Montag, 6. September 2010
Venedig-Ticker: 6. September
Feuilleton-Vergleich: Wenn indieWIRE's Anne Thompson sehr bald nach Toronto entschwebt ist, bleiben von den US-Kritikern nur noch der Hollywood Reporter Kirk Honeycutt und Variety's Justin Chang übrig. Aus Großbritannien habe ich dagegen allein acht regelmäßige Quellen. Aber uneinholbar vorne liegt nicht überraschend der Zusammenschluss der deutschen Journaille mit zwanzig verschiedenen Publikationen.

Zu viele Empfehlungen: Wenn man nach den Filmkritikern geht, und momentan bleibt einem dazu keine Alternative, dann hätte man nach vier Tagen Venedig einen so dicken Batzen Beute gemacht, dass man bereits wieder abreisen könnte. "Black Swan", "Norwegian Wood", "Somewhere", "Reign of Assassins", "Meek's Cutoff", "Essential Killing", "Potiche" - und das war ausschließlich der offizielle Wettbewerb.

Nett und zuvorkommend, wenn Regisseurin Kelly Reichardt gleich selbst die Parallelen zwischen ihrem Genrefilm und der politischen Wirklichkeit zieht: "Just following a leader who doesn't know what he's doing, who's maybe ignorant or stupid, that can happen at any time." Das Filmprojekt "Meek's Cutoff" startete ungefähr zur selben Zeit, als die Irakkriegfotos von US-Soldaten, die auf Häftlingen thronen, die Runde machten.

"A very sensual, sexy movie that virtually gorges on its own erotic melancholy. I'm not being entirely facetious when I say that there is intense 'emo' quality to the film – almost a 'Twilight' for the arthouse set – but it is beautifully made, well acted and offers a swoon of pleasure", schreibt Peter Bradshaw über "Norwegian Wood". Von "Black Swan" ist er wiederum nicht ganz überzeugt, vergleicht ihn aber mit den Polanski-Filmen "Ekel" und "Rosemary's Baby". "Machete" fand er so leidenschaftslos, wie er "Miral" enttäuschend fand. Dafür mochte er die italienische Out-of-Competion-Komödie "Gorbaciof" und den russischen Film "Silent Souls" von Aleksei Fedorchenko. Zum Abschluss gibt es noch seine Gedanken zu Francois Ozons "Potiche": "A little over-extended, perhaps, and weighed down a little by theatrical origins, but a tremendously elegant piece of fun."

Zum zwanzigsten Todestag widmet das Venedig-Festival einem der besten Italowestern-Regisseure der 1960er-Jahre, Sergio Corbucci, am Dienstag, den 07.10., eine Podiumsdiskussion unter der Leitung des britischen Filmhistorikers Peter Cowie. Gemeinsam unter anderem mit dem französischen Kritikergott Michel Ciment, Time Magazine-Kritiker Richard Corliss und The Treatment-Moderator Elvis Mitchell wird wohl auch über die beiden Screenings der Corbucci-Western "Minnesota Clay" und "Die Grausamen" diskutiert werden. Das riecht stark nach Tarantino: Hatte Quentin doch erst diesen Februar verlauten lassen, dass er an einer Corbucci-Monografie arbeiten würde. Und wer Tarantinos Italowestern-Lieblinge kennt, wird nicht nur vermuten, dass der Jurypräsident am Panel teilnehmen wird, sondern auch der heimliche Initiator war.

"Sergio Corbucci is not only one of the greatest directors of Macaroni Westerns, he’s one of the greatest directors of Westerns period and I look forward to giving him his due in Venice this year", sagt Venedig-Jurypräsident Quentin Tarantino.

Dass Quentin Tarantino ein besonderes Verhältnis zu Richard Corliss, der als einer der letzten Mohikaner für das Time Magazine aus Venedig berichtet, gehabt hätte, wäre mir neu. Und auch Panel-Leiter Peter Cowie fiel mir eher durch sein kleines, exzellentes Berlinale-Buch im Bertz & Fischer-Verlag auf, als dass er Quentin den Hof gemacht hätte. Ansonsten sind die Herren aber gezeichnet: Der italienische Journalist Marco Giusti etwa, der 2004 gemeinsam mit Tarantino die Retrospektive 'Kings of the B’s' vorbereitete und kuratierte. Michel Ciment, der Herausgeber der Kultpostille Positif, führte in Cannes eines der ersten elementaren Interviews mit dem blutjungen "Reservoir Dogs"-Regisseur. Und der gestrenge Ex-New York Times-Kritiker Elvis Mitchell war anfangs vehementer Gegner Tarantinos, ist jetzt aber zum Beispiel auf dem Zusatzmaterial der "Inglourious Basterds"-Blu-ray zu finden, wo er von Produktionen des Dritten Reichs erzählt.

Stephanie Zacharek (Movieline), eine weitere Sergio Corbucci-Panel-Teilnehmerin, hat Tsui Harks "Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame" besprochen. "What’s not to love about a title like that?", meint sie und hat Recht. Peter Claus (Getidan) kann ihr dafür erzählen, was sonst nicht stimmte: "Der Film hat keine Seele, keinen Witz, keinen Charme. Er ist überflüssig. Eine reine Darbietung von Production Values." Blickpunkt: Film weiß, dass der DVD-Anbieter Koch Media die deutschen Rechte hält. Bei uns gibt's also die wilden Kung Fu-Hirsche nur Direct-to-DVD.

Viel Liebe für die Rückkehr des italienischen Polizeifilms in Gestalt von Moritz Bleibtreu in "Vallanzasca": "Great Italian crime drama", meint Damon Wise.

Zwischenbilanzen: Anke Leweke im D-Radio Kultur. Wir lernen: China ist das neue Hollywood. Aha. Soso. Und Festivalchef Marco Müller spricht tunesisch. Ja, doch, interessant. Unterdessen verabschiedet sich Peter Bradshaw von der Mostra, nicht ohne an seinen Kollegen Xan Brooks zu übergeben und abschließend zwei Filme gesondert hervorzuheben: "Meek's Cutoff" und "Post mortem". Den chilenischen Film von Pablo Larrain empfand auch David Gritten als Highlight, das übrigens wie schon der Goldene Palme-Gewinner "Uncle Boonmee" vom World Cinema Fund der Berlinale gefördert wurde.

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