltkrieg, in der Julie Andrews und Rock Hudson die Hauptrollen spielen, ist ein Geheimtipp, der schon länger auf meiner To-Watch-Liste steht. Eigentlich seitdem der Filmkritiker Myron Meisel es als eines der drei großen Meisterwerke in Blake Edwards' Filmografie bezeichnet hat (im cinephilen Standardwerk "American Directors Volume 2").
Terza Visione in Los Angeles
Der spätere zweite Teil des Abends am 20. und 21. März sieht fast noch interessanter aus: "Fräulein Doktor" von Alberto Lattuada ist mir so direkt, glaube ich, noch gar nicht begegnet. Wieder wird eine Agentengeschichte im Ersten Weltkrieg erzählt, nur, dass hier sicherlich mehr nackte Haut gezeigt werden wird. Der Cast ist spannend: Suy Kendall trifft auf Capucine und Giancarlo Giannini. Der Score ist von Ennio Morricone, der durch Tarantino seinen ersten offiziellen Oscar bei den 88. Academy Awards gewonnen hat.

Die italienischen Programmpunkte erscheinen mir sowieso die schmackhaftesten, weil unbekanntesten Filetstücke zu sein. Da läuft "Des Lebens Herrlichkeit" aus dem Jahr 1970 mit Tony Musante und Florinda Bolkan zur Musik von Stelvia Cipriani ("Der Tod trägt schwarzes Leder", "Papaya").

Es gibt ein sehr interessantes Marcello Mastroianni-Double Feature: "Diebe haben's schwer" (1958) und "Scheidung auf Italienisch" (1961). Und Tarantino würdigt Senta Berger mit den reißerischen Klassikern "Als die Frauen noch Schwänze hatten" und "Toll trieben es die alten Germanen". Die Musik stammt jeweils auch von Morricone, an den Drehbüchern arbeitete Lina Wertmüller mit, der Tarantino in einem seiner vergangenen Programmen schon den Hof gemacht hat.
Liebe für William Wyler
Bei den Great Love Stories, die das Leitthema des Monats sind, scheinen die Mitarbeiter auch einige Stinker wie "Love Story" eingeschmuggelt zu haben. Aber ganz besonders bin ich auch an der William Wyler-Liebesgeschichte "Jezebel" mit Bette Davis und Henry Fonda interessiert. Die Wahl könnte nämlich sehr wahrscheinlich durch Mark Harris' exzellentes Filmbuch "Five Came Back" inspiriert sein.

Darin schwärmt der Autor unter anderem sehr gekonnt von William Wylers Karriere. Ein Regisseur, der wegen seiner vielen Oscars und Erfolge in der Filmgeschichtsschreibung eher vernachlässigt wurde, weil es bei ihm scheinbar nichts mehr zu entdecken gibt. Mark Harris hat ihn wieder hervorgeholt, Tarantino gibt nur zu gerne den Staffelstab weiter.

Links: - März-Programm, - 35mm-Bollwerk gegen die Barbaren

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Montag, 29. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „A Quiet Passion“ (Terence Davies)

Tochter (Cynthia Nixon) & Vater (Keith Carradine) © Hurricane Films
Einem Dinosaurier gleich stampft der berüchtigte Oscar-Blogger Jeffrey Wells heute durch die politisch korrekte Hipster-Online-Welt. Was der streitsüchtige, machohafte Wells mit seinem Blog Hollywood Elsewhere aus der Steinzeit jedoch mit rüber gerettet hat, ist sein immer noch funktionierender Riecher für frühe Oscar-Kandidaten. Einmal Jeffrey Wells sein, dachte ich mir bei Terence Davies‘ Kostümdrama „A Quiet Passion“. Der Zoo-Palast war wegen Benjamin Netanjahus Staatsbesuch weiträumig abgesperrt. Und als ich mich an den Absperrgittern wieder Richtung U-Bahn-Station orientierte, war mir auch schon klar, dass es nicht einen einzigen, sondern ein paar Kandidaten gäbe, die einen frühen Oscar-Buzz verdienten.

Davies‘ Film lief nur in der Special-Nebenreihe der Berlinale. Aber die Qualität für den Wettbewerb hätte das Emily Dickinson-Biopic locker gehabt. Terence Davies ist eben ein gut gehütetes Insider-Geheimnis unter Cineasten, hauptsächlich unter britischen Kritikern. Deswegen werden wohl auch nicht Keith Carradine (Emilys Vater), Jennifer Ehle (Emilys Schwester) und Catherine Bailey (die Familienfreundin) in die engere Auswahl mit einbezogen werden, wenn im Dezember wieder ernsthaft für die Academy gefahndet wird. Und doch hätten es alle drei mehr als verdient. Auch Cynthia Nixon, dem Zuschauer eher bekannt als die rotblonde Miranda aus „Sex and the City“, die der amerikanischen Schriftstellerin Emily Dickinson in den Erwachsenenjahren Gesicht und Ausdruck gibt, wäre eine Überlegung wert. So wandlungsfähig und komplex ist ihre Darstellung der Dickinson, so klug wie scharfzüngig, so rebellisch wie verletzlich.
Kammerspielartige Screwball-Comedy
Mir kann man wirklich keinen Hang zu Kostümfilmen, Jane Austen oder englischer Lyrik nachsagen. Umso begeisterter war ich davon, wie mich Davies trotz dieser vermeintlicher Reizformeln einfing. Bei ihm verwandelt sich Sprache in Gefühle und umgekehrt. „A Quiet Passion“ besteht hauptsächlich aus kammerspielartigen Screwball-Comedy-Momenten, die in Licht schwimmen. Darin haben die Schauspieler so viel Platz und Vertrauen, dass sie allesamt glänzen können.

Der Film erzählt Emily Dickinsons Lebensgeschichte. Als amerikanische Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts lässt sie ihre aufgestaute Energie und Kraft in die Poesie fließen. Denn in der Realität wird Frauen das Recht auf Selbstverwirklichung von der Gesellschaft versagt. Dickinson erlangte erst nach ihrem Tod Berühmtheit und Anerkennung und stieg zu einer der bedeutendsten Lyrikerinnen der englischen Sprache auf. In ihrer Zeit kann sie nur wenig veröffentlichen und wird noch weniger von der Literaturkritik geschätzt. Selbst ihr Verleger schreibt einige Zeit nach der Zusammenarbeit einen so fiesen Verriss, dass dagegen Folterwerkzeuge eher harmlos erscheinen.

Sie bezeichnet sich selbst als ein von Gott verstoßener Mensch. Wegen ihrer Zweifel holt sie ihre Familie aus dem protestantischen Mädcheninternat. Sie kniet auch nicht, wie es üblich ist, vor dem Pastor im Familienkreis und verliebt sich heimlich in einen Prediger, der mit einer Quäkerin verbandelt ist. Ihre Schwester Vinnie (Jennifer Ehle) weiß das Verhältnis zwischen Emily und Gott aber besser einzuordnen. Durch ihre poetische Gabe sei sie als Mensch ihm so nah wie sonst kein anderer Mensch.
Der Preis der Genialität
Der Regisseur Davies schildert diese Beziehung vor allem über die süchtig machende Sprache und Formulierungskunst der Emily Dickinson und streift damit einen weiteren interessanten Aspekt ihrer Persönlichkeit. Genies sind im richtigen Leben auf Dauer fast immer nur schwer erträgliche Menschen. Emilys Sinne sind zu fein gestimmt, ihr Vokabular schärfer als das ihrer Umgebung, ihre Haltung zwangsläufig gnadenloser. Jedes Wortgefecht muss gewonnen, jeder letzte Punkt gesetzt werden. Auch wenn sie das immer weiter in die Isolation treibt. Verehrer werden bald nur noch am unteren Treppenende empfangen, um ihnen den rechten Platz gleich zu Anfang zuzuweisen.

„A Quiet Passion“ besitzt eine magische Morph-Szene, in der die Familie Porträt sitzt. Vater Edward (Keith Carradine) ist auch so ein Dinosaurier aus vergangenen Zeiten, dessen Liebe gegenüber seiner Familie immer noch den harten Mantel des Patriarchen überlagert. Er ringt sich unter körperlichen Schmerzen die Ahnung eines Lächelns für das Bild ab. Und während er auf seinem Stuhl sitzt, altert er im Schnellverfahren. Die ergrauten Schläfen, die eingefallenen Wangen.

Was für ein genialer Einfall. Vor allem, wenn die Jung-Schauspieler der Hauptrollen zu ihren späteren Schauspiel-Ichs morphen. Warum ist das noch niemandem früher eingefallen? Es ist ein schmerzlicher, sehr organischer Zeitraffer, der sofort Orientierung stiftet. Und gerade hinsichtlich des Abspanns, wenn wir den Übergang von Cynthia Nixon zur echten Emily Dickinson sehen, schließt sich auf atemberaubende Weise ein dramaturgischer Bogen.

Das ist keinesfalls ein perfekter Film. Und er ist so angenehm düster und verdammt nah an der Realität dran – Krankheiten und Tod bestimmen Emilys Familienleben in der zweiten Hälfte des Films –, dass ihm wohl kaum ein großer Publikumserfolg beschieden sein wird. Mehr als verdient hätte ihn aber dieses sublim erzählte und gespielte Biopic.

Links: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Agonie"

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Samstag, 27. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „Agonie“ (David Clay Diaz)

Wahnsinnig intensiv: Samuel Schneider © David Clay Diaz
Harald Schmidt hat mal scharfzüngig behauptet, Kulturvölker sollten wissen, wozu sie gemacht wurden: Niemand brauche zum Beispiel österreichische Rapper oder japanische Opernsänger. Burgtheater, "Küss die Hand" und "Habe die Ehre" seien da doch viel passender. Und so gerne man in diesem Fall zustimmen würde, hat mich David Clay Diaz‘ Film „Agonie“ in der Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale eines Besseren belehrt.

Da rappt nämlich der gerade aus dem Grundwehrdienst des österreichischen Bundesheer heimgekehrte Alex (Alexander Srtschin) vor einem Kumpel. Im breitesten Wiener Dialekt. Es ist eine sehr brachiale, repetitive Hasstirade auf seine Ex-Freundin, die auf Facebook ein aufreizendes Foto von sich veröffentlicht hat. Zuerst irritiert noch das Wienerische, schnell stoßen auch die Fäkalausdrücke ab. Aber umso länger man zuhört, ja im Kino quasi gezwungen ist zuzuhören, umso mehr spürt man durch die Performance die traurige Existenz des Amateur-Rappers.
Warum sich für Yuppies und Prolls interessieren?
So ging es mir auch generell mit David Clay Diaz‘ Film „Agonie“, der die Geschichte zweier junger Männer in Wien parallel erzählt, die sich aber nie treffen. Gleich zu Anfang sagt der Film, dass am Ende einer dieser Männer seine Freundin zerstückelt und in der Stadt in verschiedenen Müllcontainern verteilt haben wird. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich bis dahin noch im Kinosaal sitzen würde. Zu platt und eindimensional erschienen mir beide Figuren.

Alex, der ehemalige Soldat und Fitness-Freak, der jede freie Minute im Solarium oder in der Kickbox-Halle verbringt. Oder auch Christian (Samuel Schneider), der deutsche Jura-Student, der eine blonde Sexbombe als Freundin hat. Wo sollen da die Tiefe und Plastizität der Figuren entstehen. Aber umso länger man dem österreichischen Hasstiraden-Rap lauscht und umso genauer man sich die Leben dieser beiden Menschen anschaut, umso mehr interessante Anhaltspunkte glaubt man zu finden.

Das offensichtlichste Vorbild für den Regisseur David Clay Diaz war Gus Van Sants Amoklauf-Film „Elephant“. Diaz erwähnt im Interview die buddhistische Parabel von den fünf Blinden, die einen Elefanten an verschiedenen Körperstellen betasten und jeweils ein ganz anderes Tier vor sich zu haben glauben. Ja, diesen Geist des vorurteilsfreien Beobachtens atmet „Agonie“. Er erinnert aber auch an den frühen Michael Haneke, als er noch nicht so didaktisch, aber schon ästhetisch radikal arbeitete („Benny’s Video“).
Haarrisse auf der Seele
Umso länger „Agonie“ läuft, umso spannender werden diese beiden Männer. Sie haben Probleme wie viele junge Menschen: Druck von allen Seiten; von der Familie, den Freunden, dem Umfeld, den Medien; sie führen anstrengende Beziehungen oder erleiden schmerzvolle Trennungen. Sie schauen Gewaltvideos im Internet oder machen Popcorn im Kino. Aber Diaz zeigt, wie bei Christian und Alex der Druck nicht entweichen kann, sondern immer näher an die Explosion heranrückt.

Es sind Kleinigkeiten, die auffallen. Mikroskopische Kränkungen, die sich wie Haarrisse auf der Seele manifestieren. Zum Beispiel hat der Jura-Student Christian Sex mit seiner blonden Freundin – wie sie es so aus den Internetpornos kennen. Aber irgendwie läuft es nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Zuerst leckt sie sein Bein bis zur Fußspitze, danach nimmt sie ihn in die Löffelstellung. Auf ganz sanfte Art und Weise ist hier sofort klar, wer in der Beziehung die Hosen an hat. Oder der Ex-Soldat Alex prügelt sich mit einem Kumpel auf dem Zimmerboden. Sie spielen die muskelbepackten Wrestling-Helden wie Brock Lesnar und die noch härteren Ultimate Fighter aus dem TV nach. Alex verliert die Dominanz, wird zu Boden gedrückt. Letztlich haben die beiden einen kurzen, irritierenden Moment gemeinsamer Zärtlichkeit.

Und so gibt es unzählige Punkte, an denen man sich denkt, dass hier was schief läuft, ohne es genau bestimmen zu können. Es sind vor allem Kränkungen, die diese von der Gesellschaft gestählten Egos nicht verarbeiten können. David Clay Diaz ist damit eine kraftvolle, hypnotische Charakterstudie zweier Individuen gelungen, die sehr schmerzvoll an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Samuel Schneider ist eine echte Schauspiel-Entdeckung, in deren Ruhe der Wahnsinn lauert. Und „Agonie“ war tatsächlich einer der Filme, die man auf der Berlinale 2016 gesehen haben musste.

Links: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Baden Baden"

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Berlinale-Kritik: “Baden Baden” (Rachel Lang)

Ana (Salomé Richard) singt Karaoke © Chevaldeuxtrois
Der amerikanische Filmkritiker James Monaco wird heute vornehmlich mit der eher drögen Pflichtlektüre „Film verstehen“ in Verbindung gebracht, mit der Uni-Anfänger in den ersten Semestern gequält werden. Dabei war der Mann in den 1970er-Jahren eine ganz und gar aufregende Erscheinung in der Filmwissenschaft. Monaco schrieb erst das bis heute noch beste Buch über die Nouvelle Vague („The New Wave“). Und er legte dann eines der lebendigsten und aufregendsten Bücher über das New Hollywood-Kino nach („American Film Now“).

Berüchtigt sind daraus die Karten-Schaubilder, in denen Regisseure, Schauspieler und Drehbuchschreiber wie Sterne ihren Platz im Hollywood-Pantheon zugewiesen bekamen. Mein liebster Abschnitt in „American Film Now“ stammt aber aus dem Kapitel über Paul Mazursky. Der Regisseur wird leider häufig vergessen, wenn von der Renaissance des Hollywood-Kinos geschwärmt wird. Und die Stelle geht so: „Wie die Opfer aus den Slapstick-Filmen scheinen es Mazurskys Figuren gar nicht zu merken, dass sie verhauen, getreten, geohrfeigt und über den Haufen gerannt werden. Sie sind Stehaufmännchen, die immer weitermachen und dabei die ganze Zeit grinsen. Mazurskys Welt ist wie die von Woody Allen, nur ohne Angst.“
Lena Dunham, Greta Gerwig, Rachel Lang?
An diese drei Sätze musste ich immer wieder denken, als ich Rachel Langs süchtig machende Slacker-Komödie „Baden Baden“ im Berlinale-Forum sah. Die Protagonistin Ana (Salomé Richard) ist 26 Jahre alt. Nach einem missglückten Film-Set-Job als Fahrerin kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt Straßburg. In der ersten Szene des Films, eine minutenlange Einstellung ohne Schnitt, wird sie vom Aufnahmeleiter zur Sau gemacht. Sie habe sich mehrfach verfahren, sei mit dem Star Stunden zu spät am Set erschienen. Er brüllt sie aus Leibeskräften an. Vor lauter Tränen bekommt sie nicht einmal mehr den Rückwärtsgang rein. Schnitt. Etwas später an der Hotelbar treffen sich die beiden wieder. Der Job ist zwar futsch, aber das ist kein Grund, nicht noch mal gemeinsam anzustoßen.

Ana ist so schnell wieder oben, wie sie unten war. In Straßburg lebt sie ihr Leben – wild, sexuell und ohne Rücksicht auf Verluste. Außerdem will sie ihrer Großmutter, die im Krankenhaus liegt, ein neues Bad einbauen. Das wird ihr Projekt für den Sommer. Auch wenn sie davon noch weniger Ahnung hat als von dem Shuttle-Service am Film-Set. Der Film „Baden Baden“ reiht sich ein in eine popkulturelle Schlange mit der Kult-Serie „Girls“, Greta Gerwigs Komödie „Frances Ha“ oder Andrea Arnolds Drama „Fish Tank“ – allesamt Coming-of-Age-Geschichten über Frauen. Und oberflächlich betrachtet erzählt „Baden Baden“ keine gänzlich neuen Facetten. Es ist indes die Haltung der Protagonistin, die den Film so bemerkenswert macht, weil sie sich nicht wie die amerikanischen Geschwister neurotisch an Woody Allen anlehnt.

Die Protagonistin in „Baden Baden“ ist ein punkiges Stehaufmännchen, mit kurzen Wuschelhaaren und Jeans-Shorts, die angstbefreit macht, worauf sie Lust hat. Und sie macht eklige Dinge, die aber kreativ sind, wie zum Beispiel Erbsen und Möhren mit Ketchup zu essen. Oder mit dem ewig besten Freund in einer Hostel-Dusche zu schlafen und diesem, als er sie auf die Nase küssen will, in den Mund zu schnäuzen.
Der nächste große Superstar aus Frankreich
Ana zelebriert den Stillstand, ahnt aber auch, dass in diesem Sommer ein Kapitel zu Ende gehen wird. Mit Charme bezirzt sie einen Baumarkt-Mitarbeiter, ihr beim Einbau des neuen Bads unter die Arme zu greifen, obwohl der davon so wenig Ahnung hat wie sie. Es tauchen zahlreiche weitere Männer in Anas Leben auf: Ewige Anwärter, große Lieben, neue Verehrer und Gelegenheits-Flirts. Nichts Dauerhaftes. Meist nur Kompensation und Ablenkung vom Alltag. Freiheit bedeutet für sie, in einem teuren und viel zu schnellen Leih-Porsche den französischen Popsong „Unisexe“ auf der Autobahn zu schmettern, bis die Polizei einschreitet.

Ich bin ein bisschen befangen: Unter anderem, weil Ana irgendwann in der Küche zu Adam Greens Song „Dance with Me“ schäkert. Auch, weil „Baden Baden“ mit einer ganz famosen Karaoke-Szene endet. Und ich liebe leidenschaftlich schlecht vorgetragene Karaoke-Szenen in Filmen. Für mich ist dieses Guilty Pleasure inzwischen ein eigenes Subgenre. Und „Baden Baden“ belegt im ausgedrückten Lebensgefühl und dem Moment des Glückes einen der vorderen Ränge.

Die Ana-Schauspielerin Salomé Richard ist schlicht - tja - bezaubernd. Als Mensch und als Schauspielerin. Womöglich ist sie nach Ludivine Sagnier, Chiara Mastroianni und Solène Rigot das nächste große Ding aus Frankreich. Französische Filmgöttinnen üben eine besondere Faszination aus. Vielleicht auch, weil die einheimischen Filmemacher verstehen, ihnen im Gegensatz zu Hollywood gerade auch nach dem 40. Lebensjahr die besten Rollen auf den Leib zu schreiben (siehe Juliette Binoche, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert). Ähnlich faszinierend ist es aber, ihnen beim Durchstarten zuzuschauen.

Links: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Creepy"

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Donnerstag, 25. Februar 2016
Berlinale-Kritik: „Creepy“ (Kiyoshi Kurosawa)

Der Skorpion (Teruyuki Kagawa) © Shochiku Company
Die Klopeks. Ein Familienname, der hängen bleibt, wenn man das Joe Dante-Meisterwerk „Meine teuflische Nachbarn“ gesehen hat. Seitdem auch in der realen Welt ein Synonym für Nachbarn, die sich irgendwie auffällig verhalten. Menschen, die sich abschotten, erst nachts den Müll herausbringen und in ihren Kellern höchst seltsame Geräusche verursachen. Zusammen gefasst: Menschen, die jeder auf eine Art in seiner Nachbarschaft wiederfindet. Und ein Menschenschlag, dem jetzt auch der japanische Genre-Regisseur Kiyoshi Kurosawa in seiner fabelhaften Hitchcock-Variation „Creepy“ ein Denkmal gesetzt hat.

„Creepy“, der auf der Berlinale in der Special-Nebenreihe zu sehen war, beginnt mit einer Geiselnahme in einer Polizeistation. Der ermittelnde Polizist Takakura (Hidetoshi Nishijima) hat den Angeklagten im Verhörraum in die Ecke gedrängt. Seine Taten sind offensichtlich, die Beweislast ist erdrückend. In einem unachtsamen Moment schlüpft der potenzielle Serienkiller aus der Tür, nimmt eine weibliche Geisel und bedroht diese mit einer Gabel am Hals. Die Situation scheint klar zu sein. Es gilt zu verhandeln – über Fluchtfahrzeuge und Geld. Takakura unterschätzt aber die Psyche des Täters: Der denkt nicht an Flucht, nutzt lieber die Gelegenheit, dem Polizisten die Gabel in den Rücken zu jagen und im Kugelhagel abzutreten. Die Fabel vom Skorpion und dem Frosch kommt einem dabei in den Sinn. In diesem filmischen Universum wird nicht die Logik regieren, sondern der Instinkt. Was für schlechte Zeiten für rationale Ermittler!
Anleitung zum Unglücklichsein
Einige Zeit später, Polizist Takakura ist mit seiner liebreizenden Frau Yasuko (Yûko Takeuchi) umgezogen. Er hat den Job an den Nagel gehängt und doziert jetzt lieber an der Universität. Und eigentlich hätte das Paar nun die Möglichkeit für ein ruhigeres, glücklicheres Leben. Dann wäre es allerdings kein Kiyoshi Kurosawa-Film. Ein Regisseur, der mir das erste Mal in der Welle japanischer Geister-Horrorfilme der 2000er-Jahre aufgefallen ist. Die Protagonisten seines Films „Pulse“ waren so depressive Teenager, dass ihr Ableben durch ein ominöses Internet-Video geradezu wie eine Befreiung wirkte. Kurosawas Figuren scheinen das Unglück zu suchen. Sie werden von ihm magisch angezogen. Weder Mann noch Frau halten bei ihm die idyllische Zweisamkeit allzu lange aus.

Takakuras Frau Yasuko stellt sich in der Nachbarschaft mit einer selbst gemachten Kleinigkeit vor. Sie wandert von Haustür zu Haustür. Und es wurmt sie, dass der Mann gegenüber ihr die Tür nicht öffnen will. Immer wieder versucht sie es, bis sie ihn endlich antrifft. Der Nachbar ist ein eigenbrötlerischer Kerl, der von sozialen Situationen überfordert ist. Vor Yasukos Hund rennt er davon wie vor einem Ungeheuer. Er beherrscht keinen Small Talk und macht die komischsten Andeutungen. Er ist, wie dem Zuschauer mit zunehmender Zeit immer klarer wird, der verhaltensauffälligste Nachbar in der Filmgeschichte seit den Klopeks. Tatsächlich noch bizarrer und auffälliger. Zu beobachten, wie sich dieser Nachbar (genial: Teruyuki Kagawa) immer größere Böcke leistet und wie Yasuko trotzdem versucht, den nachbarschaftlichen Frieden als Schein zu wahren, ist köstlich anzuschauen. Mir doch egal, ob da einer aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist, so lange er nur meinen Auflauf für schmackhaft befindet.
Mr. Kurosawa, wie haben Sie das gemacht?
Aber ihr Ehemann ist nicht besser: Takakura langweilt schnell der Universitätsalltag. Mit einem anderen Professor macht er sich lieber privat an die Aufklärung eines nie aufgelösten Mordfalls. Es ist nicht nur die gekonnte Machart, das ökonomische Erzählen und die Bildsprache, die „Creepy“ an Hitchcock erinnern lassen. Es sind vor allem die Obsessionen seiner Protagonisten, die Kurosawa ganz dicht an das Herz des Suspense-Meisters rücken. Ja, Takakura ermittelt eventuell auch, weil er den Fall auflösen will. Aber die Menschen interessieren ihn dabei nicht wirklich. Er benutzt sie als Material. Seine Brutalität kommt gerade in den Gesprächen mit Zeugen und Angehörigen zum Ausdruck. Schnell wird aus einer Unterhaltung ein Verhör, immer befindet sich der Zeuge auch auf der Anklagebank. Spielerisch tänzelt die Kamera dabei durch den Raum und taucht seinen Privatdetektiv in immer dunklere Schatten. Takakura hat auch kein Problem damit, Unschuldige körperlich anzugehen, nur um ein bisschen schneller in seiner Besessenheit voranzukommen.

In „Creepy“ schaufelt sich das von außen so perfekt wirkende Ehepaar sein eigenes Grab schon selbst. Die unzähligen Leichen, die der verhaltensauffällige Nachbar drüben im Keller haben könnte, können an den emotionalen Abgrund der beiden niemals heranreichen. Bei Kurosawa ist ein kleiner Flur eines Familienhauses der größte Alptraum, weil er weiß, was dahinter kommt. Einmal steht Yasuko in diesem Flur des Nachbarn. Und die Spannung ist so groß, dass sie fast nicht mehr auszuhalten ist. Weil alles hinter diesem Vorhang vorkommen kann. Da sind wir nicht mehr weit entfernt vor dem Vorhang in Tobe Hoopers Klassiker „The Texas Chainsaw Massacre“. Dort ist man inzwischen richtig gehend erlöst, dass es nur der olle Leatherface ist, der sich eine der Protagonistinnen holen kommt. „Creepy“ geht einen Schritt weiter. Ich will nicht behaupten, dass der Film perfekt ist. Das Schlussdrittel zerfasert ein wenig. Es räumt sich die eine oder andere Ungereimtheit ein. Aber hey, was für ein teuflisch guter Horrorfilm und was für eine todtraurige Patchwork-Familie das doch letztlich ist.

Link: - Berlinale-Rückblick 2016, - Geheimtipp "Baden Baden"

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Montag, 22. Februar 2016
Prügelknabe, Schatz oder Schlappschwanz - der Neue Deutsche Mann auf der Berlinale 2016

Highlights: "A Lullaby", "A Quiet Passion", "Agonie" & "Baden Baden"
Ein Berlinale-Rückblick so lang wie ein Lav Diaz-Film: Negative Space-Filmkritiker Michael Müller schreibt über deutsche Sprache und den ziemlich starken Wettbewerbs-Jahrgang 2016.

Man spricht deutsch auf der Berlinale. Weniger am ungewöhnlich mild temperierten Potsdamer Platz, wo im internationalen Reigen aus Touristen und Weltpresse eigentlich eine Art Esperanto gepflegt wird. Gemeint sind die Protagonisten auf den Leinwänden des Festivals, die einen Hang zu deutschen Ausdrücken entwickelt haben. Der tschechische Panorama-Eröffnungsfilm „I, Olga Hepnarova“ ist ein typischer Vertreter der von Wieland Speck kuratierten Nebenreihe. Er ist schwarzweiß fotografiert, voller freizügiger Szenen und rauchender Menschen, ungeschickt distanziert erzählt sowie etwas zu plump moralisch angelegt. Die Protagonistin Olga (das Natalie Portman-Lookalike Michalina Olszanska) basiert auf einem realen Vorbild. Olga Hepnarova war die letzte Frau, die in der Tschechoslowakei im Jahr 1975 per Todesstrafe gehängt wurde.

Im Gerichtssaal rechtfertigt sie ihren terroristischen Akt gegen Passanten auf dem Bürgersteig mit dem deutschen Wort ‚Prügelknabe‘. Denn als genau diesen habe die Gesellschaft sie wegen ihrer Homosexualität behandelt. Ihrer Argumentation will man nicht so recht folgen. Und man glaubt auch, dass Regisseure wie Miloš Forman den Freiheitskampf gegen das kommunistische System bereits in den 1960er-Jahren deutlich besser und interessanter erzählt haben. Aber das Wort bleibt haften.
Keine einfachen Formeln
Themen- und Motivsuche erweisen sich jedes Jahr wieder als trügerisches und künstliches Gebilde auf der Berlinale. Die Medien lechzen immer nach einfachen Formeln, nach Zuspitzungen und Konflikten. War das jetzt ein Jahr der starken Frauenrollen oder der schwachen Männerrollen – und wen interessiert das eigentlich? War es dann doch eher das Jahr der Flüchtlingskrise, weil Gianfranco Rosis Dokumentarfilm „Fire at Sea“ den Goldenen Bären gewann?

Im okayen deutschen Film „Meteorstraße“ wie im tollen französischen Film „Baden Baden“ zieht es zwei Figuren mit Migrationshintergrund in die Fremdenlegion. Ist das schon ein Thema oder bedarf es mindestens drei, vier Filme mit ähnlichen Motiven? Festival-Chef Dieter Kosslick hatte im Vorfeld das Recht auf Glück als Oberthema der Berlinale ausgegeben. Und so banal und eigentlich immer zutreffend das auf den ersten Blick erscheint, so sehr verfestigte sich über die Woche dieses Dogma. Zum Beispiel beim tunesischen Wettbewerbsbeitrag „Hedi“, der zu Recht als bester Erstlingsfilm und für den besten Hauptdarsteller (Majd Mastoura) ausgezeichnet wurde. Am Strand gräbt da die Animateurin Rym (Rym Ben Messaoud) die Titelfigur Hedi ein und formt ihrem Urlaubs-Flirt spielerisch riesige Sandbrüste. Als das ein kleines Touristenmädchen sieht, fragt es auf Deutsch: „Ist das dein Schatz?“ Das kann die Animateurin nur bejahen. Was für eine beiläufige Liebeserklärung in deutscher Sprache, die der Eingegrabene natürlich nicht versteht.

Isabelle Huppert in "Things to Come" (aka "L'avenir") © CG Cinéma
Merkels Schlappschwänze
Isabelle Huppert umgibt sich in Mia Hansen-Løves Film „Things to Come“ als Philosophie-Lehrerin, der das vertraute Leben abhandenkommt, mit deutscher Sprache. Sie gibt Werkausgaben zu Theodor W. Adorno und Arthur Schopenhauer heraus, die eingestellt werden sollen, weil sie sich weigert, ihre Buch-Cover wie Haribo-Tüten aussehen zu lassen. Wenn die Huppert Auto fährt, erklingt Franz Schuberts „Im Abendrot“.

Und wenn in der außer Konkurrenz gezeigten Dominik Moll-Komödie „News from Planet Mars“ vom EU-Gipfel berichtet wird, heißt es dort: Angela Merkel habe ihre männlichen Kollegen mit dem deutschen Wort ‚Schlappschwänze‘ gebrandmarkt, weil sie immer alles allein stemmen müsse. Der Versuch, thematisch übergreifende Trends in Motiven, Hintergründen oder Figuren zu finden, ist dann eben doch auch eine persönliche Geschmackssache. Und wenn man es nicht wie Volker Kauder, sondern wie Gerhard Polt meint, kommt man sogar mit dem deutschen Sprachmotiv durch.
Tarantinos "The Hateful Two"
„Die Berlinale verliert immer weiter an Bedeutung“, poltert der Viennale-Chef Hans Hurch im SWR2-Gespräch mit dem nickenden Filmkritiker Rüdiger Suchsland. Das Festival sei reaktionär, zynisch und dumm und nehme sich selbst nicht mal ernst. Da haben sich aber auch zwei gefunden. Bei viel zu leisem Mikrofon-Ton wird die Entscheidung, Lav Diaz‘ achtstündigen Film „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ einzuladen, auch noch als reiner Opportunismus abgetan. Ich habe Rüdiger Suchsland früher sehr gerne gelesen. Aber wenn er über die Berlinale im Allgemeinen oder Dieter Kosslick im Speziellen spricht, kommt da nur noch Gift und Galle zum Vorschein. Vor zwei Jahren schrieb Suchsland nach der Vertragsverlängerung von Kosslick einen Artikel, der den Titel „Der ewige Kosslick“ trug. Ob bewusst oder unbewusst gewählt, war die Assoziation zum berüchtigten Propagandafilm der Nationalsozialisten schlicht geschmacklos.

Tatsächlich ließ sich während des Festivals eine Eigentümlichkeit hinsichtlich des Wettbewerbs feststellen. Wenn man morgens im Pressezentrum brav die Branchenblätter Screen Daily und den Hollywood Reporter aufschlug oder gelegentlich auch einen Blick auf den Bewertungs-Chart des Tagesspiegel warf, fiel auf: Nahezu jeder Wettbewerbsfilm hat seine Anhänger gefunden. Zum Beispiel „Letters from War“, der portugiesische Schwarzweißfilm, der mit Hilfe von Liebesbriefen die Gräueltaten der Portugiesen im Angola-Kolonialkrieg beschreiben will. Jener eben schon erwähnte Rüdiger Suchsland war begeistert. Auch der Tagesspiegel-Kritiker Jan Schulz-Ojala schwärmte. Obwohl ich die portugiesische Sprache liebe, empfand ich „Letters from War“ dagegen als künstlerische Totgeburt.

Der portugiesische Beitrag "Letters from War" © O Som e a Fúria
Ernst Jünger in Angola
Einerseits von einer angenehmen Frauenstimme verlesene Briefe aus dem Off, andererseits hochstilisierte, teils atemberaubend schöne Schwarzweißbilder. In der Häufung und Wiederholung verliert das Ganze allerdings schnell an Reiz. Zumal die Liebesbriefe des Protagonisten an seine Zuhause weilende Frau weniger Liebesbriefe als Briefe der Selbstliebe sind. So sehr schwelgt der Militärarzt in den eigenen Formulierungen, so wenig scheinen die Schmeicheleien ausschließlich für die Frau bestimmt. Und das Schlimme: Es gibt auch keinen qualitativen Unterschied zwischen den Liebesbekundungen zur Frau und den blumig-imperialistischen Beschreibungen des Kolonialkrieges. Wenn man so will: ein Ernst Jünger-Epigone auf Portugiesisch. In Schönheit gestorben. Trotzdem würde ich sagen, dass dieses Filmexperiment in den Wettbewerb eines A-Festivals gehört.

Wohin man blickte, gab es Verteidiger von Wettbewerbsfilmen. Konsensfilme, die alle liebten, fand man fast keine (vielleicht am ehesten André Téchinés „Being 17“ und Hansen-Løves „Things to Come“). Die BZ-Kritikerin Anke Westphal gab dem einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag „24 Wochen“ die Höchstwertung und einen schwärmerischen Text mit dem Titel „Ein Film von großer Wucht“. Der Film mit Julia Jentsch und Bjarne Mädel in den Hauptrollen um Komplikationen in der Schwangerschaft fand auf jeden Fall einen Resonanzboden auf der Berlinale. Ich weiß nicht, ob dieser Film im Wettbewerb laufen musste, weil er ästhetisch eher irrelevant ist. Ich weiß nicht einmal sicher, ob das ein guter Film ist. Was ich dagegen weiß: „24 Wochen“ ist ein packendes, mitreißendes Stück Kino, bei dem ich zwei Mal Tränen in den Augen hatte.

Selbst der krude kanadische Beitrag „Boris without Béatrice“, der von einem arroganten Geschäftsmann erzählt, der regelmäßig fremdgeht, hatte eine Anhängerin. Artechock-Kritikerin Dunja Bialas verteidigte den Film, in dem Regisseur Denis Côté auf Michael Haneke für ganz Arme machte.

"Midnight Special": "Starman" meets "Close Encounters" © WB
Wenig Hollywood, trotzdem unterhaltsam
Der Wettbewerb hatte eine erstaunlich dichte Qualität. Wenige Ausreißer nach unten, noch weniger nach ganz oben, aber sehr häufig interessant, sehenswert und anregend. Es gab vor allem eine Vielfalt in den ästhetischen Macharten zu bewundern. Und es hätte auch über die Nebenreihen die Möglichkeit gegeben, den Wettbewerb noch wertvoller zu gestalten, aber dazu etwas später mehr. Der einzige Hollywoodfilm der Konkurrenz, Jeff Nichols‘ Spielberg-Carpenter-Hommage „Midnight Special“, war zwar kein richtig großer Wurf. Dafür waren die Figuren zu schemenhaft angelegt. Aber was für ein meisterliches Sounddesign und was für einen treibend hypnotischen Soundtrack besaß der Film. „Midnight Special“, die Geschichte um einen außergewöhnlichen Jungen, hinter dem der Staat und die Kirche her sind, war immer genau dann bei sich, wenn er sich vom Plot und den Figuren löste und einfach Action, audiovisuelles Spektakel und eine wabernde Stimmung sein konnte.

Danis Tanovics opulenter Ensemble-Film „Death in Sarajevo“, der mich am stärksten an die Hollywoodversion von Vicki Baums Literaturklassiker „Menschen im Hotel“ erinnerte, gewann den Großen Preis der Jury. Auch hier fehlte der Schuss Genialität. Aber was für ein vitalisierendes Bewegungskino brennt Tanovic hier ab. Selten ruht die Kamera, immer gleitet sie den Protagonisten belauernd hinterher. Sie ist wie der Sicherheitsmann, dem aufgetragen wurde, den französischen Ehrengast zu beschützen. Aus altem kommunistischen Reflex macht der aus dem Security-Job eine traditionelle Beschattung. Und es ist spannend, den unterschiedlichen Parteien zu lauschen, sei es dem Historiker auf dem Dach, der über die mindestens zwei Herzen spricht, die in der post-jugoslawischen Gesellschaft schlagen. Oder seien es die Gangster, die es sich im Keller gemütlich gemacht haben und losschlagen, wenn mal wieder ein Arbeiteraufstand des Personals ansteht.

Trine Dyrholm in "The Commune" © Henrik Petit
Mäuschen spielen bei Meryl
Oder Thomas Vinterbergs Film „The Commune“, der von einem dänischen Paar erzählt, das in den 1970er-Jahren eine Wohngemeinschaft eröffnet, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Wenn man so will, ist das das erzählerische Gegenstück zu „Things to Come“. Wenn sich Isabelle Huppert wegen des fremd gehenden Mannes neu erfinden muss, zerstört Trine Dyrholms Charakter die eigene Liberalität. Sie war es, die die Kommune im geerbten Haus gründen wollte. Sie ist es, die nach Ulrich Thomsens Seitensprung glaubt, dass die Gemeinschaft und vor allem sie selbst das aushalten könnte. Man hätte zu gerne Mäuschen gespielt bei der Schauspielerin-Entscheidung der Jury. Wie die Jury-Präsidentin Meryl Streep wohl argumentiert haben muss, dass letztlich nicht die Huppert, sondern Dyrholm den Preis bekam. Einer meiner liebsten Schauspieler-Momente ist in „The Commune“ allerdings, als die Tochter den Vater auf frischer Tat ertappt. Thomsen, der ein herrlich schreckliches Toupet trägt, das nach Betrug schreit, will aus dem Bad kommen. Er erblickt seine Tochter aus dem Augenwinkel und versucht sich doch tatsächlich noch irgendwie in der Luft durch einen ungelenken Körperkniff zu verstecken. Vielmehr muss man über diesen Charakter nicht wissen.

Auch die richtig großen Filme des Wettbewerbs gingen auf die Suche nach dem persönlichen Glück ihrer Protagonisten. Über Mia Hansen-Løves Film „Things to Come“ habe ich schon ein bisschen geschrieben. Ein Film, der mit Abstand wächst, weil er wahrscheinlich mit das bittersüßeste Ende des Jahres bereithält. „Things to Come“ will ich schnell wiedersehen. Hansen-Løve versteht es, die Alltäglichkeit als kleine Wunder zu zerlegen. Es ist atemberaubend, der Huppert dabei zuzusehen, wie ihrer Figur, der engagierten Philosophie-Lehrerin, alle Sicherheitsleinen von eben auf jetzt weggezogen werden und sie sich neu behaupten und erfinden muss. Als sich die Huppert in ihrer dunkelsten Stunde im Kino Kiarostamis Film „Die Liebesfälscher“ anschaut, wird sie von einem Proll angegraben. Er rückt ihr immer mehr auf die Pelle, verfolgt sie in der Nacht nach Hause, will zudringlich werden. Nach einem kurzen Moment der Irritation lacht sie ihn einfach weg. Als Frau, die „Die Klavierspielerin“ und in „Die Ausgebufften“ war, stellt das keine echte Herausforderung dar. Ich glaube, dass „Things to Come“ noch nicht an Hansen-Løves Meisterstück „Der Vater meiner Kinder“ heranreicht. Vielleicht sehe ich das in ein, zwei Jahren anders.

Hedi und Rym lernen sich kennen ("Inhebek Hedi") © Nomadis
Der Arabischer Frühling als Alien
Ein früher Liebling im Wettbewerb war der tunesische Debütfilm „Hedi“. Die Titelfigur soll verheiratet werden. So wünscht es sich die Mutter, die alles arrangiert hat. Auf einer Arbeitsreise nutzt Hedi die Gunst der Stunde und beginnt eine Affäre mit einer Animateurin. Seine Anmache im Hotel wird wohl als missglückteste in die Filmgeschichte eingehen. Die Magie des Films, der von den Gebrüder Dardenne präsentiert wird, besteht unter anderem darin, dass die beiden trotzdem oder gerade deswegen ein Paar werden.

Der Film ist ganz dicht an seinen Protagonisten dran, zeichnet jede Gesichtsregung wie ein Seismograph auf. Mal wirkt Hedi mit seiner Halbglatze und dem Lebensunmut uralt, mal in nass-klebender Badehose wie ein Schuljunge. Er vereint in seinem Leben das schlechteste aus beiden Welten. Die emotionale Taubheit des Alters mit der Unreife der Jugend. Einmal sieht man von ihm, der die Welt gerne mit seinen Comics erobern würde, eine Zeichnung. Es ist eine triste Schwarzweiß-Skizze, die nach einer dystopischen Zukunft aussieht. Der Protagonist des Comics erinnert dabei an Hedi. Nur hat das Geschöpf einen riesigen unförmigen Schädel wie ein Alien oder ein Baby. Ein Fremder auf der Erde, ein Fremder im Leben. Ein Außenstehender im bislang fremd bestimmten Leben durch seine alles dominierende Mutter. Es fällt nicht schwer, die Parallele von Hedis Situation auf die des Arabischen Frühlings zu übertragen. Und die Melancholie der Geschichte verstärkt sich noch, wenn man sie mit den Entwicklungen der nordafrikanischen Revolutionen abgleicht.
Szenenapplaus für den Planeten Mars
Das muss man Dieter Kosslick auch anrechnen: Bei all dem Drama und der Tristesse, die im Wettbewerb fast unvermeidlich erscheinen, taucht dann ganz unverhofft eine extrem unterhaltsame Komödie wie „News from Planet Mars“ am Horizont auf. Am ehesten lässt sich der Film von Dominik Moll, der eigentlich berüchtigt ist für seine subtilen Thriller, mit einer ungewöhnlichen Bill Murray-Hollywoodperle wie „Was ist mit Bob?“ vergleichen.

Der unwiderstehliche François Damiens, einer meiner französischen Lieblingsdarsteller, spielt einen treusorgenden, emotional aber ständig überforderten Familienvater. Die Ex-Frau hat die beiden Kinder bei ihm außerplanmäßig abgegeben, weil sie in Brüssel vom EU-Gipfel als Außenreporterin berichten muss. Dazu kommen der Hund der exzentrischen Schwester und ein durchgeknallter Arbeitskollege (Vincent Macaigne, seit dem Film „Tonnerre“ ein weiterer französischer Lieblingsdarsteller), der ihm mit einem Beil das Ohr abgeschlagen hat und zum Dank bei ihm einzieht. Das ist im besten Sinne eine altmodisch erzählte schwarze Komödie, bei der ganz Billy Wilder-artig alle Erzählstränge im Schlussdrittel gekonnt zusammen geführt werden. Der Humor ist teils herrlich geschmacklos und grotesk. Ein sehr sympathischer Rausch von einer Komödie, die sogar den einzigen Szenenapplaus einheimste (Stichwort: Hund), den ich dieses Jahr auf der Berlinale mitbekommen habe.

Gottesdienst unter der Erde ("A Lullaby to the ...") © Bradley Liew
Das sanfte Achtstunden-Monstrum
„Wie war es?“, fragte die aufgekratzte Deutsche Welle-Reporterin auf der Treppe des Berlinale-Palastes, als gerade einmal die Halbzeit von Lav Diaz‘ achtstündigem Schwarzweiß-Epos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ eingeläutet wurde. Mir kam nur ein „No, please“ über die Lippen. Ein „I respectfully refuse, it’s far too early to call“ wäre angebrachter gewesen. Aber vier zeitlupenhaft erzählte Stunden philippinischer Revolutionskampf gegen die spanischen Besatzer kann einen schon in so eine Art emotionalen Tunnel versetzen. Als Mindestziel hatte ich mir die Halbzeit gesetzt, es anfangs mehr als sportive Herausforderung betrachtet, weil ich glaubte, dass das sowieso nicht mein Film sein würde. Die allererste Stunde war hart, die letzten beiden der über acht Stunden vergingen wie im Flug.

Ich weiß immer noch nicht so ganz, was ich von Diaz‘ Wiegenlied halten soll. Auf jeden Fall kann ich das nicht hier im sowieso schon zu langen Rückblick ausformulieren. Allein über das Licht und die Winde könnte man Studien schreiben. Aber ich greife mal einen Aspekt heraus: Sichtbare Gewalt gibt es in diesem Lav Diaz-Film beinahe gar nicht auf der Leinwand. Selbst wenn die Macheten gezückt werden, passiert das Geschnetzel außerhalb des Bildes. Eigentlich komisch für einen Film, der von den spanischen Kriegsgräuel gegen die Philippinen erzählen will, oder? Mitnichten! Diaz legt nämlich ganz untypisch den Fokus auf die Zurückgebliebenen. Schließlich begleiten wir einen Großteil des Films die Witwe eines der ermordeten philippinischen Revolutionsführer, die seinen Leichnam sucht. Es geht Diaz sehr um das Entsetzen und den Horror in den Köpfen derer, die zurückbleiben und weiterleben müssen.

Bezeichnend ist dafür eine frühe Szene: Soldaten zielen mit ihren Waffen auf Zivilisten. Man hört den Feuerbefehl, die Schüsse und die Schreie. Aber keiner der Zivilisten fällt. Plötzlich wird die Situation klar. Die Zivilisten wohnen einer Erschießung bei, die im Off passiert. Die Soldaten mit den ausgerichteten Gewehrläufen dienen der Abschirmung des tatsächlichen Mordes. Genau darum geht es Diaz, um die Gefühle der Angehörigen, der Vergewaltigten und Misshandelten, die von den Schüssen nicht getroffen werden und sie trotzdem fast mehr spüren als die Opfer selbst.

"Soy Nero": Aus dem Dschungel kommst du nur im Sarg ©PallasFilm
Geheimtipp "Soy Nero"
Mein Joker für den am meisten unterschätzen Film des Wettbewerbs geht derweil an „Soy Nero“ von Rafi Pitts. Der junge Mexikaner Nero will illegal in die USA einreisen. Man sieht sein wiederholtes Scheitern und seine daraus resultierende einzige Option, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Der so genannte Dream Act besagt, dass Einwanderer, die für die USA als Soldaten kämpfen, ein Anrecht auf eine Green Card haben. Der amerikanische Traum als staatlich verordneter Alptraum. So kann man immerhin als echter Amerikaner im Sarg nach Hause kommen.

Ich fand, „Soy Nero“ ist ein nahezu makelloser Film, fesselnd von der ersten bis zur letzten Minute. Er besitzt einen der besten, weil härtesten Schnitte der Filmgeschichte seit dem Vietnamkriegs-Epos „Die durch die Hölle gehen“. Er hat teils bizarre, teils sehr real wirkende Nebenfiguren, die Nero auf seinem gnadenlosen Road Trip ins Herz der Finsternis begleiten. Wie Nero in der Silvesternacht das Feuerwerk als Ablenkung ausnutzt, um an der Polizei vorbeizurennen, hat sich bei mir visuell wahnsinnig eingebrannt.

Und „Soy Nero“ kommunizierte vortrefflich mit dem einzigen Retrospektiven-Film, den ich auf der Berlinale gesehen habe, nämlich James Whales Hollywoodfilm „The Road Back“. Die Erich Maria Remarque-Fortsetzung, die wegen deutscher Interventionen im Jahr 1937 aus dem Verkehr gezogen wurde, erzählt das Leid der heimkehrenden deutschen Soldaten von der Ersten Weltkriegs-Front. Um einige Jahre nimmt der Film da emotional das viel und auch zu Recht umfeierte William Wyler-Meisterwerk „The Best Years of Our Lives“ vorweg. Die Soldaten passen nicht mehr in diese Welt der abgerissenen Schulterklappen und Soldatenräte. Zwischenmenschlich ist bei ihnen so viel kaputt gegangen, dass sie sich eigentlich nur wohl fühlen, wenn sie sich untereinander als Kameraden treffen und über die Welt den Kopf schütteln. Auf eigenartige Weise zeigten „Soy Nero“ und „The Road Back“ die verschiedenen Seiten der gleichen Medaille.

Gewinner des Goldenen Bären: Gianfranco Rosi ("Fire at Sea") ©RaiCinema
Das Meisterwerk des Wettbewerbs
Bleibt mir noch übrig, meinen Hut zu ziehen vor Gianfrancos Meisterwerk „Fire at Sea“. Als Pietà der Flüchtlingskrise hat es der Screen Daily-Kritiker Lee Marshall bezeichnet. Die Woche der Kritik, eine Berlinale-Gegenveranstaltung, eröffnete letztes Jahr zum ersten Mal mit dem Dokumentarfilm „Burn the Sea“ über die Flüchtlingskrise. Das sind sehr ähnlich klingende Filme, aber völlig unterschiedliche Konzepte. Während „Burn the Sea“, der sicherlich auch die besten Absichten hatte, ausschließlich einen Protagonisten monologisieren lässt, ist der Berlinale-Gewinner „Fire at Sea“ das totale Gegenteil. Gianfranco Rosi lässt nicht über die Thematik reden, er zeigt. Es ist ein unvergleichlicher, schmerzlicher Bilderrausch, der tief unter die Haut geht.

Klugerweise ist der Film zweigeteilt: Zum einen porträtiert er die Menschen, die auf der Insel Lampedusa leben. In den Augen des Regisseurs sind das sehr großzügige Menschen, einfache Fischer, für die alles, was über das Meer kommt, erst einmal prinzipiell gut ist. Mit dieser Haltung kümmern sie sich um die Flüchtlinge. Das ist die Andockstation für den Zuschauer, das ist unsere Perspektive auf die Flüchtlingskrise. Die Mutter, die in der Küche das Essen macht und die neuesten Opferzahlen über das Radio vernimmt. Diesen Menschen setzt Rosi ein Denkmal. Liebevoll gleitet die Kamera die Küsten entlang. Man sieht den kleinen Protagonisten der Inselszenen, einen Jungen, herzhaft schmatzend Spaghetti essen. Beim Schleuderschießen stellt dieser ein Augenproblem fest. Der Doktor verordnet ihm gegen das lahme Auge eine Piratenklappe für das gesunde. Das Gehirn soll so lernen, beide Augen gleichmäßig einzusetzen. Die europäische Blindheit auf dem Auge, das die Flüchtlingskrise lange kommen sah, ohne zu handeln.

Und dann geht Rosi auf die Flüchtlingsschiffe, zeigt Verletzungen, die bei der Mischung aus Salzwasser und Benzin auf der Haut entstehen. Er lässt uns den verzweifelten Funkverkehr mithören, er ist in den Flüchtlingslagern. Er geht weit über die Schmerzgrenze hinaus. Und man ist bereit mitzugehen, weil man sich in sicheren Händen fühlt und seinem Blick auf die Realität vertraut. „Fire at Sea“ ist ein ganz außergewöhnliches Kunstwerk, was noch lange Zeit nachhallen wird.

Es gäbe noch so viel mehr zu schreiben, um meine traditionelle Floskel zu bemühen. Und vielleicht mache ich das noch mal separat für Movies & Sports in der Form einiger Einzelkritiken. Denn es würde sich lohnen. Kiyoshi Kurosawas exzellenter Horrorfilm „Creepy“ und das sublime Emily Dickinson-Biopic „A Quiet Passion“ von Terence Davies verdienen eigentlich eine gesonderte Würdigung. Zumal die beiden Filme ein bisschen in der Special-Nebenreihe versteckt wurden. Hätte man den Wettbewerb noch besser machen wollen, hätte man zum Beispiel „Boris without Béatrice“ und „The Patriarch“ dagegen eintauschen können. Es ändert indes nichts an ihrer Qualität. Auch müsste ich noch eine Lanze für den knallharten deutsch-österreichischen Film „Agonie“ und die traumhafte Slacker-Komödie „Baden Baden“ brechen. Der Tag wird kommen.


Zehn Berlinale-Empfehlungen (alphabetisch)

* AGONIE (David Clay Diaz)
* BADEN BADEN (Rachel Lang)
* CREEPY (Kiyoshi Kurosawa)
* FIRE AT SEA (Gianfranco Rosi)
* HEDI (Mohamed Ben Attia)
* A LULLABY TO THE SORROWFUL MYSTERY (Lav Diaz)
* NEWS FROM PLANET MARS (Dominik Moll)
* A QUIET PASSION (Terence Davies)
* SOY NERO (Rafi Pitts)
* THINGS TO COME (Mia Hansen-Løve)

Runners-Up: Goat, Midnight Special, 24 Wochen, The Commune, Death in Sarajevo

Links: - "Agonie", - "Baden Baden", - "Creepy", - "A Quiet Passion"

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